# taz.de -- Debatte Nahost: Israel unter Druck | |
> Seit dem Krieg hat Israel die Blockade des Gazastreifens nicht gelockert. | |
> Statt auf Frieden zu warten, muss der Westen auf die Menschenrechte | |
> pochen. | |
Bild: Die Menschen in Gaza überleben dank der illegalen Tunnel. Durch sie wird… | |
Vor einem Jahr setzte der dreiwöchige israelische Angriff auf Gaza ein. Er | |
kostete nicht nur über 1.000 Menschen das Leben, sondern führte auch zur | |
beträchtlichen Zerstörung der lokalen Infrastruktur. Noch immer können | |
20.000 Menschen nicht in ihre Häuser zurück, denn Israel verweigert die | |
Einfuhr von Zement, Glas und Ziegeln, die zum Wiederaufbau nötig wären. | |
Während der schmale Gazastreifen mittlerweile im 30. Monat unter dieser | |
Blockade leidet, nehmen Deutschland, EU und USA die Kollektivbestrafung von | |
1,5 Millionen Menschen einfach hin. Das hat nicht nur mit der | |
Hamas-Herrschaft im Gazastreifen zu tun, wie oft behauptet wird. Denn | |
Israels Blockade erstreckt sich, wenn auch in anderer Form, auch auf das | |
Westjordanland. In diesem Teil der palästinensischen Gebiete stehen 70 | |
Prozent unter direkter israelischer Kontrolle. Auch hier bestimmt Israel, | |
welche wirtschaftliche Entwicklung erlaubt ist - und welche nicht: Während | |
die Infrastruktur der israelischen Siedler dort hoch subventioniert wird, | |
sind ihre palästinensischen Nachbarn zur Armut verdammt. So ist dort ein | |
Enklavensystem entstanden, das, wie Israels Expremier Ehud Olmert sagte, | |
einem Apartheidsystem ähnelt. | |
War Israels Besatzung nach 1967 immer stärker unter internationalen Druck | |
geraten, so änderte sich das mit dem Abkommen von Oslo 1993 grundlegend. | |
Fortan standen "Friedensverhandlungen" zwischen den beiden Parteien im | |
Mittelpunkt, und die Welt drückte angesichts der fortschreitenden | |
israelischen Siedlungs- und Verdrängungspolitik ein Auge zu, um das Ziel | |
eines endgültigen Friedensabkommens nicht zu gefährden. Israel lernte so, | |
einerseits über Frieden und eine Zweistaatenlösung zu reden und beidem | |
zugleich aktiv entgegenzuwirken. Doch diese Politik des Westens ist | |
gescheitert: Spätestens Israels Angriff auf Gaza hat die Machtverhältnisse | |
vor Ort vor Augen geführt: Es handelt sich nicht um einen Konflikt zwischen | |
zwei gleichrangigen Nationen, die auf Augenhöhe miteinander ringen. Sondern | |
um einen Kampf zwischen zwei ungleichen Gegnern, namentlich Besatzern und | |
Besetzten. | |
Weil die Macht so ungleich verteilt ist, darf die Weltgemeinschaft die | |
beiden Konfliktparteien nicht alleinlassen, sie muss sich nach Völkerrecht | |
und den Menschenrechten richten. Sie kann auch nicht erst auf die Zeit nach | |
einem Friedensschluss warten, sondern muss hier und jetzt aktiv werden. | |
Dieser Paradigmenwechsel hat in den letzten Monaten stattgefunden. So | |
forderte Großbritanniens größte Gewerkschaftsunion TUC ihre Regierung | |
jüngst auf, keine Waren aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen im | |
Westjordanland mehr in ihr Land zu lassen. Das französische Großunternehmen | |
Veolia (vormals Vivendi) verlor anderswo Milliardenaufträge, weil es sich | |
beim Bau einer S-Bahn-Verbindung auf besetztem Gebiet engagiert hatte. | |
Israelische Politiker werden von Brasilien bis Skandinavien von Protesten | |
empfangen und müssen, wie Ex-Außenministerin Zipi Livni in Großbritannien, | |
