# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Woher die Schulden kommen | |
> Griechenland hat 2009 mit einem Riesenloch im Haushalt schockiert. Die | |
> Schulden sind hausgemacht: Steuervermeidung im großen Stil hat das | |
> Gemeinwesen in den Ruin getrieben. | |
Bild: Keine griechische Tragödie | |
Die Depression hat selbst das Glücksspiel erfasst. In Griechenland sind die | |
Umsätze des Wett- und Kasinogewerbes um 16 Prozent zurückgegangen. Dabei | |
sind die Glücksritter keineswegs weniger geworden. Die Angst vor | |
Einkommensverlusten treibt sogar immer mehr Griechen in die Wettbüros, aber | |
sie haben weniger Geld in der Tasche. | |
Der Umsatzeinbruch im glücksspielfreudigsten Land Europas spiegelt die | |
anhaltende Krise der Realwirtschaft. Die globale Rezession hat vor allem | |
die beiden Sektoren getroffen, auf denen die griechische Konjunktur | |
basiert: Handelsschifffahrt und Tourismus. Zudem schlägt das Minus von 14 | |
Prozent in der Tourismusindustrie auf die Bauwirtschaft durch.(1) Die Krise | |
hält sich zäher als im übrigen Euroraum, der für das letzte Quartal 2009 | |
bereits wieder Wachstum meldet. | |
Die griechische Wirtschaft hingegen kriselt weiter. Für 2009 weist das | |
Bruttoinlandsprodukt ein Minus von 1,5 Prozent auf, auch 2010 wird es um | |
mindestens 0,3 Prozent schrumpfen. Das wird die Arbeitslosenrate, die jetzt | |
bei 9,3 Prozent liegt, weiter in die Höhe treiben. Wobei die reale | |
Arbeitslosigkeit vom gewerkschaftlichen Arbeitsforschungsinstitut schon | |
heute auf 17 Prozent geschätzt wird. | |
Am härtesten trifft es die junge Generation: In der Altersgruppe bis 24 | |
Jahren war im September 2009 bereits jeder Vierte ohne festen Job, Tendenz | |
steigend.(2) Damit wächst auch der Druck auf die ohnehin niedrigen Gehälter | |
für Berufseinsteiger. Nach den Athener Unruhen vom Dezember 2008 war viel | |
von der Perspektivlosigkeit der griechischen Jugend die Rede. Die | |
frustrierte 700-Euro-Generation, die keine ordentlich bezahlten Jobs | |
findet, könnte bald zur 500-Euro-Generation werden. | |
Und noch etwas zeigen die Arbeitslosenzahlen: Die Athener Regierung kann | |
die Realwirtschaft nicht - wie in den reicheren Euroländern - mit einem | |
staatlichen Konjunkturprogramm stützen. Der Zustand der öffentlichen | |
Finanzen lässt keinen Spielraum für Programme neokeynesianischen Stils. Das | |
gigantische Haushaltsdefizit macht die griechische Krise zu einem | |
Sonderfall. | |
"Griechenland vor dem Bankrott" ist seit Dezember eine Standardschlagzeile | |
der internationalen Wirtschaftspresse. Die Zahlen sind fürwahr dramatisch: | |
Die Pasok-Regierung von Giorgos Papandreou, die erst Anfang Oktober die | |
konservative Regierung Karamanlis abgelöst hat, musste für 2009 eine | |
Neuverschuldung in Höhe von 12,7 Prozent des BIP nach Brüssel melden. Drei | |
Monate zuvor hatte die alte Regierung ein Defizit von 6 Prozent angegeben. | |
Und 2007 hatte der konservative Finanzminister noch versprochen, die | |
Neuverschuldung bis 2011 auf null zu bringen. Für die EU-Partner und die | |
Europäische Zentralbank (EZB) war die Meldung aus Athen ein doppelter | |
Schock. Zum einen, weil sie die Unzuverlässigkeit der griechischen | |
Statistik und den opportunistischen Umgang der Regierungen mit solchen | |
Daten belegte. Dazu ein erhellendes Beispiel: Die Verdoppelung des Defizits | |
rührte unter anderem von der "Entdeckung", dass die staatlichen | |
Krankenhäuser ihren Pharmalieferanten etliche Milliarden Euro schulden, zum | |
Teil schon seit Jahren. Was wiederum zu der "Entdeckung" führte, dass | |
selbst große Krankenhäuser kein Jahresbudget aufstellen. Was wiederum daran | |
liegt, dass sie nicht einmal eine geregelte Buchführung kennen. Keine | |
Regierung hat gegen diesen skandalösen Zustand je etwas unternommen. | |
Noch schockierender war für die EU-Partner, dass mit dem Rekorddefizit von | |
