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# taz.de -- Literatur und Journalismus: Die Wirklichkeit des Reporters
> Von Herodot bis Enzensberger: Mit "Nichts als die Welt. Reportagen und
> Augenzeugenberichten aus 2500 Jahren" startet der neu gegründete Galiani
> Verlag fulminant.
Bild: Hans Magnus Enzensberger ist mit der Reportage "Ach Deutschland" im Samme…
Hand aufs Herz. Wann hatten Sie Ihr letztes Leseerlebnis? Wann haben sie
beim Schmökern zuletzt neben die Teetasse gegriffen, Stoß geseufzt, die
aufgeschlagene Seite mit der Handkante glatt gestrichen? Ist es nicht so,
dass die Zahl solch heiliger Momente mit zunehmender Leseerfahrung abnimmt,
mit dem wachsenden Warencharakter des Buchs, der Mutlosigkeit der Verleger
und nicht zuletzt der Bücherschreiber, denen eine schnelle Nummer lieber
ist als keine? Sie nicken mit dem Kopf? Dann wird es teuer.
Fünfundachtzig Euro kostet dieses Buch der Bücher, doch all das, wozu es
einen treibt, hat nichts mit dem Preis zu tun, sondern der schieren Größe
der Texte, die es versammelt, und der Art und Weise, wie es das tut.
"Nichts als die Welt" ist eine Wundertüte mit "Reportagen und
Augenzeugenberichten aus 2500 Jahren". Der neu gegründete Galiani Verlag
leistet sich diesen gewichtigen Band zum Einstieg. Schon das übliche "von
bis" gerät bei 146 Texten, auf knapp 700 Seiten im Foliantenformat zur
Farce. Soll man bei Herodot anfangen oder bei Tacitus? Wo ist der Übergang
in die Moderne - bei Defoe oder Voltaire? Und womit enden: Enzensberger?
Goettle? Langenbacher?
Fragen, bei denen einem auch Georg Brunold, der ehemalige Chefredakteur der
Kulturzeitschrift Du und Herausgeber der Reportagesammlung, nicht helfen
kann oder will. Statt eines einordnenden Vorworts hat er den Texten seine
"Bibliothek des Reporters" hintangestellt - ein Werkzeugkasten, der
Brunolds Zugang zu dieser Mammutedition erklärt. Der Leser muss sich den
Weg selbst bahnen.
## Distanz und Empathie
Zum Beispiel von vorne. Herodot, lernten wir weiland in der Schule, sei der
Vater der Geschichtsschreibung. Doch in seinem Text "Die weitaus
gelehrtesten Menschen" betätigt er sich als Ägypten-Reisender und
Ethnologe, der davon berichtet, wie man am Nil Krokodile fängt (mit einem
Schweinerücken als Köder) und wie die Ägypter urinieren (er im Sitzen, sie
im Stehen). Das Erstaunlichste ist aber die Erzählhaltung. Ganz moderner
Schreiber, hält er die Balance zwischen Distanz und Empathie.
Der Autor als unbestechliche Instanz und doch als subjektiver Beobachter:
Das gilt auch für Hippokrates, der "fünf Krankheitsgeschichten" vorstellt
und damit die Anfänge der Medizingeschichte. Oder für Thukydides, der davon
berichtet, wie Perikles zu den Athenern spricht. So entstehen aus der
Augenzeugenschaft des Reporters (und der kalkulierten Wirkung auf das
Publikum) tatsächlich die Anfänge der Historiografie.
Und aus dem modernen Journalismus entsteht der moderne Roman. So könnten
wir uns "Nichts in der Welt" nähern, wenn wir der Anleitung Brunolds
folgten. Doch der erste Text, den er als Geburtsstunde der Nonfiction Novel
ins Felde führt, ist eine Enttäuschung. Fünf Jahre hat Truman Capote für
seine Familientragödie "Cold Blood" recherchiert, doch die abgedruckte
Kurzfassung "Das Verbrechen" ist nicht mehr als eine effekthaschende Story
um den Einbruch eines Mords an einer vierköpfigen Familie in die heile Welt
Amerikas.