sogar ihre Verhaftung fürchten. Niederländische oder schwedische Fonds | |
ziehen aus Angst vor schlechter Presse ihre Beteiligungen aus israelischen | |
Firmen zurück. Aus Brüssel wird die EU-Kritik schärfer, und in Washington | |
mausert sich die besatzungskritische jüdische Lobbygruppe J Street zu einem | |
gewichtigen Gegner der mächtigen Pro-Israel-Lobby Aipac. Inzwischen tasten | |
sich in den USA die ersten Elite-Universitäten vor, ob sie sich der | |
BDS-Bewegung (Boykott, Diversifizierung, Sanktionen) anschließen sollen, | |
die seinerzeit gegen Südafrika so erfolgreich war. | |
Diese Entwicklungen haben zwar kaum Eingang in die deutschen Medien | |
gefunden, doch auch hierzulande wächst das Unbehagen. In einem offenen | |
Brief haben 24 hochrangige deutsche Exdiplomaten die Bundesregierung jüngst | |
dazu aufgefordert, mehr Druck auf Israel auszuüben, die Blockade von Gaza | |
zu beenden und zur Verwirklichung der Zweistaatenlösung "eine | |
entschlossenere Gangart" einzulegen. Die Alternativen sind klar: Entweder | |
es läuft auf eine für beide Seiten akzeptable Zweistaatenlösung hinaus - | |
deren Skizzen liegen, in Form der "Genfer Initiative" und der "Arabischen | |
Friedensinitiative" von 2002, längst auf dem Tisch. Oder die Gebiete | |
wachsen am Ende zu einem Staat zusammen, indem die Juden in naher Zukunft | |
zur Minderheit werden könnten. | |
Israels politische Klasse hat den Ernst der Situation bereits erkannt. | |
Indem das Ausland darauf beharrt, dass Völker- und Menschenrecht | |
eingehalten werden, und sich gegen jeden apartheidähnlichen Zustand sperrt, | |
setzt es Israel und seine besatzungsvergessene Öffentlichkeit unter Druck. | |
Noch fehlt Israels Regierung der politische Wille, eine Wahl zu treffen. | |
Denn jede Entscheidung würde sofort von populistischen Gegnern attackiert, | |
schon jetzt lässt die Siedlerbewegung mit Manifestationen die Muskeln | |
spielen. | |
Die Bundesrepublik kann dem Problem nicht länger aus dem Weg gehen. | |
Verantwortung für Israel zu übernehmen kann nicht heißen, über die | |
Diskriminierung der Palästinenser hinwegzusehen. Und ohne Deutschland kann | |
Europa keine einheitliche politische Linie finden. Gegenwärtig wäre es | |
schon ein Fortschritt, wenn die Bundesrepublik aufhören würde, einer | |
verbindlichen, am Menschen- und Völkerrecht orientierten EU-Außenpolitik im | |
Wege zu stehen. Aber können deutsche Politiker auch Druck auf Israel | |
ausüben? Das ist eine schwierige Frage. Auch deutsche Politiker agieren | |
nach dem Prinzip des geringsten Widerstands: Würden sie von Studenten, | |
Kirchen, Gewerkschaftlern nach ihrem Beitrag zur Lösung des Nahostkonflikts | |
gefragt, stünden sie in der Pflicht. Andererseits haben viele auch Angst, | |
als Antisemiten abgestempelt zu werden, wenn sie in dieser Frage zu | |
deutlich Positionen beziehen. | |
Würden deutsche Politiker den nach wie vor virulenten Antisemitismus im | |
eigenen Land mit aller Macht bekämpften, hätten sie keinen Grund, sich | |
gegenüber Israel mit falscher Vorsicht zurückzuhalten. Um eine berühmte | |
Redewendung des israelischen Staatsgründers Ben Gurion abzuwandeln: Es | |
gilt, gegen die israelische Besatzung zu kämpfen, als ob es keinen | |
Antisemitismus gäbe - und gegen den Antisemitismus, als ob es diese | |
Besatzung nicht gibt. | |
23 Dec 2009 | |
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