# taz.de -- Depressive Heldin in "Helen": Die Seele bleibt ein Geheimnis | |
> Das Kino ist vernarrt in nervenkranke Frauenfiguren. Jüngstes Beispiel | |
> ist Sandra Nettelbecks neuer Film "Helen": Dessen Hauptfigur führt dem | |
> Zuschauer Depressionen in bester Manier vor. | |
Bild: Ashley Judd als Helen im gleichnamigen Film. | |
Ist er nicht toll, dieser schwarzglänzende Flügel, das Geburtstagsgeschenk | |
ihres Mannes? Ist er nicht perfekt, dieser liebe Gatte, mit dem sanften | |
Blick und der behutsamen Stimme? (Gespielt wird er von Goran Visnjic, den | |
man als Dr. Kovac aus "Emergency Room" kennt. Was soll einer Frau an seiner | |
Seite also schon passieren?) Und ist es nicht ein schönes Fest, dieser | |
Geburtstag, auch wenn es vielleicht bereits der 40. ist, in diesem | |
fußballfeldgroßen Wohnzimmer voller engster Freunde? Und könnte nicht ihr | |
ganzes Leben so leicht und heiter sein, wenn man so hübsch und wohlhabend | |
ist wie Helen (Ashley Judd), die Musikprofessorin und titelgebende Heldin | |
in dem neustem Film von Sandra Nettelbeck? | |
Es könnte. In einem anderen Film jedenfalls. Aber "Helen" zählt zu einem | |
problematischen Subgenre des Kinos, das zwischen "Horror" und "Melodrama" | |
changiert. Man könnte es auf den Namen "Frauen am Rande des | |
Nervenzusammenbruchs und darüber hinaus" taufen. | |
"Helen" ist ernst, sehr, sehr ernst, und gehört ganz eindeutig zur | |
gedämpften, schwingungsunfähigeren Abteilung. Seine Heldin ist nicht | |
bipolar oder manisch, was sicher den größeren Schauwert hätte, sondern nur | |
und ausschließlich depressiv. Die protestantischste, reinste, moralischste | |
Variante der Psychiatriefilme, wenn man so will. Das heißt, wir sehen, | |
nachdem die Fallhöhe überdeutlich abgesteckt ist, eine Frau, die plötzlich | |
nach Worten ringt, mitten im Satz eine Vorlesung abbricht oder den halben | |
Tag verschläft. Ein bisschen später schon sitzt sie bibbernd im Badezimmer, | |
zähneklappernd im Flur oder laut heulend in der Küche bei dem wenig | |
überzeugenden Versuch, sich ein Fleischmesser ins Herz zu rammen. | |
Irgendwann heult sie nicht mehr. Jetzt liegt sie schneewittchengleich im | |
Bett und ist im Begriff zu sterben. Doch da kommt Dr. Kovac. Blaulicht, | |
Krankenhaus. Gerettet. | |
Und so zeigt der Film und zeigt und glotzt und glotzt. Begreifen lässt er | |
uns gar nichts. Ganz so, als sei das eben doch keine Krankheit, die sich | |
wissenschaftlich darstellen, erfassen ließe, sondern ein Mysterium, das man | |
letztlich nicht anrühren darf, weil es sonst seinen Zauber verliert. Helen | |
ist nichts weiter als eine sublimierte Symptomträgerin auf einem für die | |
Zuschauer kryptisch bleibenden Ego-Trip. Ihr Leid ist ihre Aura, je weniger | |
man von dem einen versteht, desto heller kann das andere leuchten. | |
Das Kino liebt die Wahnsinnigen, die Autistinnen, Borderlinerinnen und | |
Hysterikerinnen. Es ist verrückt nach allem, was nicht richtig tickt. In | |
den Aufzügen zu seinem Olymp wimmelt es von Frauen, die sich nicht mehr | |
artikulieren können oder die Pulsadern aufschneiden. Und vielleicht geht | |
diese Tradition tatsächlich auf die Geburtsstunde des Kinos zurück. 1885 | |
