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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Woher die Schulden kommen
> Griechenland hat 2009 mit einem Riesenloch im Haushalt schockiert. Die
> Schulden sind hausgemacht: Steuervermeidung im großen Stil hat das
> Gemeinwesen in den Ruin getrieben.
Bild: Keine griechische Tragödie
Die Depression hat selbst das Glücksspiel erfasst. In Griechenland sind die
Umsätze des Wett- und Kasinogewerbes um 16 Prozent zurückgegangen. Dabei
sind die Glücksritter keineswegs weniger geworden. Die Angst vor
Einkommensverlusten treibt sogar immer mehr Griechen in die Wettbüros, aber
sie haben weniger Geld in der Tasche.
Der Umsatzeinbruch im glücksspielfreudigsten Land Europas spiegelt die
anhaltende Krise der Realwirtschaft. Die globale Rezession hat vor allem
die beiden Sektoren getroffen, auf denen die griechische Konjunktur
basiert: Handelsschifffahrt und Tourismus. Zudem schlägt das Minus von 14
Prozent in der Tourismusindustrie auf die Bauwirtschaft durch.(1) Die Krise
hält sich zäher als im übrigen Euroraum, der für das letzte Quartal 2009
bereits wieder Wachstum meldet.
Die griechische Wirtschaft hingegen kriselt weiter. Für 2009 weist das
Bruttoinlandsprodukt ein Minus von 1,5 Prozent auf, auch 2010 wird es um
mindestens 0,3 Prozent schrumpfen. Das wird die Arbeitslosenrate, die jetzt
bei 9,3 Prozent liegt, weiter in die Höhe treiben. Wobei die reale
Arbeitslosigkeit vom gewerkschaftlichen Arbeitsforschungsinstitut schon
heute auf 17 Prozent geschätzt wird.
Am härtesten trifft es die junge Generation: In der Altersgruppe bis 24
Jahren war im September 2009 bereits jeder Vierte ohne festen Job, Tendenz
steigend.(2) Damit wächst auch der Druck auf die ohnehin niedrigen Gehälter
für Berufseinsteiger. Nach den Athener Unruhen vom Dezember 2008 war viel
von der Perspektivlosigkeit der griechischen Jugend die Rede. Die
frustrierte 700-Euro-Generation, die keine ordentlich bezahlten Jobs
findet, könnte bald zur 500-Euro-Generation werden.
Und noch etwas zeigen die Arbeitslosenzahlen: Die Athener Regierung kann
die Realwirtschaft nicht - wie in den reicheren Euroländern - mit einem
staatlichen Konjunkturprogramm stützen. Der Zustand der öffentlichen
Finanzen lässt keinen Spielraum für Programme neokeynesianischen Stils. Das
gigantische Haushaltsdefizit macht die griechische Krise zu einem
Sonderfall.
"Griechenland vor dem Bankrott" ist seit Dezember eine Standardschlagzeile
der internationalen Wirtschaftspresse. Die Zahlen sind fürwahr dramatisch:
Die Pasok-Regierung von Giorgos Papandreou, die erst Anfang Oktober die
konservative Regierung Karamanlis abgelöst hat, musste für 2009 eine
Neuverschuldung in Höhe von 12,7 Prozent des BIP nach Brüssel melden. Drei
Monate zuvor hatte die alte Regierung ein Defizit von 6 Prozent angegeben.
Und 2007 hatte der konservative Finanzminister noch versprochen, die
Neuverschuldung bis 2011 auf null zu bringen. Für die EU-Partner und die
Europäische Zentralbank (EZB) war die Meldung aus Athen ein doppelter
Schock. Zum einen, weil sie die Unzuverlässigkeit der griechischen
Statistik und den opportunistischen Umgang der Regierungen mit solchen
Daten belegte. Dazu ein erhellendes Beispiel: Die Verdoppelung des Defizits
rührte unter anderem von der "Entdeckung", dass die staatlichen
Krankenhäuser ihren Pharmalieferanten etliche Milliarden Euro schulden, zum
Teil schon seit Jahren. Was wiederum zu der "Entdeckung" führte, dass
selbst große Krankenhäuser kein Jahresbudget aufstellen. Was wiederum daran
liegt, dass sie nicht einmal eine geregelte Buchführung kennen. Keine
Regierung hat gegen diesen skandalösen Zustand je etwas unternommen.