2009 die Gesamtverschuldung Griechenlands auf 298 Milliarden Euro ansteigt. | |
Das entspricht 112,6 Prozent des griechischen BIP. Und diese Staatsschuld | |
wird bis 2013 - selbst bei strengstem Sparkurs - die 130-Prozent-Grenze | |
erreichen.(3) Kein anderes Land der EU ist so verschuldet. Das Echo in der | |
internationalen Presse war verheerend, die Reaktion der globalen Märkte | |
staatsgefährdend. Die Griechen mussten erfahren, dass ihr Land "von den | |
europäischen Partnern, den Investoren und dem Markt ganz allgemein als ein | |
unterentwickeltes Land wahrgenommen wird, das zu Unrecht in der Eurozone | |
geduldet wird".(4 ) | |
Der Vertrauensverlust schlug sich in einem schmerzhaften "downgrading" | |
durch die internationalen Ratingagenturen nieder: Am 8. Dezember stufte | |
Fitch die Kreditwürdigkeit Griechenlands von A- auf BBB+ zurück. Es war die | |
erste B-Note, die jemals für ein Euroland vergeben wurde. Als Standard & | |
Poor's am 17. Dezember nachzog, war die Wirkung noch verheerender, wie die | |
Entwicklung des sogenannten Spread anzeigte. Der Spread ist international | |
festgelegt als die Differenz zwischen den Zinsen, die ein Land den Käufern | |
seiner Staatsobligationen bieten muss, und dem Zinsertrag für deutsche | |
Bundesanleihen. Diese Differenz stieg für griechische Papiere am 18. | |
Dezember auf 2,75 Prozent. Ein solcher Anstieg bedeutet für den staatlichen | |
Haushalt neue Belastungen von knapp einer Milliarde Euro. Jedes Downgrading | |
durch die Ratingagenturen treibt das Land also noch tiefer in die | |
Schuldenfalle. | |
Schon daran zeigt sich, dass die ökonomische Krise in Griechenland - im | |
Gegensatz zu den anderen Euroländern - vor allem von der hohen | |
Staatsverschuldung herrührt. Die globale Finanzkrise hat den prekären | |
Zustand der öffentlichen Finanzen nicht verursacht, sondern nur ans Licht | |
gebracht. Und dieser Zustand hat strukturelle Ursachen, die tief in der | |
Gesellschaft verankert sind. Die kann man - nur leicht überspitzt - in | |
einem Satz zusammenfassen: Die meisten Griechen wollen keine Steuern | |
zahlen, aber fast alle wollen eine Stelle im öffentlichen Dienst. | |
Das Staatsdefizit rührt auf der Einnahmenseite tatsächlich vor allem aus | |
der verbreiteten Steuerhinterziehung, die in Griechenland ohne jedes | |
Unrechtsbewusstsein gepflegt wird. Dem Staat fehlen damit jedes Jahr 30 bis | |
40 Milliarden Euro. Auf der Ausgabenseite ist der größte Posten das Budget | |
für den aufgeblähten und ineffizient arbeitenden öffentlichen Dienst. Durch | |
radikale Verminderung dieser beiden Posten wären die griechischen | |
Haushaltsprobleme in einem überschaubaren Zeitraum überwindbar.(5 ) | |
Diese Aufgabe muss nun die Pasok-Regierung stemmen. Sie hat den EU-Partnern | |
zugesagt, das Haushaltsdefizit bis 2012 auf weniger als 3 Prozent des BIP | |
zu senken. Das aber stellt sie vor ein dreifache Dilemma. Erstens kann sie | |
viele der im Wahlkampf versprochenen Wohltaten nicht erfülllen. Zweitens | |
müssen die Reformen rascher als geplant umgesetzt werden. Und drittens | |
droht die Haushaltskonsolidierung, die der neuen Regierung von der | |
EU-Kommission, der EZB und von "den Märkten" abgefordert wird, eine | |
Belebung der Realwirtschaft zu verzögern. | |
Dass die Dreckarbeit von der Pasok erledigt werden muss, mag ungerecht | |
erscheinen. Die meisten großen Ausgabenschübe gingen in der Vergangenheit | |
auf das Konto der konservativen Nea Dimokratia (ND), zumal der Regierung | |
Karamanlis, die für die jüngste Verdoppelung des Haushaltslochs | |
verantwortlich ist. Aber auch die Pasok ist historisch keineswegs | |
unschuldig. Den Grundstock zur heutigen Staatsschuld legte die Regierung | |
von Andreas Papandreou - Vater des heutigen Ministerpräsidenten - in den | |
1980er-Jahren mit ihrer populistischen Ausgabenpolitik. Und auch die | |
traditionelle Übung der griechischen Parteien, den Staat als Beute zu | |
