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# taz.de -- Nach Erdbeben in Haiti: Über 100.000 Opfer befürchtet
> Einen Tag nach dem Beben auf Haiti ist das Ausmaß der Katastrophe noch
> immer unklar. Erste Hilfsgüter treffen ein, aber die Versorgung ist
> völlig unzureichend.
Bild: Helfer suchen in den Trümmern weiter nach Überlebenden.
PORT-AU-PRINCE taz | Die Grenzer haben aufgegeben. Ohne Kontrolle winken
die Grenzbeamten von Jimani in der Dominikanischen Republik die
Räumfahrzeuge, Planierraupen und Lastwagen durch, die sich in
kilometerlangen Kolonnen nach Haiti bewegen. Sie sollen helfen, in den
Ruinen von Port-au-Prince Verschüttete zu bergen. Auf der haitianischen
Seite der Grenze, in Malpasse, drängeln sich mehrere hundert Haitianer, die
gerne in die umgekehrte Richtung reisen wollen.
Sie werden allerdings zurückgehalten. In die Dominikanische Republik kommen
nur Verletzte aus Haiti: Die dominikanische Luftwaffe hat einen
Pendeldienst mit Hubschraubern eingerichtet, um Schwerverletzte zu
evakuieren. Leichtere Fälle werden direkt in Krankenhäusern im Grenzbereich
behandelt, schwere Fälle werden nach Santo Domingo in staatliche
Krankenhäuser gebracht, die inzwischen zum Teil überbelegt sind.
Allmählich rollt die Hilfe an. Erste Sondermaschinen sind in Port-au-Prince
gelandet, die nicht nur Hilfsgüter, sondern auch Rettungsmannschaften und
Suchhunde ins Land bringen. Die dominikanisch-haitianische
Frauenorganisation MUDHA ist dabei, in Zusammenarbeit mit der Diakonie
Katastrophenhilfe einen Konvoi mit Hilfsgütern nach Haiti zu schicken. "Die
Situation in Port-au-Prince ist schrecklich", sagt die Direktorin Sonja
Pierre, "aber im Süden Haitis, von wo bisher kaum Informationen zu erhalten
sind, scheint es sehr schlimm zu sein." So soll die Stadt Jacmel an der
Südküste komplett zerstört sein.
Im Moment konzentriert sich die Hilfe ausschließlich auf die Hauptstadt, wo
das Elend und die Verzweiflung immer größer werden. Regierungschef Jean-Max
Bellerive rechnet mit "deutlich über 100.000" Toten. Staatspräsident René
Préval, der den Einsturz seines Palastes unverletzt überlebte, rechnet mit
30.000 bis 50.000 Toten als optimistische Schätzung. Er selbst habe beim
Verlassen des Präsidentenpalastes über Leichen steigen müssen, unter den
Trümmern seien die Schreie von Menschen zu hören gewesen, sagte Préval.
"Das Parlament ist zusammengestürzt, die Steuerbehörde, Schulen und
Krankenhäuser. Es gibt eine Menge von Schulgebäuden mit einer Menge von
Toten darin."
Die Schätzung Prévals deckt sich mit allerersten provisorischen Zahlen des
Internationalen Kreuzes, das von 45.000 bis 50.000 Toten und drei Millionen
Obdachlosen ausgeht. Die Nacht zu Donnerstag verbrachte ein Großteil der
Überlebenden von Port-au-Prince erneut im Freien, aus Angst vor den
andauernden Nachbeben oder weil ihre Behausungen bereits zerstört sind.
Strom, sauberes Wasser und Lebensmittel gibt es für die meisten Menschen
nach wie vor nicht. "Zu viele Menschen sterben", brüllte ein verzweifelter
junger Mann, der Leichen auf einen Lastwagen lud, einem BBC-Reporter ins
Mikrofon. "Es gibt kein Essen, kein Wasser, nichts."