Noch schockierender war für die EU-Partner, dass mit dem Rekorddefizit von
2009 die Gesamtverschuldung Griechenlands auf 298 Milliarden Euro ansteigt.
Das entspricht 112,6 Prozent des griechischen BIP. Und diese Staatsschuld
wird bis 2013 - selbst bei strengstem Sparkurs - die 130-Prozent-Grenze
erreichen.(3) Kein anderes Land der EU ist so verschuldet. Das Echo in der
internationalen Presse war verheerend, die Reaktion der globalen Märkte
staatsgefährdend. Die Griechen mussten erfahren, dass ihr Land "von den
europäischen Partnern, den Investoren und dem Markt ganz allgemein als ein
unterentwickeltes Land wahrgenommen wird, das zu Unrecht in der Eurozone
geduldet wird".(4 )
Der Vertrauensverlust schlug sich in einem schmerzhaften "downgrading"
durch die internationalen Ratingagenturen nieder: Am 8. Dezember stufte
Fitch die Kreditwürdigkeit Griechenlands von A- auf BBB+ zurück. Es war die
erste B-Note, die jemals für ein Euroland vergeben wurde. Als Standard &
Poor's am 17. Dezember nachzog, war die Wirkung noch verheerender, wie die
Entwicklung des sogenannten Spread anzeigte. Der Spread ist international
festgelegt als die Differenz zwischen den Zinsen, die ein Land den Käufern
seiner Staatsobligationen bieten muss, und dem Zinsertrag für deutsche
Bundesanleihen. Diese Differenz stieg für griechische Papiere am 18.
Dezember auf 2,75 Prozent. Ein solcher Anstieg bedeutet für den staatlichen
Haushalt neue Belastungen von knapp einer Milliarde Euro. Jedes Downgrading
durch die Ratingagenturen treibt das Land also noch tiefer in die
Schuldenfalle.
Schon daran zeigt sich, dass die ökonomische Krise in Griechenland - im
Gegensatz zu den anderen Euroländern - vor allem von der hohen
Staatsverschuldung herrührt. Die globale Finanzkrise hat den prekären
Zustand der öffentlichen Finanzen nicht verursacht, sondern nur ans Licht
gebracht. Und dieser Zustand hat strukturelle Ursachen, die tief in der
Gesellschaft verankert sind. Die kann man - nur leicht überspitzt - in
einem Satz zusammenfassen: Die meisten Griechen wollen keine Steuern
zahlen, aber fast alle wollen eine Stelle im öffentlichen Dienst.
Das Staatsdefizit rührt auf der Einnahmenseite tatsächlich vor allem aus
der verbreiteten Steuerhinterziehung, die in Griechenland ohne jedes
Unrechtsbewusstsein gepflegt wird. Dem Staat fehlen damit jedes Jahr 30 bis
40 Milliarden Euro. Auf der Ausgabenseite ist der größte Posten das Budget
für den aufgeblähten und ineffizient arbeitenden öffentlichen Dienst. Durch
radikale Verminderung dieser beiden Posten wären die griechischen
Haushaltsprobleme in einem überschaubaren Zeitraum überwindbar.(5 )
Diese Aufgabe muss nun die Pasok-Regierung stemmen. Sie hat den EU-Partnern
zugesagt, das Haushaltsdefizit bis 2012 auf weniger als 3 Prozent des BIP
zu senken. Das aber stellt sie vor ein dreifache Dilemma. Erstens kann sie
viele der im Wahlkampf versprochenen Wohltaten nicht erfülllen. Zweitens
müssen die Reformen rascher als geplant umgesetzt werden. Und drittens
droht die Haushaltskonsolidierung, die der neuen Regierung von der
EU-Kommission, der EZB und von "den Märkten" abgefordert wird, eine
Belebung der Realwirtschaft zu verzögern.