betrachten und den öffentlichen Dienst vom Staatssekretär bis zum Pförtner | |
mit eigenen Leuten zu füllen, hat die Pasok munter mitgemacht. Die Athener | |
Tageszeitung Kathimerini beschreibt diesen Zustand so: "Der öffentliche | |
Sektor beschäftigt viel zu viel Personal, ist zugleich aber auf kriminelle | |
Weise unproduktiv. Die Gehälter für dieses Personal verzehren, inklusive | |
Pensionen, knapp die Hälfte aller Steuereinnahmen. Ministerien und tausende | |
staatlicher Behörden sind vollgestopft mit Leuten, die wenig leisten und | |
trotzdem nie entlassen werden können."(6) | |
Die Reduzierung der Personalausgaben ist einer der zentralen Punkte des | |
"Stabilitäts- und Entwicklungsprogramms", das Finanzminister | |
Papakonstantinou ausgearbeitet hat. Darin ist für 2010 ein | |
Einstellungsstopp für den öffentlichen Dienst vorgesehen (außer im | |
Erziehungs- und Gesundheitswesen), ab 2011 wird für fünf ausscheidende | |
Staatsdiener nur ein neuer eingestellt. Gehälter über 2 000 Euro werden | |
eingefroren, die unteren Gehaltsstufen müssen sich mit einem | |
Inflationsausgleich begnügen. Insgesamt soll jedes Ministerium sein Budget | |
um 10 Prozent kürzen. | |
Aber das macht nur die Hälfte der 8 Milliarden Euro aus, die 2010 | |
eingespart werden müssen, um die Verschuldung auf die angestrebte Marke von | |
8,7 Prozent des BIP abzusenken. Die andere Hälfte soll durch erhöhte | |
Einnahmen hereinkommen: durch Veräußerung staatlicher Immobilien und | |
anderer "Werte", vor allem aber durch drastisch erhöhte indirekte Steuern | |
auf Alkohol, Tabak und Benzin. Höhere direkte Steuern werden vor allem die | |
Besserverdienenden belasten, zum Beispiel als Sonderabgabe auf | |
Luxusimmobilien und erhöhte Erbschafts- und Schenkungssteuern. Auch einen | |
höheren Mehrwertsteuersatz schließt die Regierung nicht aus; Experten | |
rechnen mit einer Anhebung von 19 auf 21 Prozent. | |
Entscheidend für eine nachhaltige Konsolidierung der Einnahmen ist jedoch | |
der Kampf gegen die Steuerhinterziehung. In seiner Regierungserklärung hat | |
Papandreou die Griechen aufgefordert, zu "stolzen Steuerzahlern" zu werden, | |
die es als Glück empfinden, die Gemeinschaftsaufgaben finanzieren zu | |
dürfen. Ein heroischer Appell an eine Gesellschaft, deren erklärter Held - | |
quer durch alle Schichten - der Erfolgreichste aller Steuergauner ist: | |
Aristoteles Onassis, aus dessen hinterlassenem Vermögen übrigens der | |
griechische Staatspreis für kulturelle Leistungen finanziert wird. | |
Realistischer packt es Finanzminister Konstantinou an. Er plant härtere | |
Maßnahmen gegen Steuersünder. Ärzten im reichsten Athener Bezirk Kolonaki | |
hielt er vor, dass sie ein Jahreseinkommen "nahe dem Mindestlohn für | |
Arbeiter" angeben. Bei einer Stichprobe zeigte sich, dass nur jeder zweite | |
von ihnen sich zu einem Jahreseinkommen von über 30 000 Euro bekennt.(7) | |
Solche Zahlen sind für das ganze Land repräsentativ. Nach der | |
Steuerstatistik für 2008 lag das deklarierte Einkommen der Freiberufler | |
(Ärzte, Rechtsanwälte, Architekten) im Durchschnitt bei 10 493 Euro. | |
Händler und Unternehmer kamen im Durchschnitt auf 13 236 Euro, | |
Lohnabhängige und Rentenbezieher dagegen auf 16 123 Euro. Für den Fiskus | |
ergibt sich damit das absurde Bild, dass Arbeiter, Angestellte und Rentner | |
als die reichsten Griechen erscheinen(.8) | |
Dass die meisten Freiberufler und Unternehmer den Fiskus hintergehen, | |
wissen die übrigen Steuerzahler sehr genau. Als Patienten zahlen sie in | |
Privatpraxen fette Honorare, die sie selten quittiert bekommen; als | |
Nachbarn wissen sie, welches Auto der Architekt fährt und wo der | |
Rechtsanwalt sein Zweithaus hat. Natürlich wissen auch die Steuerbeamten | |
Bescheid, und dieses Wissen kann einträglich sein, was wiederum | |
Finanzminister Papakonstantinou weiß. Der plant deshalb, die | |
