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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Die Präsidentin geht von Bord
> Am 13. Dezember wird in Chile ein neuer Präsident gewählt. Michelle
> Bachelet darf nicht mehr kandidieren. Das verbietet die Verfassung. Doch
> sie hat die politische Kultur ihres Landes verändert. Eine Bilanz
Bild: Populäre Managerin der Krise
Wenn Michelle Bachelet im März aus dem Regierungspalast La Moneda auszieht,
wird sie sich von all ihren Vorgängern nicht allein dadurch unterscheiden,
dass sie als erste Frau das Präsidentenamt bekleidete: Sie erfreut sich am
Ende ihrer Amtszeit - eine Wiederwahl ist durch die chilenische Verfassung
ausgeschlossen - auch einer durch Umfragen belegten Zustimmung von über 70
Prozent.
Die guten Werte in den Umfragen(1 )sind größtenteils Ergebnis ihrer
Regierungspolitik, die den Stempel "sozialer Schutz" trug. Mit einer Serie
von Programmen und Reformen konnte sie die Lebensqualität der Chilenen
spürbar erhöhen. Viele dieser Maßnahmen bezwecken nichts weiter, als die
Effekte des neoliberalen Wirtschaftsmodells abzudämpfen, dessen Basis unter
der Diktatur von General Augusto Pinochet (1973 bis 1990) gelegt wurde.
Diese Hinterlassenschaft war fest in einem Geflecht von Politik, Wirtschaft
und Institutionen verankert, das in fast 20 Jahren demokratischer
Regierungen schrittweise und nur teilweise abgebaut wurde.
Die Sozialistin Bachelet, die als Gesundheits- und Verteidigungsministerin
Regierungserfahrung hatte sammeln können, wurde 2005 die
Präsidentschaftskandidatin der Concertación Democrática(2), der
Parteienallianz, die inzwischen vier Präsidenten gestellt und Chile fast 20
Jahre regiert hat. Sie konnte sich 2006 erst in der Stichwahl gegen den
konservativen Finanzunternehmer Sebastián Piñera durchsetzen, der jetzt
wieder antritt und bei den Wahlen vom 13. Dezember als Favorit gilt.
Gestützt auf die Vorarbeit der demokratischen Regierungen unter den
Präsidenten Patricio Aylwin, Eduardo Frei und Ricardo Lagos, konnte
Michelle Bachelet die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung verbessern, ein
Sparsystem für Renten einführen, das mehr als einer Million Menschen eine
"Solidarpension" bringt, und bis 2010 ein Netz von 300 Kinderkrippen
schaffen, das die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt erleichtert
hat.(3)
Unerfüllt bleibt das von Bachelets Vorgänger Ricardo Lagos gegebene
Versprechen, Chile werde zum 200. Jubiläum der Unabhängigkeit im Jahr 2010
kein Entwicklungsland mehr sein. Diese optimistische Aussage stützte sich
auf die Wachstumsraten der 1990er-Jahre, als Chiles Bruttoinlandsprodukt
(BIP) durchschnittlich 7,6 Prozent wuchs. Die Asienkrise bremste dieses
Wachstum dann während der sechsjährigen Regierungszeit von Lagos auf
bescheidene 4,3 Prozent jährlich.(4 )
Dieses Erbe machte Bachelet zu schaffen, als sie im März 2006 in die Moneda
einzog. Während ihrer ersten drei Regierungsjahre blieb das Wachstum bei
durchschnittlich 4,2 Prozent, und die Tendenz weist weiter nach unten, da
die Wirtschaftskrise die Nachfrage nach Kupfer verringert hat und der Preis
von Chiles wichtigstem Exportprodukt auf dem Weltmarkt fällt.
Bachelets Wirtschaftsteam hatte aber mit antizyklischen Maßnahmen
vorgebaut. Als sich der Kupferpreis - vor allem wegen der chinesischen
Nachfrage - international auf einem historischen Höhenflug befand, wurden
die Einkünfte auf die hohe Kante gelegt und mehr als 25,5 Milliarden
US-Dollar angespart. Gleichzeitig lagen in der Zentralbank Reserven von
24,2 Milliarden Dollar. Als sich Anfang 2008 die ersten Anzeichen eine
Rezession bemerkbar machten, öffnete Bachelet die öffentliche Sparbüchse.
Vor allem damit erklärt sich ihre Popularität.