Dass die Dreckarbeit von der Pasok erledigt werden muss, mag ungerecht
erscheinen. Die meisten großen Ausgabenschübe gingen in der Vergangenheit
auf das Konto der konservativen Nea Dimokratia (ND), zumal der Regierung
Karamanlis, die für die jüngste Verdoppelung des Haushaltslochs
verantwortlich ist. Aber auch die Pasok ist historisch keineswegs
unschuldig. Den Grundstock zur heutigen Staatsschuld legte die Regierung
von Andreas Papandreou - Vater des heutigen Ministerpräsidenten - in den
1980er-Jahren mit ihrer populistischen Ausgabenpolitik. Und auch die
traditionelle Übung der griechischen Parteien, den Staat als Beute zu
betrachten und den öffentlichen Dienst vom Staatssekretär bis zum Pförtner
mit eigenen Leuten zu füllen, hat die Pasok munter mitgemacht. Die Athener
Tageszeitung Kathimerini beschreibt diesen Zustand so: "Der öffentliche
Sektor beschäftigt viel zu viel Personal, ist zugleich aber auf kriminelle
Weise unproduktiv. Die Gehälter für dieses Personal verzehren, inklusive
Pensionen, knapp die Hälfte aller Steuereinnahmen. Ministerien und tausende
staatlicher Behörden sind vollgestopft mit Leuten, die wenig leisten und
trotzdem nie entlassen werden können."(6)
Die Reduzierung der Personalausgaben ist einer der zentralen Punkte des
"Stabilitäts- und Entwicklungsprogramms", das Finanzminister
Papakonstantinou ausgearbeitet hat. Darin ist für 2010 ein
Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst vorgesehen (außer im
Erziehungs- und Gesundheitswesen), ab 2011 wird für fünf ausscheidende
Staatsdiener nur ein neuer eingestellt. Gehälter über 2 000 Euro werden
eingefroren, die unteren Gehaltsstufen müssen sich mit einem
Inflationsausgleich begnügen. Insgesamt soll jedes Ministerium sein Budget
um 10 Prozent kürzen.
Aber das macht nur die Hälfte der 8 Milliarden Euro aus, die 2010
eingespart werden müssen, um die Verschuldung auf die angestrebte Marke von
8,7 Prozent des BIP abzusenken. Die andere Hälfte soll durch erhöhte
Einnahmen hereinkommen: durch Veräußerung staatlicher Immobilien und
anderer "Werte", vor allem aber durch drastisch erhöhte indirekte Steuern
auf Alkohol, Tabak und Benzin. Höhere direkte Steuern werden vor allem die
Besserverdienenden belasten, zum Beispiel als Sonderabgabe auf
Luxusimmobilien und erhöhte Erbschafts- und Schenkungssteuern. Auch einen
höheren Mehrwertsteuersatz schließt die Regierung nicht aus; Experten
rechnen mit einer Anhebung von 19 auf 21 Prozent.
Entscheidend für eine nachhaltige Konsolidierung der Einnahmen ist jedoch
der Kampf gegen die Steuerhinterziehung. In seiner Regierungserklärung hat
Papandreou die Griechen aufgefordert, zu "stolzen Steuerzahlern" zu werden,
die es als Glück empfinden, die Gemeinschaftsaufgaben finanzieren zu
dürfen. Ein heroischer Appell an eine Gesellschaft, deren erklärter Held -
quer durch alle Schichten - der Erfolgreichste aller Steuergauner ist:
Aristoteles Onassis, aus dessen hinterlassenem Vermögen übrigens der
griechische Staatspreis für kulturelle Leistungen finanziert wird.
Realistischer packt es Finanzminister Konstantinou an. Er plant härtere
Maßnahmen gegen Steuersünder. Ärzten im reichsten Athener Bezirk Kolonaki
hielt er vor, dass sie ein Jahreseinkommen "nahe dem Mindestlohn für
Arbeiter" angeben. Bei einer Stichprobe zeigte sich, dass nur jeder zweite
von ihnen sich zu einem Jahreseinkommen von über 30 000 Euro bekennt.(7)
Solche Zahlen sind für das ganze Land repräsentativ. Nach der
Steuerstatistik für 2008 lag das deklarierte Einkommen der Freiberufler
(Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten) im Durchschnitt bei 10 493 Euro.
Händler und Unternehmer kamen im Durchschnitt auf 13 236 Euro,
Lohnabhängige und Rentenbezieher dagegen auf 16 123 Euro. Für den Fiskus
ergibt sich damit das absurde Bild, dass Arbeiter, Angestellte und Rentner
als die reichsten Griechen erscheinen(.8)
Dass die meisten Freiberufler und Unternehmer den Fiskus hintergehen,
wissen die übrigen Steuerzahler sehr genau. Als Patienten zahlen sie in
Privatpraxen fette Honorare, die sie selten quittiert bekommen; als
Nachbarn wissen sie, welches Auto der Architekt fährt und wo der
Rechtsanwalt sein Zweithaus hat. Natürlich wissen auch die Steuerbeamten
Bescheid, und dieses Wissen kann einträglich sein, was wiederum
Finanzminister Papakonstantinou weiß. Der plant deshalb, die
Vermögensverhältnisse der Finanzbeamten regelmäßig zu überprüfen. Wer auf
unerklärliche Weise reich geworden ist, soll umstandslos gefeuert werden.