schien der Film mit seinem Wechsel aus 24-mal Licht und Schatten quasi | |
direkt auf die Couch zu plumpsen. Der einfahrende Zug der Brüder Lumière | |
versetzte das Premierenpublikum im selben Jahr in Panik, in dem Sigmund | |
Freud mit seinem "Entwurf einer Psychologie" schockierte. | |
Der Film brach nicht nur rasant zum Mond, sondern auch zum Mikrokosmos der | |
weiblichen Psyche auf. Sie wurde zum Schauobjekt populärwissenschaftlicher | |
Lehrspielfilme wie G. W. Papsts "Geheimnisse einer Seele" (1926). Und keine | |
Sexbombe, kein Studiostar, keine Filmdiva sind in der Geschichte des | |
Kinovoyeurismus wohl je so sehr zum Objekt geworden wie all die | |
Patientinnen, die in weißen Hemdchen vor seiner Linse zu Boden gehen | |
mussten. Wenn man es genau betrachtet, geht es von Polanskis "Ekel" (1965) | |
über "Ich hab dir nie einen Rosengarten versprochen" (1977), "Frances" | |
(1982), "Durchgeknallt" (1987), "Nell" (1994) bis zu "Helen" immer auch um | |
eine Pathologie des Blickes selbst. Es sind die Bilder, die Gewalt über die | |
kranken Frauen haben. Und ein Film wie "Ekel" ist weniger die klinische | |
Fallstudie einer Sexualneurose, sondern vor allem eine grandios inszenierte | |
optische Unterwerfung. | |
Sucht man nach Titeln, die dieses Schema durchbrochen haben, fällt einem | |
eigentlich nur einer ein, John Cassavetes meisterhaftes Kammerspiel "A | |
Woman under the Influence" (1974). Der Mittelstand und seine | |
Assimilierungszwänge sind hier die Hölle, nicht Mabels Unverschämtheiten | |
und Ausbrüche. Wenn Gena Rowlands vor allen Gästen aufs Sofa hüpft, um sich | |
als sterbender Schwan für einen Moment zu verlieren, oder einfach alle noch | |
vor dem Dessert rausschmeißt, kommt das einer radikalen | |
Unabhängigkeitserklärung gleich. Im Freudschen Universum ist Mabel | |
schizoid. Bei Cassavetes jedoch beschreibt sie die Krankheit der Welt, in | |
der das Leben eine stumpfe Abfolge immer kleinerer und immer grausamer | |
scheiternder Revolten ist. | |
Helen hat leider nichts zu erzählen über das, was sie umgibt oder das, was | |
einmal war. Sie rebelliert nicht, sie schaut nur knapp an der Kamera vorbei | |
und weint. Und so stehen wir bis zum Ende blöd da, wie mitgebrachte Gäste | |
der Geburtstagsparty, und rätseln. Ja Gott, was hat sie denn nun? Ist es | |
die Schilddrüse oder sind es die Wechseljahre? Defizitäre Botenstoffe? | |
Burn-out vielleicht? Eine Scheinschwangerschaft oder ein Gehirntumor? Eine | |
suizidale Mutter eventuell, deren seelische Narben ihren Abdruck in der DNA | |
hinterlassen haben? Nein, es ist nichts davon, es kommt allein aus ihr | |
heraus, raunt der Film zurück. Und während man an das Alien denken muss, | |
das sich während eines Spaghettiessens einen Weg durch die Bauchdecke | |
seines Wirts bricht, entschließt sich die Patientin für eine wieder in Mode | |
gekommene Elektroschockbehandlung. Unsere Helen. Siehste mal. Geht doch. | |
"Helen", Regie: Sandra Nettelbeck. Mit Ashley Judd, Goran Visnjic u. a., | |
USA/Großbritannien/Deutschland 2008, 119 Min. | |
25 Nov 2009 | |
## AUTOREN | |
Birgit Glombitza | |
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