# taz.de -- Europäische Kulturhauptstadt 2010: Happening für alle | |
> Was vor zwanzig Jahren mit dem IBA-Emscher-Park begann, will "Ruhr.2010" | |
> unter dem Label Europäische Kulturhauptstadt fortschreiben: den | |
> Imagewandel des Ruhrgebiets. | |
Bild: Schön: Lichtinstallation von Manfred Eccli und Francesco Apuzzo vom Raum… | |
Am Anfang war der Mut. Angekündigt war ein Schneesturm der Windstärke Zehn. | |
Zur Eröffnungsfeier der Europäischen Kulturhauptstadt 2010 schickte der | |
Theater- und Filmregisseur Gil Mehmert die Tänzer, Sänger, Drummer seiner | |
Revue "Wir sind das Feuer" trotzdem auf die Freilichtbühne vor den Koksöfen | |
der Essener Zeche Zollverein. | |
Eine Zeitreise durch das Ruhrgebiet, vom Kohle- und Stahlstandort hin zu | |
einer Metropole europäischen Ranges wollte der an der | |
Folkwang-Kunsthochschule lehrende Professor dem aus 1.200 Honoratioren | |
zusammengesetzten Publikum bieten. Er produzierte, vom ZDF live übertragen, | |
die "schönen Bilder", von denen die Geschäftsführer der Kulturhauptstadt | |
Ruhr, der ehemalige WDR-Intendant Fritz Pleitgen, und Essens | |
Exkulturdezernent Oliver Scheytt seit Jahren träumen: Bilder, die die | |
Metamorphose des Ruhrgebiets vom Malocher(alb)traum zum | |
Dienstleistungsstandort mit einem Schwerpunkt der kreativen | |
Kulturwirtschaft versinnbildlichten. | |
Und Pleitgen, Scheytt und Mehmert hatten Glück: Zwar fror Bundespräsident | |
Horst Köhler im Schnee genauso wie EU-Kommissionspräsident José Manuel | |
Barroso und die Bürgermeister der 53 Städte, die sich hinter der | |
Kulturhauptstadtbewerbung Essens "für das Ruhrgebiet" versammelt haben, | |
doch Zehntausende nutzten am Wochenende die grandiose Kulisse der Zeche | |
Zollverein für ein Volksfest: Auf Zollverein, einst Sinnbild des | |
Niedergangs von Kohle und Stahl und damit der wirtschaftlichen Misere der | |
Region, präsentierte Ruhr.2010 Musik und Film, Theater, Kabarett und Tanz. | |
"Wunderschön" seien die fantastisch beleuchteten gigantischen | |
Industrieanlagen, hauchte ein berührter Anwohner aus dem angrenzenden | |
Arbeiterstadtteil Katernberg in sein Handy - und fluchte gleichzeitig: "Und | |
ich Idiot habe natürlich die Kamera vergessen." | |
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Mut und Glück: Beides brauchte der Geograf und Stadtplaner Karl Ganser | |
schon 1989. Erst seine visionäre Internationale Bauausstellung Emscher Park | |
(IBA) schuf bis 1999 überhaupt die Grundlage für die | |
Kulturhauptstadtbewerbung, mit der sich das Ruhrgebiet gegen neun andere | |
deutsche Wettbewerber durchsetzen konnte. Verrückt schien damals Gansers | |
Rede von der durch Kokereien, Chemieanlagen und Kraftwerken geschundenen | |
Emscher Region als Parklandschaft: Die in eine gradlinige Betonrinne | |
gezwängte Emscher galt Jahrzehnte als der schmutzigste Fluss Deutschlands. | |
Heute wird nicht nur die Emscher durch eine milliardenschwere Renaturierung | |
wiedergeboren - der Rückzug der Schwerindustrie schuf Raum für das, was die | |
Raumplaner des Ruhrgebiets "Industrienatur" nennen: Resistente | |
Pflanzenarten siedeln in Birkenwäldern auf den alten Industriebrachen. Erst | |
Gansers IBA machte die zurückgelassenen Standorte der Schwerindustrie für | |
die Bewohner des Ruhrgebiets wieder begehbar, verband die Städte des | |
Reviers auf den alten Zechenbahntrassen auf kürzestmöglichem Weg - und | |
rettete mit einem Etat von rund 2,5 Milliarden Euro Ikonen der | |
Industriearchitektur wie die Bochumer Jahrhunderthalle, den Oberhausener | |
Gasometer und das zum Landschaftspark Nord umgewandelte ehemalige | |
Thyssen-Stahlwerk in Duisburg. | |
Heute dienen die von der IBA geretteten Kathedralen der Industriekultur als | |
Standorte der Kulturhauptstadt Ruhr. In der für 55 Millionen Euro sanierten | |
ehemaligen Kohlenwäsche von Zollverein führt seit dem Wochenende das Ruhr | |
Museum durch Natur, Kultur und Geschichte des einst größten industriellen | |
Ballungsgebietes Europas. | |
Ganzjährig bespielt wird nicht nur Zollverein. Rund um den U-Turm, einst | |
Sitz der Union-Brauerei, präsentiert Dortmund Musik, Theater und Kunst. Am | |
30. Januar eröffnet der von der Krupp-Stiftung des "letzten Ruhrbarons" | |