Der Kampf gegen Steuerbetrug könnte dem Staat jährlich 3 Milliarden Euro
einbringen, allerdings frühestens ab 2011. Die EU-Partner und "die Märkte"
haben nicht so viel Geduld. Spätestens dieses Frühjahr müssen sie überzeugt
sein, dass die Pasok-Regierung wie versprochen das Budgetdefizit 2010 um 4
Prozent zurückführen kann. Deshalb drängen sie auf weitere Einschnitte bei
den Ausgaben. Und verweisen dabei auf ein Problem, das die Experten schon
lange identifiziert, die Regierungen aber stets weiträumig umfahren haben:
das wachsende Defizit der Sozialkassen.
Die allgemeine Renten- und Krankenversicherung (IKA) musste 2009 mit 2,5
Milliarden aus dem Staatshaushalt gestützt werden, um bis zum Jahresende
liquide zu bleiben. Dieser Zuschussbedarf wird für 2010 bereits auf 13
Milliarden geschätzt. 2015 werden die Kassen am Ende sein, wenn bis dahin
nichts geschieht. Das Dilemma zeigt sich am krassesten beim öffentlichen
Dienst und seinen 840 000 Gehaltsempfängern: Hier müssen jeweils zwei
Beschäftigte die Altersbezüge eines ausgeschiedenen Kollegen
finanzieren.(9)
"Das Problem der Rentenkassen", sagt Yannis Stournaras, Ökonom und
wissenschaftlicher Leiter des renommierten Wirtschaftsforschungsinstituts
IOBE, "ist der zentrale Faktor, der die Entwicklung der öffentlichen
Finanzen unseres Landes mittelfristig bestimmt. Dieses Problem überschattet
alle anderen Bemühungen um die Sanierung der Haushalte, mögen diese noch so
erfolgreich sein."(10)
Was damit auf die Regierung zukommt, musste Arbeits- und Sozialminister
Loverdos kurz vor Weihnachten erfahren. Seine Einladung zu einem ersten
"Rentendialog" mit Versicherungsträgern und Sozialpartnern wurde von den
Gewerkschaftern, die der kommunistischen Partei (KKE) nahestehen, nicht nur
boykottiert, sondern durch eine Blockade des Ministeriums verhindert.
Seither prophezeit die KKE einen "Abwehrkrieg" gegen jeden Angriff auf das
alte Rentensystem.
Die Liquidität der Rentenkassen ist durch Blockaden nicht zu retten.
Deshalb will Loverdos im Februar ein umfassendes Konzept vorlegen, das vor
allem drei Punkte enthält: Erstens sollen die heutigen 13 Rentenkassen zu
drei großen Trägern zusammengefasst werden, was Milliarden an
administrativen Kosten einsparen wird.(11 )Zweitens sollen betrügerische
Rentenansprüche aufgedeckt werden, etwa von Behinderten, deren Handicap nur
auf einem ärztlichen Attest steht. Drittens sollen die (vorwiegend
ausländischen) Schwarzarbeiter in das Sozialsystem integriert werden.
Zwei heikle Punkte sind in diesem Konzept allerdings nur vage angedeutet:
die Frage des Renteneintrittsalters und der Berechnung der Rentenansprüche.
Das Renteneintrittsalter liegt im öffentlichen Dienst bei 60, in der
Privatwirtschaft offiziell bei 65 Jahren, tatsächlich allerdings im
Durchschnitt weit unter 60, weil Frührentner nur geringe Abschläge
hinnehmen müssen. Das will Loverdos ändern. Allerdings muss er bei
derartigen Vorschlägen mit dem geballten Widerstand der Gewerkschaften
rechnen. Doch auf Dauer ist das Rententabu nicht zu halten. Spätestens wenn
die Zuschüsse für die Sozialkassen das Konsolidierungsprogramm der
Regierung zu sprengen drohen, wird sich die Einsicht ausbreiten, dass sich
die Griechen mit einer allgemeinen Verlängerung der Arbeitszeit abfinden
müssen.