Vermögensverhältnisse der Finanzbeamten regelmäßig zu überprüfen. Wer auf | |
unerklärliche Weise reich geworden ist, soll umstandslos gefeuert werden. | |
Der Kampf gegen Steuerbetrug könnte dem Staat jährlich 3 Milliarden Euro | |
einbringen, allerdings frühestens ab 2011. Die EU-Partner und "die Märkte" | |
haben nicht so viel Geduld. Spätestens dieses Frühjahr müssen sie überzeugt | |
sein, dass die Pasok-Regierung wie versprochen das Budgetdefizit 2010 um 4 | |
Prozent zurückführen kann. Deshalb drängen sie auf weitere Einschnitte bei | |
den Ausgaben. Und verweisen dabei auf ein Problem, das die Experten schon | |
lange identifiziert, die Regierungen aber stets weiträumig umfahren haben: | |
das wachsende Defizit der Sozialkassen. | |
Die allgemeine Renten- und Krankenversicherung (IKA) musste 2009 mit 2,5 | |
Milliarden aus dem Staatshaushalt gestützt werden, um bis zum Jahresende | |
liquide zu bleiben. Dieser Zuschussbedarf wird für 2010 bereits auf 13 | |
Milliarden geschätzt. 2015 werden die Kassen am Ende sein, wenn bis dahin | |
nichts geschieht. Das Dilemma zeigt sich am krassesten beim öffentlichen | |
Dienst und seinen 840 000 Gehaltsempfängern: Hier müssen jeweils zwei | |
Beschäftigte die Altersbezüge eines ausgeschiedenen Kollegen | |
finanzieren.(9) | |
"Das Problem der Rentenkassen", sagt Yannis Stournaras, Ökonom und | |
wissenschaftlicher Leiter des renommierten Wirtschaftsforschungsinstituts | |
IOBE, "ist der zentrale Faktor, der die Entwicklung der öffentlichen | |
Finanzen unseres Landes mittelfristig bestimmt. Dieses Problem überschattet | |
alle anderen Bemühungen um die Sanierung der Haushalte, mögen diese noch so | |
erfolgreich sein."(10) | |
Was damit auf die Regierung zukommt, musste Arbeits- und Sozialminister | |
Loverdos kurz vor Weihnachten erfahren. Seine Einladung zu einem ersten | |
"Rentendialog" mit Versicherungsträgern und Sozialpartnern wurde von den | |
Gewerkschaftern, die der kommunistischen Partei (KKE) nahestehen, nicht nur | |
boykottiert, sondern durch eine Blockade des Ministeriums verhindert. | |
Seither prophezeit die KKE einen "Abwehrkrieg" gegen jeden Angriff auf das | |
alte Rentensystem. | |
Die Liquidität der Rentenkassen ist durch Blockaden nicht zu retten. | |
Deshalb will Loverdos im Februar ein umfassendes Konzept vorlegen, das vor | |
allem drei Punkte enthält: Erstens sollen die heutigen 13 Rentenkassen zu | |
drei großen Trägern zusammengefasst werden, was Milliarden an | |
administrativen Kosten einsparen wird.(11 )Zweitens sollen betrügerische | |
Rentenansprüche aufgedeckt werden, etwa von Behinderten, deren Handicap nur | |
auf einem ärztlichen Attest steht. Drittens sollen die (vorwiegend | |
ausländischen) Schwarzarbeiter in das Sozialsystem integriert werden. | |
Zwei heikle Punkte sind in diesem Konzept allerdings nur vage angedeutet: | |
die Frage des Renteneintrittsalters und der Berechnung der Rentenansprüche. | |
Das Renteneintrittsalter liegt im öffentlichen Dienst bei 60, in der | |
Privatwirtschaft offiziell bei 65 Jahren, tatsächlich allerdings im | |
Durchschnitt weit unter 60, weil Frührentner nur geringe Abschläge | |
hinnehmen müssen. Das will Loverdos ändern. Allerdings muss er bei | |
derartigen Vorschlägen mit dem geballten Widerstand der Gewerkschaften | |
rechnen. Doch auf Dauer ist das Rententabu nicht zu halten. Spätestens wenn | |
die Zuschüsse für die Sozialkassen das Konsolidierungsprogramm der | |
Regierung zu sprengen drohen, wird sich die Einsicht ausbreiten, dass sich | |
die Griechen mit einer allgemeinen Verlängerung der Arbeitszeit abfinden | |
müssen. | |
Der zweite Punkt betrifft die Berechnung der Rentenansprüche. Die meisten | |
der beruflichen Sozialkassen kalkulieren die Höhe der Altersbezüge - wie im | |
öffentlichen Dienst - auf Basis der letzten drei bis fünf Berufsjahre und | |
nicht des gesamten Erwerbslebens (wie etwa in Deutschland). Dabei ist es in | |