Berthold Beitz den mit 55 Millionen Euro gesponserten Neubau des Essener | |
Folkwang-Museums. Von Februar bis Mai lädt die "Odyssee Europa" ihre | |
Besucher nicht nur zu Aufführungen in den Theatern Essen, Oberhausen, | |
Bochum, Mülheim, Moers und Dortmund: Geboten wird auch eine "Irrfahrt durch | |
die Zwischenwelt" - Übernachtungen bei Freiwilligen aus dem ganzen | |
Ruhrgebiet inklusive. | |
Selbst die Autobahn 40, die Dortmund über Bochum und Essen mit Duisburg | |
verbindet, wird im Juli auf 60 Kilometer Länge für ein riesiges Picknick | |
gesperrt. Produziert werden einmal mehr Bilder: 22.0000 | |
Biertisch-Garnituren sollen für eine schier endlose Tafel sorgen. Für einen | |
Tag eingeebnet wird damit aber auch der Sozialäquator des Ruhrgebiets - im | |
Norden der Autobahn stehen die noch immer billigen Arbeiterquartiere der | |
einstigen Industrieanlagen, im Süden hat sich in Nachbarschaft der | |
Prachtbauten der Krupps, Thyssens und Haniels das Bürgertum breitgemacht. | |
Für alle Veranstaltungen der Kulturhauptstadt zusammen rechnen die | |
Geschäftsführer Pleitgen und Scheytt mit über fünf Millionen Besuchern. | |
Doch gerade diese Mischung aus Hochkultur und Happening, aus | |
Identitätssuche und Imagepflege macht die Kulturhauptstadt angreifbar. "Den | |
über 2.500 Veranstaltungen fehlt der rote Faden", findet nicht nur der | |
Regisseur Oliver Keymis, der als Kulturpolitiker der Grünen Vizepräsident | |
des Düsseldorfer Landtags ist. Er vermisst einen "künstlerischen | |
Grundgedanken, eine künstlerische Dramaturgie". Unter dem "guten Slogan | |
Wandel durch Kultur" betrieben Pleitgen und Scheytt gutes Marketing, mehr | |
nicht. | |
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Unzufrieden ist auch die freie Kulturszene im Revier: "Grönemeyer reicht | |
nicht", kommentiert etwa Claudia Lüke, die mit ihrem Projekt "Urban | |
Discovery", der künstlerischen Neuinterpretation des postindustriellen | |
Raums, aus dem Kulturhauptstadtprogramm ausgestiegen ist und ohne deren | |
Label weitermacht. "Von der Ruhr.2010 gabs keine Unterstützung, kein Geld, | |
keine Sponsoren, keine Werbung", sagt die in Gelsenkirchen lebende Lüke | |
enttäuscht. "Der überwiegende Teil der Künstler, Künstlerinnen und | |
Kulturschaffenden aus der Region ist bei der Programmauswahl nicht | |
berücksichtigt worden. Damit hat die Kulturhauptstadt Ruhr.2010 eine ihrer | |
großen Beteiligungschancen vertan", schreiben auch die Kreativen des | |
Essener Kulturzentrums Grend bereits auf ihrer Homepage. | |
"Die Diskrepanz zwischen der großen Eröffnungsfeier und den aus der Not | |
geborenen dramatischen Bittschreiben der Intendanten von Opern und | |
Theaterhäusern ist groß", warnt die Fraktionschefin der Landtagsgrünen, | |
Sylvia Löhrmann. Unmittelbar nach dem Kulturhauptstadtjahr könne der Kultur | |
an der Ruhr der Kahlschlag drohen, fürchten viele: So hat Wuppertal bereits | |
angekündigt, sein Schauspielhaus schließen zu müssen. | |
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"Dieses Projekt ist immens politisch", glaubt dagegen | |
Kulturhauptstadtgeschäftsführer Pleitgen. "Auch gegen die Widerstände der | |
Politik" schaffe die Kultur ein neues Selbstbewusstsein der Region, | |
versichert auch Pleitgens Mitgeschäftsführer Scheytt. Die Reaktion des | |
politischen Establishments könnte den beiden recht geben: | |
Nordrhein-Westfalens ehemaliger, von seinen einstigen Genossen an der Ruhr | |
aber nur noch verachteter Ministerpräsident Wolfgang Clement verfasst in | |
Springers Welt bereits Lobeshymnen auf die Metropole Ruhr. Dabei fürchtete | |
der frühere Sozialdemokrat während seiner eigenen Regierungszeit nichts | |
mehr als ein vereintes, weil übermächtiges Ruhrgebiet. | |
Und Clements Nachfolger, der amtierende CDU-Regierungschef Jürgen Rüttgers, | |
versprach schon bei der Eröffnungsfeier 15 Millionen Euro für die | |
"Kulturquartiere" der neuen Metropole. Die hätte der | |
Arbeiterführerdarsteller eher für Pleitgens knappen 65-Millionen-Etat | |
lockermachen sollen - er hätte bei der Eröffnung nicht im Freien frieren | |
müssen. | |
11 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Andreas Wyputta | |
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