Der zweite Punkt betrifft die Berechnung der Rentenansprüche. Die meisten
der beruflichen Sozialkassen kalkulieren die Höhe der Altersbezüge - wie im
öffentlichen Dienst - auf Basis der letzten drei bis fünf Berufsjahre und
nicht des gesamten Erwerbslebens (wie etwa in Deutschland). Dabei ist es in
vielen Branchen zum Usus geworden, dass (zu) niedrige Löhne vom Arbeitgeber
in den letzten Arbeitsjahren erhöht werden, damit der Versicherte höhere
Rentenbezüge erhält.
Die Unternehmen entsorgen damit einen Teil ihrer Kosten in die
Sozialkassen. Das jüngste Beispiel: Um die Deutsche Telekom für den
Einstieg bei dem staatlichen Telefonunternehmens OTE zu interessieren,
wurden tausende OTE-Angestellte mit satten Abfindungen in Frührente
geschickt - letzten Endes also zulasten der Staatskasse.
Was geschieht, wenn diese beiden Tabus auf den Verhandlungstisch kommen,
dürfte für das Schicksal Griechenlands - und der Regierung Papandreou -
entscheidend werden. Laut Umfragen sind zwei Drittel der Bevölkerung nicht
bereit, für die Sanierung des Staats persönliche Opfer zu bringen. Die
meisten von ihnen haben auch recht, weil ihre niedrigen Realeinkommen seit
Jahren nicht gestiegen sind. Und wenn sie im Privatsektor arbeiten, haben
sie doppelt recht, weil ihre Lohnsteuer einbehalten wird, während
mittelständische Freiberufler als arme Schlucker posieren und nicht einmal
Mehrwertsteuer zahlen müssen.
Die sozialdemokratische Pasok, die in ihrem Wahlkampf eine gerechtere
Gesellschaft und einen "grünen" Wirtschaftsaufschwung versprochen hat,
steht also vor einem massiven Akzeptanzproblem. Dass die Gewerkschaften und
viele einzelne Berufsgruppen gegen ihr Stabilisierungsprogramm Sturm laufen
werden, ist unvermeidlich. Dass diese Proteste zu einer breiten sozialen
Bewegung werden, kann die Regierung nur verhindern, wenn ihr Sparprogramm
tatsächlich eine Dimension der "Gerechtigkeit" erkennen lässt. Wenigstens
dieses eine Mal muss der Staat zeigen, dass die Reichen nicht wieder
ungeschoren davonkommen.
Die Belastungen der höheren Einkommen, die das Sparprogramm vorsieht, sind
daher eine politische Notwendigkeit. Die Sondersteuer auf große Vermögen,
die Besteuerung von Dividenden, die erhöhte Erbschaftssteuer, eine
90-prozentige Steuer auf Bankerboni, die lineare Kürzung der
Managergehälter in den Staatsbetrieben - all das bringt dem Staat nicht
viel ein. Aber es ist von höchstem symbolischen Wert - eine zwingende
Voraussetzung für die gesellschaftliche Durchsetzbarkeit des gesamten
Sparprogramms.
Aus demselben Grund ist der angekündigte Kampf gegen die Korruption so
wichtig. Bestechung und Vetternwirtschaft sind in Griechenland zwar so
volkstümlich wie Steuerbetrug, aber die begüterten Schichten profitieren
von allen Spielarten illegaler Bereicherung weit stärker als die Armen.
Deshalb ist die von Papandreou ausgerufene "Null-Toleranz" gegenüber der
Korruption höchst populär. Dass auf der ersten Sitzung des neuen Kabinetts
Anfang Oktober der "Bürgeranwalt" (der griechische Ombudsman) die Minister
zum engagierten und vorbildlichen Dienst an der Allgemeinheit mahnen
durfte, brachte dem Regierungschef große Sympathien ein.
Ohnehin steht Papandreous persönliche Integrität für die Griechen außer
Zweifel. Von seiner Partei kann man das nicht behaupten. Damit das anders
wird, hat die Pasok-Fraktion einen Parlamentsausschuss für die Aufarbeitung
aller großen Skandale der letzten Zeit eingerichtet.
Im Kampf gegen die Korruption steht die Regierung allerdings vor demselben
Dilemma, das für den gesamten Stabilisierungsplan gilt. Selbst wenn alle
Punkte des Plans ungeschoren durchs Parlament kommen, und selbst wenn alle
beschlossenen Maßnahmen greifen, werden sich die Erfolge erst mittelfristig
einstellen. Das gilt vor allem für den Ertrag, den sich der Finanzminister
vom Kampf gegen die Steuerhinterziehung erhofft. Denn die technische
Ausstattung für schärfere Kontrollen der vielen kleinen Unternehmen und der
Freiberufler existiert noch nicht. Und der Gehaltsstopp für die kleinen
Steuerbeamten könnte deren Bereitschaft zu einträglichen Gefälligkeiten
eher noch verstärken.