vielen Branchen zum Usus geworden, dass (zu) niedrige Löhne vom Arbeitgeber | |
in den letzten Arbeitsjahren erhöht werden, damit der Versicherte höhere | |
Rentenbezüge erhält. | |
Die Unternehmen entsorgen damit einen Teil ihrer Kosten in die | |
Sozialkassen. Das jüngste Beispiel: Um die Deutsche Telekom für den | |
Einstieg bei dem staatlichen Telefonunternehmens OTE zu interessieren, | |
wurden tausende OTE-Angestellte mit satten Abfindungen in Frührente | |
geschickt - letzten Endes also zulasten der Staatskasse. | |
Was geschieht, wenn diese beiden Tabus auf den Verhandlungstisch kommen, | |
dürfte für das Schicksal Griechenlands - und der Regierung Papandreou - | |
entscheidend werden. Laut Umfragen sind zwei Drittel der Bevölkerung nicht | |
bereit, für die Sanierung des Staats persönliche Opfer zu bringen. Die | |
meisten von ihnen haben auch recht, weil ihre niedrigen Realeinkommen seit | |
Jahren nicht gestiegen sind. Und wenn sie im Privatsektor arbeiten, haben | |
sie doppelt recht, weil ihre Lohnsteuer einbehalten wird, während | |
mittelständische Freiberufler als arme Schlucker posieren und nicht einmal | |
Mehrwertsteuer zahlen müssen. | |
Die sozialdemokratische Pasok, die in ihrem Wahlkampf eine gerechtere | |
Gesellschaft und einen "grünen" Wirtschaftsaufschwung versprochen hat, | |
steht also vor einem massiven Akzeptanzproblem. Dass die Gewerkschaften und | |
viele einzelne Berufsgruppen gegen ihr Stabilisierungsprogramm Sturm laufen | |
werden, ist unvermeidlich. Dass diese Proteste zu einer breiten sozialen | |
Bewegung werden, kann die Regierung nur verhindern, wenn ihr Sparprogramm | |
tatsächlich eine Dimension der "Gerechtigkeit" erkennen lässt. Wenigstens | |
dieses eine Mal muss der Staat zeigen, dass die Reichen nicht wieder | |
ungeschoren davonkommen. | |
Die Belastungen der höheren Einkommen, die das Sparprogramm vorsieht, sind | |
daher eine politische Notwendigkeit. Die Sondersteuer auf große Vermögen, | |
die Besteuerung von Dividenden, die erhöhte Erbschaftssteuer, eine | |
90-prozentige Steuer auf Bankerboni, die lineare Kürzung der | |
Managergehälter in den Staatsbetrieben - all das bringt dem Staat nicht | |
viel ein. Aber es ist von höchstem symbolischen Wert - eine zwingende | |
Voraussetzung für die gesellschaftliche Durchsetzbarkeit des gesamten | |
Sparprogramms. | |
Aus demselben Grund ist der angekündigte Kampf gegen die Korruption so | |
wichtig. Bestechung und Vetternwirtschaft sind in Griechenland zwar so | |
volkstümlich wie Steuerbetrug, aber die begüterten Schichten profitieren | |
von allen Spielarten illegaler Bereicherung weit stärker als die Armen. | |
Deshalb ist die von Papandreou ausgerufene "Null-Toleranz" gegenüber der | |
Korruption höchst populär. Dass auf der ersten Sitzung des neuen Kabinetts | |
Anfang Oktober der "Bürgeranwalt" (der griechische Ombudsman) die Minister | |
zum engagierten und vorbildlichen Dienst an der Allgemeinheit mahnen | |
durfte, brachte dem Regierungschef große Sympathien ein. | |
Ohnehin steht Papandreous persönliche Integrität für die Griechen außer | |
Zweifel. Von seiner Partei kann man das nicht behaupten. Damit das anders | |
wird, hat die Pasok-Fraktion einen Parlamentsausschuss für die Aufarbeitung | |
aller großen Skandale der letzten Zeit eingerichtet. | |
Im Kampf gegen die Korruption steht die Regierung allerdings vor demselben | |
Dilemma, das für den gesamten Stabilisierungsplan gilt. Selbst wenn alle | |
Punkte des Plans ungeschoren durchs Parlament kommen, und selbst wenn alle | |
beschlossenen Maßnahmen greifen, werden sich die Erfolge erst mittelfristig | |
einstellen. Das gilt vor allem für den Ertrag, den sich der Finanzminister | |
vom Kampf gegen die Steuerhinterziehung erhofft. Denn die technische | |
Ausstattung für schärfere Kontrollen der vielen kleinen Unternehmen und der | |
Freiberufler existiert noch nicht. Und der Gehaltsstopp für die kleinen | |