Als die globale Krise immer spürbarer wurde und die Arbeitslosigkeit die
Zehnprozentmarke überstieg, setzte die Staatschefin einen
Arbeitsbeschaffungsplan in Gang, verteilte Subventionen, investierte in die
Infrastruktur und verpasste dem staatlichen Kupferkonzern eine
Kapitalspritze von über 4 Milliarden US-Dollar. Eine Maßnahme folgte der
anderen: Die Bauwirtschaft wurde gezielt stimuliert, und es wurden
Programme gegen die Jugendarbeitslosigkeit aufgelegt. Insgesamt hat das
Maßnahmenpaket kaum 20 Prozent der in den Jahren hoher Kupferpreise
angehäuften Reserven gekostet.
So konnte Bachelet trotz des geringen Wirtschaftswachstums und trotz
Weltwirtschaftskrise ihr Programm für den "sozialen Schutz" (das den
verwundbarsten 40 Prozent der Bevölkerung zugutekommen soll) fortsetzen.
Der Anteil der in Armut lebenden Bevölkerung ist von 38,6 Prozent im Jahr
1989 auf inzwischen 13 Prozent gesunken.(5) Gleichzeitig stieg der Anteil
der Kinder, die in Vorschuleinrichtungen betreut werden, von 13 auf 36
Prozent.
Die große Popularität der Michelle Bachelet am Ende ihres Mandats ist zum
großen Teil ihrem guten Krisenmanagement geschuldet. Dessen ungeachtet
erreicht die Ungleichheit in Chile Rekordwerte. Mit einem
Gini-Koeffizienten6 von 54,9 liegt Chile im Hinblick auf Ungleichheit in
der Einkommensverteilung weltweit ziemlich weit oben: auf Platz 13 von 134.
Eine zwischen Oktober 2006 und November 2007 durchgeführte Umfrage des
Nationalen Statistikinstituts (INE) kommt zu dem Ergebnis, dass 80 Prozent
der Haushalte im Großraum Santiago nicht über ausreichende Einkünfte
verfügen, um ihre Grundbedürfnisse zu decken, weswegen sie auf dem freien
oder auch auf dem informellen Markt Kredite aufnehmen müssen.
Unter den Ärmsten liegt das tägliche Pro-Kopf-Einkommen kaum über 3
US-Dollar, wovon die Hälfte allein für Transport aufgewendet werden muss.
Nach den Berechnungen des INE ist das Einkommen des reichsten Fünftels der
Bevölkerung fast 15-mal so hoch wie das des ärmsten.
Bachelet erklärt sich die dennoch positive Sicht auf ihre
Regierungstätigkeit so: "Die Leute sehen, was wir geschafft haben. … Sie
unterstützen unsere Regierung, weil sie sehen: Die Vorsorgereform existiert
wirklich, und die Gelder werden termingerecht und angemessen ausgezahlt.
Sie sehen am Kindergeld, dass Mutterschaft gesellschaftliche Anerkennung
genießt. Sie sehen, dass die Frau nicht länger eine Belastung für den Mann
ist, sondern eine eigene Rente für ihren Beitrag zur Gesellschaft bekommt."
Und sie präzisiert die Stoßrichtung ihrer Arbeit: "Fortschrittlich sein
heißt: dauerhafte soziale Rechte zu garantieren und damit die
Ungleichheiten zu korrigieren. Es geht nicht darum, heute ein Almosen zu
geben, das morgen wieder genommen werden kann."(7)
Nichts ist der heute 58-Jährigen in den Schoß gefallen, die Anfang der
1970er-Jahre als Medizinstudentin Salvador Allendes "Revolution mit
Empanadas und Rotwein" miterlebte und damals auch der Sozialistischen
Partei beitrat. Ihr Studium musste sie nach dem Militärputsch 1973
unterbrechen, ihr Vater, der Luftwaffengeneral Alberto Bachelet, wurde
verhaftet und starb wenige Monate später an den Folgen der Folter. Mit
ihrer Mutter Ángela Jeria wurde sie von Sicherheitskräften verschleppt und
in einem Geheimgefängnis gefoltert. In den folgenden bleiernen Jahren der
Diktatur beteiligte sie sich aktiv am Widerstand im Untergrund. Die
Repression zwang sie schließlich, ins Exil in die DDR zu fliehen.