Zudem können strenge Steuernachforderungen in Krisenzeiten gerade kleine
Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Dasselbe gilt für den Kampf gegen
die Schattenwirtschaft, der in einer Krise stets ein zweischneidiges
Schwert ist. Denn schwarze und graue Einkommensquellen tragen dazu bei,
deren soziale Folgen abzufedern und sogar die Konjunktur zu
stabilisieren.(12)
Ein ähnliches Problem stellt sich für die Sanierung des Rentensystems. Mit
der Anhebung des Rentenalters bleiben viele Arbeitsplätze länger besetzt,
was die Berufschancen der jungen Generation erheblich mindert. In einer
Zeit, da jeder vierte Jugendlich arbeitslos ist, wäre eine rasche
Einführung der Rente mit 65 das falsche Konzept.
Dieser Hauptwiderspruch zeigt sich bei der Sanierung der öffentlichen
Finanzen in Griechenland in fast allen Facetten: Was mittel- und
langfristig nötig ist, um den Staatsbankrott abzuwenden, wird die sozialen
Probleme kurzfristig verschärfen. Wie bedrohlich das für die
Regierungspläne werden wird, wird in erster Linie vom weiteren Verlauf der
Konjunktur abhängen.
Das ist der zweite und sehr robuste Grund, warum die Regierung die Lasten
bei der Sanierung der öffentlichen Finanzen gesellschaftlich "gerecht"
verteilt muss. Die Ungerechtigkeit wäre schlicht konjunkturfeindlich: Die
griechische Wirtschaft, in der Konsumausgaben über 70 Prozent des BIP
ausmachen (der höchste Anteil in der Eurozone), kann sich schrumpfende
Masseneinkommen gar nicht leisten. Der Rückgang der Umsätze des
Einzelhandels, der Ende 2009 bei 15 Prozent lag, ist ein Warnzeichen. Wenn
sich diese Abwärtsspirale weiterdreht, wird die Realwirtschaft noch stärker
schrumpfen, als schon einkalkuliert ist. Das würde den Stabilisierungsplan
untergraben und den Staatsbankrott in bedrohliche Nähe rücken.
Den Widerspruch zwischen kurz- und mittelfristigen Effekten können solche
Länder besser überbrücken, die sich staatliche Konjunkturprogramme und eine
temporäre höhere Verschuldung leisten können, ohne vom internationalem
Finanzmarkt abgestraft zu werden. Die Griechen haben diese Möglichkeit
nicht. Schuld daran ist ihre politische Klasse. Denn dass Griechenland
heute fast wie ein "failed state" wahrgenommen wird, wäre historisch
vermeidbar gewesen.
1981 ist das Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten.
Seitdem hat es aus der Gemeinschaftskasse der EWG und der späteren EU
finanzielle Zuschüsse erhalten, die in Euro eine dreistellige
Milliardensumme (in Euro) ausmachen.(13) Wo ist dieses Geld geblieben? Ein
Großteil floss in Infrastrukturprojekte, die anderswo aus dem
Steueraufkommen finanziert werden. Dafür konnte der Staat seine
Steuerbürger - und vor allem die Reichen - weitgehend schonen. Er gewährte
ihnen nicht nur eine der niedrigsten Steuerquoten in der alten EU. Er
konnte ihnen auch die notorisch laxe Steuermoral durchgehen lassen, die zur
Anämie der öffentlichen Finanzen maßgeblich beigetragen hat.
Ein weiterer großer, aber nie erfasster Teil dieser Transfergelder aus
Brüssel landete auf privaten Konten. Beides, der Versickerungseffekt wie
die fiskalische Verschonung der höheren und vor allem der selbständigen
Einkommen, ist heute überall sichtbar: an den Jachten, an den Stadtjeeps
und an den Wochenendvillen im Großraum Athen. Hier sind die Gelder
materialisiert, die dazu gedacht waren, intelligente und zukunftsweisende
Programme und Projekte (für die Industrie wie für Landwirtschaft und
Tourismus) zu finanzieren und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung
zu fördern.