Steuerbeamten könnte deren Bereitschaft zu einträglichen Gefälligkeiten | |
eher noch verstärken. | |
Zudem können strenge Steuernachforderungen in Krisenzeiten gerade kleine | |
Unternehmen in Schwierigkeiten bringen. Dasselbe gilt für den Kampf gegen | |
die Schattenwirtschaft, der in einer Krise stets ein zweischneidiges | |
Schwert ist. Denn schwarze und graue Einkommensquellen tragen dazu bei, | |
deren soziale Folgen abzufedern und sogar die Konjunktur zu | |
stabilisieren.(12) | |
Ein ähnliches Problem stellt sich für die Sanierung des Rentensystems. Mit | |
der Anhebung des Rentenalters bleiben viele Arbeitsplätze länger besetzt, | |
was die Berufschancen der jungen Generation erheblich mindert. In einer | |
Zeit, da jeder vierte Jugendlich arbeitslos ist, wäre eine rasche | |
Einführung der Rente mit 65 das falsche Konzept. | |
Dieser Hauptwiderspruch zeigt sich bei der Sanierung der öffentlichen | |
Finanzen in Griechenland in fast allen Facetten: Was mittel- und | |
langfristig nötig ist, um den Staatsbankrott abzuwenden, wird die sozialen | |
Probleme kurzfristig verschärfen. Wie bedrohlich das für die | |
Regierungspläne werden wird, wird in erster Linie vom weiteren Verlauf der | |
Konjunktur abhängen. | |
Das ist der zweite und sehr robuste Grund, warum die Regierung die Lasten | |
bei der Sanierung der öffentlichen Finanzen gesellschaftlich "gerecht" | |
verteilt muss. Die Ungerechtigkeit wäre schlicht konjunkturfeindlich: Die | |
griechische Wirtschaft, in der Konsumausgaben über 70 Prozent des BIP | |
ausmachen (der höchste Anteil in der Eurozone), kann sich schrumpfende | |
Masseneinkommen gar nicht leisten. Der Rückgang der Umsätze des | |
Einzelhandels, der Ende 2009 bei 15 Prozent lag, ist ein Warnzeichen. Wenn | |
sich diese Abwärtsspirale weiterdreht, wird die Realwirtschaft noch stärker | |
schrumpfen, als schon einkalkuliert ist. Das würde den Stabilisierungsplan | |
untergraben und den Staatsbankrott in bedrohliche Nähe rücken. | |
Den Widerspruch zwischen kurz- und mittelfristigen Effekten können solche | |
Länder besser überbrücken, die sich staatliche Konjunkturprogramme und eine | |
temporäre höhere Verschuldung leisten können, ohne vom internationalem | |
Finanzmarkt abgestraft zu werden. Die Griechen haben diese Möglichkeit | |
nicht. Schuld daran ist ihre politische Klasse. Denn dass Griechenland | |
heute fast wie ein "failed state" wahrgenommen wird, wäre historisch | |
vermeidbar gewesen. | |
1981 ist das Land der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beigetreten. | |
Seitdem hat es aus der Gemeinschaftskasse der EWG und der späteren EU | |
finanzielle Zuschüsse erhalten, die in Euro eine dreistellige | |
Milliardensumme (in Euro) ausmachen.(13) Wo ist dieses Geld geblieben? Ein | |
Großteil floss in Infrastrukturprojekte, die anderswo aus dem | |
Steueraufkommen finanziert werden. Dafür konnte der Staat seine | |
Steuerbürger - und vor allem die Reichen - weitgehend schonen. Er gewährte | |
ihnen nicht nur eine der niedrigsten Steuerquoten in der alten EU. Er | |
konnte ihnen auch die notorisch laxe Steuermoral durchgehen lassen, die zur | |
Anämie der öffentlichen Finanzen maßgeblich beigetragen hat. | |
Ein weiterer großer, aber nie erfasster Teil dieser Transfergelder aus | |
Brüssel landete auf privaten Konten. Beides, der Versickerungseffekt wie | |
die fiskalische Verschonung der höheren und vor allem der selbständigen | |
Einkommen, ist heute überall sichtbar: an den Jachten, an den Stadtjeeps | |
und an den Wochenendvillen im Großraum Athen. Hier sind die Gelder | |
materialisiert, die dazu gedacht waren, intelligente und zukunftsweisende | |
Programme und Projekte (für die Industrie wie für Landwirtschaft und | |
Tourismus) zu finanzieren und eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung | |
zu fördern. | |
Diese Zweckentfremdung ging auch zulasten der Umwelt: Die Waldbrände, die | |