Als Michelle Bachelet in den 1980er-Jahren nach Chile zurückkehrte, schloss
sie sich dem Kampf um die Demokratisierung an und arbeitete mit
Menschenrechtsorganisationen zusammen. Nach dem Ende der Diktatur wurde sie
Beraterin im staatlichen Gesundheitssystem, später im
Verteidigungsministerium. Kaum wahrgenommen wurde damals ihre Kandidatur
bei den Kommunalwahlen 1996 im Stadtteil Las Condes von Santiago, einem der
reichsten Bezirke des Landes.
Zwar verlor sie diese Wahlen, doch einige Jahre später ernannte Präsident
Lagos sie zur Gesundheitsministerin und gab ihr drei Monate Zeit, um mit
der notorischen Überlastung des öffentlichen Gesundheitswesens Schluss zu
machen. Sie nutzte ihren Posten, um eine allgemeine Gesundheitsfürsorge
durchzusetzen, die dann mit der Zeit zu einer der Säulen des chilenischen
Sozialsystems wurde. Ihr sind auch die Gesetze zum Sexualstrafrecht und zur
Geburtenkontrolle zu verdanken. Bei der Zulassung der "Pille danach" als
Verhütungsmittel für Notfälle schreckte sie auch vor heftigen Kontroversen
mit den Konservativen nicht zurück.
Ihre Popularität erreichte ihren Höhepunkt, als sie Anfang 2002 als erste
Frau das Verteidigungsministerium übernahm. Seit Allendes Zeiten war dieses
Amt von keinem Sozialisten mehr ausgeübt worden. "Ich bin Frau,
Sozialistin, geschieden und Agnostikerin. Damit vereinige ich in mir vier
schwere Sünden. Aber wir werden gut zusammenarbeiten", versicherte sie den
hohen Militärs anlässlich ihrer Amtseinführung.
Das "Phänomen Bachelet" wurde einige Monate später geboren: Mitten im
Winter führten schwere Regenfälle in Chiles Hauptstadt zu Überschwemmungen,
und die Ministerin setzte die Armee als Katastrophenhelfer ein. Das Bild
Bachelets im Panzerwagen, die die Rettungsarbeiten selbst überwachte,
hinterließ einen bleibenden Eindruck.
Die Parteien der Concertación Democrática begannen damals gerade mögliche
Kandidaten für die Nachfolge von Ricardo Lagos zu sondieren. Bachelets
Partei wollte den damaligen Minister und heutigen Generalsekretär der
Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), José Miguel Insulza, ins Rennen
schicken. Die Christdemokraten favorisierten die ehemalige Außenministerin
Soledad Alvear und meinten, nach der zuletzt von den Sozialisten geführten
Regierung stünde jetzt ihnen die Nominierung des Kandidaten zu.
Doch es sollte anders kommen. Bachelet und Alvear schieden im September
2004 aus der Regierung Lagos aus, um sich am Wahlkampf für die
Kommunalwahlen zu beteiligen, die die Regierungskoalition dann auch mit 10
Prozentpunkten Vorsprung für sich entschied. Zu Vorwahlen kam es dann gar
nicht mehr, weil Soledad Alvear angesichts der großen Popularität Bachelets
auf die Kandidatur verzichtete.
Bei den Wahlen vom Dezember 2005 trat Bachelet gegen den konservativen
Unternehmer Sebastián Piñera und den Pinochet-Parteigänger Joaquín Lavín
sowie den von Humanisten und Kommunisten unterstützten Kandidaten der
außerparlamentarischen Linken Tomás Hirsch an. In der Stichwahl setzte sich
Bachelet mit 53,5 Prozent der Stimmen gegen Piñera durch. Im März 2006 zog
sie in die Moneda ein.
Die Favoritin der politischen Elite ihrer Parteienallianz war Michelle
Bachelet nie. Ihre Kandidatur kam durch die Beteiligung der Bürger
zustande, die hohe Erwartungen in sie setzten. Und Bachelet war sich dessen
sehr wohl bewusst. Ihr Konzept war das einer "Regierung der Bürger", die
mehr Beteiligung und Mitbestimmung ermöglichen sollte. In ihrem Kabinett
waren Männer und Frauen paritätisch vertreten, überhaupt war die
Gleichstellung der Geschlechter eines ihrer Leitprinzipien; und sie achtete
darauf, in Arbeitsgruppen "neue Gesichter" einzubinden, um die
Führungszirkel zu öffnen und mehr Nähe zur Bevölkerung herzustellen.
"Keiner wird Privilegien genießen", versprach sie, als sie die Neuerungen
ihrer Regierungsarbeit vorstellte.