Diese Zweckentfremdung ging auch zulasten der Umwelt: Die Waldbrände, die
fast jeden Sommer in Attika und auf der Peloponnes wüten, sind eine Art
krimineller Brandrodung mit dem Ziel, lukratives Bauland für besser
verdienende Athener zu gewinnen.
Die fahrlässige Vergeudung und "Privatisierung" der Milliarden aus Brüssel
haben alle Regierungen seit 1981 zu verantworten. Heute bekommt die
griechische Gesellschaft die Rechnung präsentiert. Schon deshalb wäre es
nur fair, wenn die Schichten und Berufsgruppen, die sich am kräftigsten
bereichert haben, den Großteil der Sanierungslasten tragen müssten. Wenn
die Pasok-Regierung dies durchsetzen will und kann, sollen die europäischen
Partner dies nicht nur missmutig tolerieren, sondern voll unterstützen.
Das gilt auch für Einsparungen im Militärbudget, die den Staat schlagartig
sanieren könnten. Seit Jahrzehnten verschlingen die Militärausgaben über 4
Prozent des griechischen BIP. Nach Presseberichten soll die EU-Kommission
schon im letzten November in einem Memorandum eine Halbierung der
griechischen Rüstungsausgaben vorgeschlagen haben. Das mag sein, aber die
großen Euroländer scheinen von diesem Vorschlag nichts gehört zu haben. Vor
allem Deutschland und Frankreich drängen die Athener Regierung seit Jahren
massiv zum Ankauf ihrer Panzer, Kampfflugzeuge und Fregatten. Die -
weitgehend staatlichen - europäischen Rüstungskonzerne schien nicht zu
stören, dass diese Geschäfte in der Vergangenheit ihre Verhandlungspartner
auf griechischer Seite verdächtig reich gemacht haben.
Die Abwendung des griechischen Bankrotts ist heute ein europäisches
Projekt. In der ersten Januarwoche hat die Athener Regierung den
angereisten Vertretern der EU-Kommission und der EZB die Details ihres
Stabilitäts- und Entwicklungsprogramms erläutert. Noch im Januar sollen die
Finanzminister der Eurozone das Sparprogramm absegnen. Erst dann will
Papandreou, unter Berücksichtigung der Einwände aus Brüssel und Frankfurt,
der griechischen Öffentlichkeit den genauen Plan präsentieren. Mitte
Februar soll dann die Pasok-Mehrheit im Parlament die ersten Steuergesetze
beschließen.
Damit unterliegt Griechenland faktisch der verschärften Aufsicht durch die
EU-Organe, die der Artikel 104c des Maastricht-Vertrags vorsieht. Der
griechische Staatshaushalt wird also durch die EU- und die
Eurozonen-Partner kontrolliert. Das ist der Regierung Papandreou aus zwei
Gründen durchaus willkommen. Erstens will sie sichergehen, dass ihr
Programm von den europäischen Partnern gebilligt und getragen wird. Das
soll ausschließen, dass "die Finanzmärkte", sprich die internationalen
Ratingagenturen, die griechische Kreditwürdigkeit bei der kleinsten Krise
erneut herabstufen. Und zweitens kann sie gegenüber der griechischen
Öffentlichkeit mehr Druck ausüben: Die harten Maßnahmen, die das
Sparprogramm enthält, erscheinen als unabweisbare Forderungen von äußeren
Instanzen, auf die Griechenland auf Gedeih und Verderb angewiesen ist.
Damit räumt die Regierung Papandreou ganz offen ein, dass die Griechen
einen wichtigen Teil ihrer Souveränität eingebüßt haben. Aber das kann sie
sich leisten, weil die Bevölkerung das nicht nur kapiert hat, sondern sogar
begrüßt. In keinem EU-Land ist die Zustimmung zu Europa größer als in
Griechenland. Und seit Jahren genießen die europäischen Institutionen - von
der EU-Kommission bis zum Europäischen Parlament - bei den Griechen weit
mehr Respekt und Vertrauen als die eigene Regierung und das Athener
Parlament.
Vor allem aber wissen inzwischen fast alle, was ein Kommentator zu Beginn
der Krise so formuliert hat: "Kann Griechenland pleitegehen? Die Antwort
ist so einfach wie furchterregend: Wären wir nicht in der Eurozone, hätten
wir wahrscheinlich schon Bankrott anmelden müssen."(14)
Einen souveränen Ausweg aus der Krise des griechischen Staats gibt es
nicht. Das wissen sogar die dümmsten der griechischen Nationalisten.