fast jeden Sommer in Attika und auf der Peloponnes wüten, sind eine Art | |
krimineller Brandrodung mit dem Ziel, lukratives Bauland für besser | |
verdienende Athener zu gewinnen. | |
Die fahrlässige Vergeudung und "Privatisierung" der Milliarden aus Brüssel | |
haben alle Regierungen seit 1981 zu verantworten. Heute bekommt die | |
griechische Gesellschaft die Rechnung präsentiert. Schon deshalb wäre es | |
nur fair, wenn die Schichten und Berufsgruppen, die sich am kräftigsten | |
bereichert haben, den Großteil der Sanierungslasten tragen müssten. Wenn | |
die Pasok-Regierung dies durchsetzen will und kann, sollen die europäischen | |
Partner dies nicht nur missmutig tolerieren, sondern voll unterstützen. | |
Das gilt auch für Einsparungen im Militärbudget, die den Staat schlagartig | |
sanieren könnten. Seit Jahrzehnten verschlingen die Militärausgaben über 4 | |
Prozent des griechischen BIP. Nach Presseberichten soll die EU-Kommission | |
schon im letzten November in einem Memorandum eine Halbierung der | |
griechischen Rüstungsausgaben vorgeschlagen haben. Das mag sein, aber die | |
großen Euroländer scheinen von diesem Vorschlag nichts gehört zu haben. Vor | |
allem Deutschland und Frankreich drängen die Athener Regierung seit Jahren | |
massiv zum Ankauf ihrer Panzer, Kampfflugzeuge und Fregatten. Die - | |
weitgehend staatlichen - europäischen Rüstungskonzerne schien nicht zu | |
stören, dass diese Geschäfte in der Vergangenheit ihre Verhandlungspartner | |
auf griechischer Seite verdächtig reich gemacht haben. | |
Die Abwendung des griechischen Bankrotts ist heute ein europäisches | |
Projekt. In der ersten Januarwoche hat die Athener Regierung den | |
angereisten Vertretern der EU-Kommission und der EZB die Details ihres | |
Stabilitäts- und Entwicklungsprogramms erläutert. Noch im Januar sollen die | |
Finanzminister der Eurozone das Sparprogramm absegnen. Erst dann will | |
Papandreou, unter Berücksichtigung der Einwände aus Brüssel und Frankfurt, | |
der griechischen Öffentlichkeit den genauen Plan präsentieren. Mitte | |
Februar soll dann die Pasok-Mehrheit im Parlament die ersten Steuergesetze | |
beschließen. | |
Damit unterliegt Griechenland faktisch der verschärften Aufsicht durch die | |
EU-Organe, die der Artikel 104c des Maastricht-Vertrags vorsieht. Der | |
griechische Staatshaushalt wird also durch die EU- und die | |
Eurozonen-Partner kontrolliert. Das ist der Regierung Papandreou aus zwei | |
Gründen durchaus willkommen. Erstens will sie sichergehen, dass ihr | |
Programm von den europäischen Partnern gebilligt und getragen wird. Das | |
soll ausschließen, dass "die Finanzmärkte", sprich die internationalen | |
Ratingagenturen, die griechische Kreditwürdigkeit bei der kleinsten Krise | |
erneut herabstufen. Und zweitens kann sie gegenüber der griechischen | |
Öffentlichkeit mehr Druck ausüben: Die harten Maßnahmen, die das | |
Sparprogramm enthält, erscheinen als unabweisbare Forderungen von äußeren | |
Instanzen, auf die Griechenland auf Gedeih und Verderb angewiesen ist. | |
Damit räumt die Regierung Papandreou ganz offen ein, dass die Griechen | |
einen wichtigen Teil ihrer Souveränität eingebüßt haben. Aber das kann sie | |
sich leisten, weil die Bevölkerung das nicht nur kapiert hat, sondern sogar | |
begrüßt. In keinem EU-Land ist die Zustimmung zu Europa größer als in | |
Griechenland. Und seit Jahren genießen die europäischen Institutionen - von | |
der EU-Kommission bis zum Europäischen Parlament - bei den Griechen weit | |
mehr Respekt und Vertrauen als die eigene Regierung und das Athener | |
Parlament. | |
Vor allem aber wissen inzwischen fast alle, was ein Kommentator zu Beginn | |
der Krise so formuliert hat: "Kann Griechenland pleitegehen? Die Antwort | |
ist so einfach wie furchterregend: Wären wir nicht in der Eurozone, hätten | |
wir wahrscheinlich schon Bankrott anmelden müssen."(14) | |