Wie gut, dass man da sofort mit Daniel Defoe und Jack London getröstet
wird. Defoes Bericht über die Pest von London von 1665 ist nicht nur eine
beklemmende Reportage über das Warten auf das Ungewisse, sondern auch eine
kluge Analyse über das Zusammenspiel von Individualwohl und Gemeinwohl in
Zeiten der Krise. Und wenn Jack London in die Slums des East End
hinabsteigt, bekommen wir nicht nur tiefe Einblicke ins Zusammenspiel von
Elend und mangelnden Bildungschancen. Wir werden auch Zeuge davon, wie aus
der Reportage nicht nur die Geschichtsschreibung und der Roman hervorgehen,
sondern auch die Stadtsoziologie.
Nichts als die Welt, das ist natürlich vermessen. Von einigen Ausnahmen wie
Ibn Battuta oder V.S. Naipaul abgesehen, erklären uns europäische und
amerikanische Autoren die Welt. Das war vor 2.500 Jahren nicht anders als
heute. Wo sie über den Tellerrand ihres Berichtsgebiets hinausblicken,
werden Bilder des Fremden und Orients bemüht, die sich aus der heutiger
Sicht der "einen Welt" als so hartnäckig und konfliktträchtig erweisen.
Vielleicht sind die zwölf Fotoessays, die Brunold über den Band verteilt
hat, der Versuch, die Schuld des kolonialistischen Blicks abzuarbeiten.
Viele von ihnen handeln von den jüngsten Kriegen, die der Westen
angezettelt hat - und vom Terror, der ihm entgegenschlägt.
## Ziellos lesen und seufzen
Die Frage "von bis" ist noch immer nicht geklärt, und das wird wohl so
bleiben. Vielleicht ist das der schönste Moment in der Beziehungsgeschichte
zwischen mir und diesem Buch, das auch hätte heißen können "Nichts als der
Text". Irgendwann habe ich begonnen, ziellos hin und her zu lesen - und
immer wieder neben meine Tasse Tee gegriffen und Stoß geseufzt.
Unvergessen wird mir die Reportage von Konstantin Paustowskij über eine
Zugreise von Kiew nach Odessa in den Wirren nach der Oktoberrevolution
bleiben. Darin beschreibt er, wie der Zug, der immer wieder von
Banditengruppen beschossen wird, kurz vor Odessa anhalten muss. Ein
Stationsvorsteher, er ist der Einzige auf dem Bahnhof, hat den Zwangshalt
angeordnet, weil schon bald mehrere Züge mit Anhängern von Nestor Machno
durch den Bahnhof rauschen werden. Mit einem befreundeten Juden schleicht
sich Paustowskij aus dem Zug und beobachtet das Geschehen hinter den
verblichenen Gardinen des verlassenen Bahnhofsrestaurants. Als der erste
Zug einrollte, sehen sie wilde Gestalten, die die Beute ihrer Opfer wie
Trophäen tragen, und einen selbst ernannten Anarchistenführer Machno, der
aus dem letzten Zug unter dem Banner der rot-schwarzen Fahne den
Stationsvorsteher niederschießt. Das ist die Wirklichkeit des Reporters.
Die politische Farbenlehre des Bürgerkriegs scheint demgegenüber der
mühsame Versuch, dem wahllosen Morden einen späten Sinn zu geben.
Zuletzt sei gestanden, dass "Nichts als die Welt" auch ein großer Kanon der
Reportage ist, mit dem sich Bildungslücken des Reporters trefflich
schließen lassen. Also werde ich auch Hans Magnus Enzensbergers "Ach
Deutschland" lesen, Georges Simenons "Hitler im Fahrstuhl" oder Napoleons
Selbstbericht über seine Krönung als Kaiser. Aber das hat Zeit. Erlebnisse
wie diese, auch das gehört zum kindlichen Wünschen des Lesers, das dieses
Buch hervorruft, mögen niemals enden.
"Nichts als die Welt. Reportagen und Augenzeugenberichte aus 2500 Jahren".
Herausgegeben von Georg Brunold. Folioformat, geprägtes Leinen,
Büttenschlaufe, mit mehrseitigen Fotoreportagen. Galiani Verlag, Berlin
2009, 684 S., 85 Euro
21 Dec 2009
## AUTOREN
Uwe Rada
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