Die Eliten waren verstört und leisteten einigen Widerstand. Selbst in der
eigenen Koalition wurden Zweifel an ihren Fähigkeiten laut, die dann von
der Opposition aufgegriffen wurden. Mehrere Ereignisse gaben diesen
Zweifeln Nahrung. Schon die Zusammenstellung des Kabinetts dauerte länger
als üblich; dann brach nach zwei Monaten Amtszeit der schon lange
schwelende Konflikt um das Bildungssystem aus: Mehr als eine Million
Schüler protestierten auf den Straßen gegen die schlechte Qualität der
öffentlichen Schulen und wurden von Studenten, Professoren und vielen
Eltern unterstützt.
Einen Monat lang stand die Regierung mit dem Rücken zur Wand. Bachelet
akzeptierte den Großteil der Forderungen in einem Problemfeld, das sie
nicht auf der Tagesordnung gehabt hatte. Der Innen- und der
Bildungsminister mussten zurücktreten.
Große Schwierigkeiten brachte auch die Umsetzung der Pläne für den
öffentlichen Verkehr in Santiago mit sich. Die von der Lagos-Regierung
geplante Umstrukturierung trat im Februar 2007 in allen Teilen der
Hauptstadt in Kraft. Von da an mussten tausende Menschen über Monate hinweg
lange Wartezeiten in Kauf nehmen, weil sie durch die neuen Streckenverläufe
desorientiert waren und die Anzahl der Busse nicht ausreichte. Die Kosten
für den Umbau der Infrastruktur, Maschinen und Personal belasteten den
Fiskus mit über einer Milliarde US-Dollar.
Das Problem der Landrechte der indigenen Mapuche in Araukanien bleibt
ungelöst. In dieser verarmten Region im Süden haben die Ureinwohner nach
und nach ihr Land verloren und den Niedergang ihrer Kultur erleben müssen.
Mit expandierender Forstwirtschaft und Fischerei floss viel chilenisches
und ausländisches Kapital in die Region. Die Wirkung für die Mapuche war
verheerend - sie wurden von besitzenden Kleinbauern zu Lohnarbeitern, die
unter prekären Verhältnissen schuften müssen. Die Lage dort ist explosiv;
unter der Regierung Bachelet wurden zwei junge Leute bei Protesten getötet.
Bei den lateinamerikanischen Nachbarn hat Bachelet einen positiven Eindruck
hinterlassen. Als sie ein Jahr der Union Südamerikanischer Nationen
(Unasur) vorstand, trug sie zur Minderung der Spannungen zwischen Ecuador,
Venezuela und Kolumbien bei.
Die Person Michelle Bachelets steht für einen grundlegenden, politischen
wie kulturellen Wandel in Chile. Doch die Parteienallianz, mit der sie
regierte, ist gespalten und zerstritten. Bei den Wahlen wird sich der
Kandidat der "Concertación", der Christdemokrat Eduardo Frei (bereits
Präsident 1994 bis 2000), Bachelets Popularität als Sozialistin wenig
zunutze machen können. Zwei linke Kandidaten, die ehemals der
"Concertación" angehörten, der Unabhängige Marco Enriquez Ominami, Sohn
eines von Pinochet ermordeten legendären Widerstandskämpfers, und Jorge
Arrate von der Außerparlamentarischen Linken treten gegen ihn an.
Fußnoten:
(1) Umfrage des Centro de Estudios Públicos (CEP), August 2009.
(2) Mitte-links-Koalition, bestehend aus Partido Demócrata Cristiano (PDC),
Partido por la Democracia (PPD), Partido Socialista (PS) und Partido
Radical Social Demócrata (PRSD).
(3) Berichte des Planungsministeriums [1][www.mideplan.cl].
(4) Zahlen der Banco Central de Chile.
(5) [2][www.fundacionpobreza.cl].
(6)
[3][www.sitesatlas.com/Thematic-Maps/Gini-index-(distribution-of-family-inc
ome).html]. Auf Platz 134 liegt als Land mit der geringsten Ungleichheit
Schweden mit 23,0.
(7) Rede vom 10. September 2009.
Aus dem Spanischen von Ralf Leonhard
10 Dec 2009
## LINKS
[1] http://www.mideplan.cl/
[2] http://www.fundacionpobreza.cl/
[3] http://www.sitesatlas.com/Thematic-Maps/Gini-index-(distribution-of-family-…
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