Einen souveränen Ausweg aus der Krise des griechischen Staats gibt es | |
nicht. Das wissen sogar die dümmsten der griechischen Nationalisten. | |
Deshalb sind Szenarien über eine Flucht aus dem Euro, wie sie etwa in der | |
Pariser Libération zu lesen waren, blanker Unsinn. Keine griechische | |
Regierung würde "nationalistischen Sirenenklängen nachgeben und die | |
Rückkehr zur Drachme verkünden"(15) - auch nicht im Gefolge heftiger | |
sozialer Unruhen. Denn was würde die Rückkehr zur Drachme bedeuten? Eine | |
massive Abwertung der griechischen Währung, die den Schuldenberg - der aus | |
Euro-Verpflichtungen besteht - nur noch vergrößern würde. Und das Ende | |
aller Hoffnungen, aus der Krise herauszukommen. Denn dann müsste man auch | |
auf die Transfergelder aus Brüssel verzichten, von denen Griechenland bis | |
2013 bis zu 26 Milliarden Euro in Anspruch nehmen kann - allerdings nur für | |
gut begründete Zwecke. | |
Auch Spekulationen über einen "Hinauswurf" Griechenlands aus der Eurozone | |
oder gar aus der EU haben mit der Realität nichts zu tun. Die Partner | |
Athens haben jedes Interesse, einen griechischen Staatsbankrott abzuwenden. | |
Europäische Banken (allen voran die Deutsche Bank) sitzen auf zig | |
Milliarden griechischer Staatspapiere, die sie der attraktiven Verzinsung | |
wegen angekauft haben. Es gibt also ökonomische wie politische Gründe, den | |
Verein zusammenzuhalten. Denn Griechenland wäre ein böses Omen für andere | |
verschuldete Euroländer wie Spanien, deren Realwirtschaft ähnlich | |
katastrophale Aussichten hat. | |
In der Financial Times war zum Jahresende zu lesen: "Keines dieser Länder | |
wird in den Bankrott getrieben werden." Die Begründung: Der intensive Druck | |
aus der Eurozone werde bewirken, dass die Krisenländer ihre öffentlichen | |
Finanzen selbst "in Ordnung bringen", weil sie nicht zu Paria-Staaten | |
werden wollen. Wenn das nicht gelingt, prophezeit die Financial Times, wird | |
es eine Rettungsaktion geben: "Dann werden (diese Länder) gezwungen, ihre | |
Finanzen so oder so anzupassen."(16) | |
Fußnoten: | |
(1) Siehe Niels Kadritzke, "Griechenland - Schuldenstaat in der | |
Reformkrise", in: "Euroland auf dem Prüfstand", Internationale | |
Politikanalyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, Mai 2009, [1][www.fes.de/ipa]. | |
(2) "Ta Nea, 10. Dezember 2009. Siehe auch den Vierteljahresbericht für das | |
4. Quartal 2009 des Wirtschaftsforschungsinstituts IOBE (S. 62-68): | |
[2][www.iobe.gr/media/elloik/IOBEGreek409.pdf]. | |
(3) Zahlen nach "Ta Nea, 13. November 2009. | |
(4) "Kathimerini, 16. November 2009. | |
(5) Siehe auch: Report der Deutsche Bank Research, 26. November 2009. | |
(6) "Kathimerini, 20. November 2009. | |
(7) "Ta Nea, 20 November 2009. | |
(8) Nur 7,5 Prozent der Freiberufler und nur 13 Prozent der | |
Unternehmer/Händler deklarierten mehr als 30 000 Euro. "Ta Nea, 30. | |
Dezember 2009. | |
(9) ( )Experten sagen, dass ohne Umbau des Systems in 30 Jahren 24 Prozent | |
des BIP für Renten aufgebracht werden müssen. "Ta Nea, 9. Dezember 2009. | |
(10) "Kathimerini, 8. November 2009. | |
(11) 2002 setzte die Regierung Simitis (Pasok) die Fusion von 60 Kassen zu | |
13 durch. | |
(12) Siehe "Krisenfest mit Schattenwirtschaft", Deutsche Bank Research, 17. | |
Dezember 2009. | |
(13) Der genaue Betrag ist nicht zu erfassen. Nach OECD-Analysen ergibt | |
sich aber, dass die Zahlungen aus Brüssel seit 1981 pro Jahr im | |
Durchschnitt etwa 0,7 Prozent des BIP ausmachen. | |
(14) "Kathimerini, 16. November 2009. | |
(15) "Libération, 10. Dezember 2009. | |
(16) "Financial Times, 31. Dezember 2009, S. 9. | |
© "Le Monde diplomatique, Berlin | |
15 Jan 2010 | |
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[1] http://www.fes.de/ipa | |
[2] http://www.iobe.gr/media/elloik/IOBEGreek409.pdf | |
## AUTOREN | |
Niels Kadritzke | |
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