# taz.de -- Chaos in Haiti: Geölte Gewehre | |
> Auf dem Flughafen in Port-au-Prince herrscht weiter Chaos, obwohl die | |
> Amerikaner ihn kontrollieren. In der Hauptstadt nimmt die Angst vor | |
> Gewalt zu. Hilfsorganisationen können das Essen nicht austeilen. | |
Bild: Ein UN-Soldat schützt Lebensmittelpakete. | |
PORT-AU-PRINCE afp/dpa | Abgewiesene Flugzeuge voller Hilfsgüter, hunderte | |
Flüchtlinge, die auf ihre Evakuierung warten, tonnenweise Nahrungsmittel, | |
die keiner verteilt: Auf dem von US-Truppen kontrollierten Flughafen der | |
haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince herrscht noch immer das blanke | |
Chaos. Gleichzeitig wächst die Kritik an den US-Truppen. "Lasst uns die | |
Landebahn stürmen", brüllt ein verzweifelter Mann. | |
"Sie fliegen nur die Amerikaner aus und nicht die anderen", kritisiert der | |
50-jährige Franzose Charles Misteder. "Das amerikanische Monopol muss | |
aufhören. Sie lassen uns nicht nach Hause." US-Truppen hatten am Freitag in | |
Absprache mit der haitianischen Regierung die Kontrolle über den beim | |
Erdbeben beschädigten Flugplatz Toussaint L´Ouverture übernommen. | |
"Nur amerikanische Pässe", ruft ein Angehöriger des US-Außenministeriums in | |
französischer Sprache am Eingang des Flughafens, wo sich hunderte | |
Flüchtlinge drängen. Diplomaten anderer Staaten versuchen wütend, eigene | |
Landsleute zu wartenden Flugzeugen zu führen. Den USA wird vorgeworfen, die | |
einzige Landebahn des kleinen Flughafens für die Evakuierung von US-Bürgern | |
zu beanspruchen. Die US-Botschaft dementiert dies. In Haiti leben 40.000 | |
bis 45.000 US-Bürger. | |
Rund 200 französische Staatsbürger hatten die Nacht auf Samstag auf der | |
Landebahn verbracht, nachdem ihre Evakuierung auf die französische | |
Karibikinsel Guadeloupe am Freitag gescheitert war. In letzter Minute war | |
einem Flugzeug, das sie dorthin bringen sollte, die Landeerlaubnis entzogen | |
worden. Am Samstag wurden sie schließlich ausgeflogen. | |
Kritik kommt auch von der haitianischen Regierung: "Es gibt große | |
Koordinierungsprobleme am Flughafen" sagte am Wochenende | |
Regierungsvertreter Michel Chancy. "Die Haitianer werden über die Ankunft | |
von Flugzeugen nicht unterrichtet. Wenn sie dann landen, dann übernimmt | |
niemand die Ware und große Mengen von Gütern kommen ohne Koordination an." | |
Flüge mit medizinischer Ausrüstung und Nahrungsmitteln aus Argentinien, | |
Mexiko und Peru wurden nach Angaben von Vertretern der USA und der | |
Vereinten Nationen in die Dominikanische Republik und auf benachbarte | |
Inseln umgeleitet. | |
US-Außenministerin Hillary Clinton betonte am Samstag bei einem Blitzbesuch | |
auf dem Flughafen, die USA seien auf Einladung der haitianischen Regierung | |
hier: "Wir sind heute hier, wir werden morgen hier sein und in der Zeit, | |
die vor uns liegt." Die US-Armee schickt mehr als 10.000 Soldaten in den | |
schwer verwüsteten Karibikstaat. Kritik wies Clinton als "nicht zutreffend" | |
zurück. | |
Der US-Botschafter in Haiti, Kenneth Merten, räumt hingegen Schwierigkeiten | |
ein. "Es ist normal, dass es Frustrationen gibt", sagte er. Dafür seien vor | |
allem Kommunikationsprobleme verantwortlich: "Sobald es Handy-Empfang gibt, | |
wird es viel besser funktionieren." | |
Nach Angaben von Silvestre Castro, dem Leiter des freiwilligen | |
Logistik-Teams der DHL in Amerika, landen täglich rund 45 Maschinen auf dem | |
Flughafen, knapp die Hälfte in der Nacht, praktisch alles Militärflugzeuge. | |
"Ich habe nur acht Flugzeuge mit humanitärem Material täglich gezählt", | |
berichtet Castro, ein Mann aus Panama. "Lebensmittel, zum Beispiel Reis | |
oder Milch, habe ich noch nicht ankommen gesehen." | |
Neben den Problemen am Flughafen dürften einem rascheren Beginn der | |
Hilfslieferungen noch andere Hindernisse im Wege stehen. Die | |
Organisationen, die nach Haiti kommen, um zu helfen, verfügen nicht über | |
Strukturen, um dort zu arbeiten. Dazu gehören Unterkünfte, Büros, | |
Kommunikationsmittel oder Fahrzeuge und Ausrüstung. Es gibt wegen der | |
Zerstörung auch keine Gebäude, in die sie einziehen könnten. | |
Unter der Führung der humanitären UN-Organisation OCHA wurde am Sonntag | |
beschlossen, am Flughafen eine Zeltstadt für bis zu 800 Personen zu | |
errichten. In den Zelten können die Mitarbeiter mehrerer Organisationen | |
wohnen, schlafen und arbeiten. Bisher verbringen die bereits angereisten | |
Mitarbeiter der Hilfsorganisationen, aber auch die Journalisten die Nächte | |
im Freien, in Zelten, auf Bänken, auf den Fußböden und in der Gärten der | |