Deshalb sind Szenarien über eine Flucht aus dem Euro, wie sie etwa in der
Pariser Libération zu lesen waren, blanker Unsinn. Keine griechische
Regierung würde "nationalistischen Sirenenklängen nachgeben und die
Rückkehr zur Drachme verkünden"(15) - auch nicht im Gefolge heftiger
sozialer Unruhen. Denn was würde die Rückkehr zur Drachme bedeuten? Eine
massive Abwertung der griechischen Währung, die den Schuldenberg - der aus
Euro-Verpflichtungen besteht - nur noch vergrößern würde. Und das Ende
aller Hoffnungen, aus der Krise herauszukommen. Denn dann müsste man auch
auf die Transfergelder aus Brüssel verzichten, von denen Griechenland bis
2013 bis zu 26 Milliarden Euro in Anspruch nehmen kann - allerdings nur für
gut begründete Zwecke.
Auch Spekulationen über einen "Hinauswurf" Griechenlands aus der Eurozone
oder gar aus der EU haben mit der Realität nichts zu tun. Die Partner
Athens haben jedes Interesse, einen griechischen Staatsbankrott abzuwenden.
Europäische Banken (allen voran die Deutsche Bank) sitzen auf zig
Milliarden griechischer Staatspapiere, die sie der attraktiven Verzinsung
wegen angekauft haben. Es gibt also ökonomische wie politische Gründe, den
Verein zusammenzuhalten. Denn Griechenland wäre ein böses Omen für andere
verschuldete Euroländer wie Spanien, deren Realwirtschaft ähnlich
katastrophale Aussichten hat.
In der Financial Times war zum Jahresende zu lesen: "Keines dieser Länder
wird in den Bankrott getrieben werden." Die Begründung: Der intensive Druck
aus der Eurozone werde bewirken, dass die Krisenländer ihre öffentlichen
Finanzen selbst "in Ordnung bringen", weil sie nicht zu Paria-Staaten
werden wollen. Wenn das nicht gelingt, prophezeit die Financial Times, wird
es eine Rettungsaktion geben: "Dann werden (diese Länder) gezwungen, ihre
Finanzen so oder so anzupassen."(16)
Fußnoten:
(1) Siehe Niels Kadritzke, "Griechenland - Schuldenstaat in der
Reformkrise", in: "Euroland auf dem Prüfstand", Internationale
Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Mai 2009, [1][www.fes.de/ipa].
(2) "Ta Nea, 10. Dezember 2009. Siehe auch den Vierteljahresbericht für das
4. Quartal 2009 des Wirtschaftsforschungsinstituts IOBE (S. 62-68):
[2][www.iobe.gr/media/elloik/IOBEGreek409.pdf].
(3) Zahlen nach "Ta Nea, 13. November 2009.
(4) "Kathimerini, 16. November 2009.
(5) Siehe auch: Report der Deutsche Bank Research, 26. November 2009.
(6) "Kathimerini, 20. November 2009.
(7) "Ta Nea, 20 November 2009.
(8) Nur 7,5 Prozent der Freiberufler und nur 13 Prozent der
Unternehmer/Händler deklarierten mehr als 30 000 Euro. "Ta Nea, 30.
Dezember 2009.
(9) ( )Experten sagen, dass ohne Umbau des Systems in 30 Jahren 24 Prozent
des BIP für Renten aufgebracht werden müssen. "Ta Nea, 9. Dezember 2009.
(10) "Kathimerini, 8. November 2009.
(11) 2002 setzte die Regierung Simitis (Pasok) die Fusion von 60 Kassen zu
13 durch.
(12) Siehe "Krisenfest mit Schattenwirtschaft", Deutsche Bank Research, 17.
Dezember 2009.
(13) Der genaue Betrag ist nicht zu erfassen. Nach OECD-Analysen ergibt
sich aber, dass die Zahlungen aus Brüssel seit 1981 pro Jahr im
Durchschnitt etwa 0,7 Prozent des BIP ausmachen.
(14) "Kathimerini, 16. November 2009.
(15) "Libération, 10. Dezember 2009.
(16) "Financial Times, 31. Dezember 2009, S. 9.
© "Le Monde diplomatique, Berlin
15 Jan 2010
## LINKS
[1] http://www.fes.de/ipa
[2] http://www.iobe.gr/media/elloik/IOBEGreek409.pdf
## AUTOREN
Niels Kadritzke
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