Die Freifläche rund um das Hotel Villa Creole wird inzwischen als
Notunterkunft für Verletzte genutzt, die aber kaum behandelt werden können,
es fehlt nicht nur an Verbandsmaterial und Medikamenten, sondern auch an
Ärzten und Pflegern. "Es gibt kein Wasser, es gibt gar nichts", sagte der
Pfleger Jimitre Coquillon, der versuchte, auf dem Parkplatz eine erste
Sortierung der Opfer vorzunehmen. "Die Leute verdursten, sie werden
sterben." In Port-au-Prince herrscht tropische Hitze. Hilfsmaßnahmen werden
dadurch erschwert, dass fast alle Krankenhäuser zerstört sind. Das
Hilfswerk Ärzte ohne Grenzen meldet die Zerstörung von einem seiner drei
Krankenhäuser, in den anderen seien die Operationssäle ebenfalls kaputt.
Inzwischen soll es zu Plünderungen und Schusswechseln in zerstörten
Supermärkten gekommen sein. "Wir hören viel Gewehrfeuer", berichtete Valmir
Fachini von der brasilianischen Hilfsorganisation Viva Rio. "Man sieht
leider keine UN-Blauhelme auf den Straßen." Zuvor hatte es geheißen, 3.000
UN-Polizisten und Blauhelmsoldaten versuchten, die Sicherheit zu
gewährleisten. "Wenn nicht bald Lebensmittelhilfe eintrifft, werden die
Leute anfangen, die Häuser auszuräumen", so Fachini.
Das Hauptgefängnis, das viele aufgrund seiner unmenschlichen Bedingungen
für die Gefangenen als Vorhof zur Hölle bezeichnen, ist ebenfalls
eingestürzt. Ein Großteil der Häftlinge ist entkommen, angeblich wurden die
ersten Geflohenen an der haitianisch-dominikanischen Grenze verhaftet,
berichten dominikanische Medien.
Der katholische Erzbischof von Port-au-Prince, Serge Miot, wurde in seinem
Büro von der einbrechenden Decke erschlagen. Die Kathedrale ist vollkommen
eingestürzt. In der Umgebung, in der sich auch der zentrale Markt der
Zwei-Millionen-Metropole befindet, sollen zahlreiche Tote auf der Straße
liegen.
Der Chef der UN-Truppen auf Haiti, der Tunesier Hedi Annabi, starb im Hotel
Christopher, dem Hauptquartier der UN-Blauhelme, wie die Vereinten Nationen
inzwischen bestätigten. Er hatte gerade eine chinesische
Regierungsdelegation empfangen, als die Erde zu beben begann. Nach
UN-Berichten hielten sich in dem Hochhaus bis zu 200 Mitarbeiter auf, viele
sind noch immer unter den Trümmern begraben.
Die Leiterin der Diakonie Katastrophenhilfe, Astrid Nissen, berichtet am
Telefon von Leichen auf den Straßen und Hilflosen, die schreiend
herumirren. In der Bergregion oberhalb von Port-au-Prince seien ganze
Stadtviertel mit vermutlich Tausenden von Menschen abgerutscht.
Jetzt rächt sich, dass niemand in Haiti Bauvorschriften ernst nimmt und
keine Behörde Neubauten kontrolliert. Diese Nachlässigkeit dürfte auch die
Ursache für den Einsturz des UN-Hauptquartiers sein. Auch eines der
exklusiven Hotels in Petionville ist zusammengefallen, rund 200 Hotelgäste
werden noch immer vermisst. Der deutsche Botschafter, der in dem Hotel
wohnte, ist zwar unverletzt, aber sein Appartement wurde völlig zerstört.
Der Diplomat wohnte dort, weil seine Residenz auf dem Gelände der deutschen
Botschaft nach Ansicht der Bauabteilung des Auswärtigen Amtes als
einsturzgefährdet bei Erdbeben galt. Die Botschaft und auch die
Botschaftsresidenz sind allerdings heil geblieben.
14 Jan 2010
## AUTOREN
Hans-Ulrich Dillmann
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