Hotels. | |
Zu Beginn dieser Woche wollen die Hilfsorganisationen mit der Verteilung | |
von Lebensmitteln beginnen. Aber auch das ist vor allem wegen befürchteter | |
Gewaltausbrüche eine logistische und psychologische Herausforderung. Die | |
Deutsche Welthungerhilfe etwa überlegt, zunächst in einer von der Polizei | |
abgesicherten Straße Wasser zu verteilen. "Wir hoffen, dabei Kontakt zu den | |
Autoritäten zu in den Camps der Plätze in der Stadt zu bekommen", sagt | |
Ehrler vom Nothilfeteam der Welthungerhilfe. In einem zweiten Schritt soll | |
dann mit der Verteilung von Reis, Bohnen, Öl und Salz begonnen werden. | |
Auch der Sprecher der Diakonie Katastrophenhilfe, Tommy Ramm, sieht große | |
Probleme bei der Verteilung der Hilfsgüter. "In den ersten Tagen war das | |
Krisenmanagement völlig überfordert", sagte er. Der bisher schon schwache | |
Staat habe praktisch aufgehört, zu existieren. Der UN-Sitz sei zerstört | |
worden und viele NGO im Land seien paralysiert gewesen. "Dadurch seien | |
wertvolle Tage verloren gegangen, auf so etwas war niemand vorbereitet." | |
"Bekämpfe die Kriminalität - Schiess zuerst". Der Spruch auf einem Auto in | |
der von einem Erdbeben zerstörten haitianischen Hauptstadt Port-au-Prince | |
lässt kaum Zweifel an den Absichten des Fahrers. In der Millionenstadt, wo | |
sich täglich die Anzeichen für eine mögliche Gewaltexplosion mehren, haben | |
schon viele ihre Waffen griffbereit, um sich im Notfall verteidigen zu | |
können. | |
In einem Land, wo auch in normalen Zeiten niemand auf die Idee gekommen | |
wäre, bei einem Überfall die Polizei zu rufen, gehörten Pistolen, Gewehre | |
oder zumindest eine Machete schon vor der Katastrophe vom vergangenen | |
Dienstag zur Grundausstattung fast jeden Haushalts. Seitdem die Erde bebte | |
und das bettelarme, zerrüttete Land vollends ins Elend stürzte, sind eh | |
kaum noch Polizisten zu sehen. Stattdessen steht die Ankunft von US-Marines | |
unmittelbar bevor. | |
Aber das kann die noch vielfach traumatisierten Überlebenden nicht wirklich | |
beruhigen. Während die Menschen aus Furcht vor Nachbeben oder weil ihr Haus | |
zerstört ist, im Freien campieren, horchen sie verschreckt auf nächtlichen | |
Schießereien. Über Stunden peitschen Schüsse durch die Dunkelheit. Niemand | |
weiß, wer sie abgibt und wem sie gelten. | |
Tagsüber ziehen die vielen herumirrenden Menschen immer hastiger durch die | |
Stadt. Sie sind auch schweigsamer geworden und vermeiden Blickkontakt, | |
erste Anzeichen einer steigenden Spannung und Angst. Auch der Autoverkehr | |
lässt nach. Das mag an den immer schneller steigenden Benzinpreisen liegen. | |
Aber dennoch wird auch das als ein Zeichen von Gefahr verstanden, denn im | |
Armenhaus Haiti gelten Autobesitzer automatisch als reich und damit als | |
potenziell lohnendes Überfallopfer, die besser die Straßen meiden. | |
In Laboulle, einem wohlhabenden Wohnviertel der Stadt, sind die | |
furchteinflößenden Waffen, die sich in jedem Haushalt befinden, bereits | |
gereinigt und geölt. Und durchgeladen. Nachbarn heben flache Gräben quer | |
über die Fahrbahn der Straßen aus. Im Falle eines Überfalls würden die | |
Angreifer so gezwungen, langsamer zu fahren und könnten in ihren Autos | |
besser beschossen werden, erklären Anwohner. | |
Niemand kann genau sagen, was vor sich geht, aber die Spannung steigt | |
stündlich und ist so spürbar, als ließe sie sich mit einem Messer | |
schneiden. An Zündstoff mangelt es jedenfalls nicht in einer weitgehend | |
zerstörten Stadt mit einer unbekannten aber sicherlich hohen Zahl von Toten | |
unter tonnenschweren Trümmern. Und zwei Millionen Überlebenden, von denen | |
viele ohne Essen und Wasser noch einem Dach über dem Kopf seit Tagen | |
inmitten des Verwesungsgestanks der Leichen auf Hilfe warten, die nicht | |
kommen will. | |
Nur Meter vom eingestürzten Präsidentenpalast entfernt gab es so heftige | |
Übergriffe, dass die Polizei die Straßen zum betroffenen Viertel La Ville | |
gesperrt hat. "Die bösen Jungs machen sich breit. Die schiessen auf | |
Journalisten, auf Polizisten - auf alles und Jeden!", sagt ein Polizist. | |
Während sich einige Retter besorgt über die wachsende Spannung in der Stadt | |
äußern, bleibt ein französischer Helfer unbeeindruckt. Sobald das | |
US-Militär komme, so meinte er, käme schon alles in Ordnung: "Die kommen | |
'rein, schiessen ein paar Leute über den Haufen - und das war's dann!", | |
meinte er schulterzuckend. | |
18 Jan 2010 | |
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