# taz.de -- Lokomotive Karlshof: Die soziale Kettenreaktion | |
> Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie haben kein karitatives | |
> Motiv. Sie wollen durch Aufbau einer nichtkapitalistischen Versorgung | |
> eine soziale Kettenreaktion auslösen. Ein Abstecher | |
Bild: Kleines Idyll auf der Website: Lokomotive Karlshof und seine Mitstreiter. | |
"Warum Rosen besingen, Aristokrat! Besing die demokratische Kartoffel, die | |
das Volk nährt!" Heinrich Heine | |
* * * | |
Ein beliebter Che-Guevara-Spruch in der linken Szene war: Seid realistisch, | |
fordert das Unmögliche!" Auf dem Karlshof wird das Unmögliche nicht nur | |
gefordert, es wird von den Utopisten einer "nichtkommerziellen | |
Landwirtschaft" (NKL), in die Praxis umgesetzt. Sie bauen Kartoffeln an und | |
verschenken sie. Sie lehnen jede Bezahlung ab, ebenso Gutschriften und | |
sogar den Tausch. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen mehr! Sie | |
möchten durch den Aufbau einer kleinen, nichtkapitalistischen | |
Nahrungsversorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen, Leute anstiften, | |
an einem nichtkommerziellen Netzwerk auf Gegenseitigkeit teilzunehmen. | |
Die Mitglieder des Karlshofs sind keine Eigentümer. Er wurde ihnen zur | |
Verfügung gestellt, von der Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit (PAG), | |
einem Netzwerk von Gemeinschaftsprojekten und einzelnen Leuten in Berlin | |
und Brandenburg, das, in Kooperation und mithilfe einer Stiftung, | |
Liegenschaften kauft und leihweise an geeignete Projekte vergibt. Der | |
Karlshof ist eines dieser Projekte. | |
Den Sinn dieser außergewöhnlichen Versuchsanordnung hat ein Mitglied der | |
Gruppe "Lokomotive Karlshof" treffend so formuliert: "Die Perspektive kann | |
nicht sein, individuell die Schafe ins Trockene zu bringen, sondern auf | |
kollektive Autonomie ausgerichtete Strukturen zu entwerfen, um sich | |
gegenseitig zu unterstützen." In Zeiten sich verschärfender | |
gesellschaftlicher Verhältnisse erregt das Experiment die Fantasie. | |
Der Karlshof liegt 90 Kilometer nördlich von Berlin, dreieinhalb Kilometer | |
von der Stadt Templin entfernt. Es gibt eine einsame Bushaltestelle an der | |
ehemaligen LPG. Weite Ebenen, abgeerntete steinige Felder, an den Rändern | |
in der Ferne Wald und Buschwerk. Es sieht sehr nach Tristesse aus. Ein | |
langer Sandweg, gesäumt von Peitschenlampen, führt an desolaten, grauen | |
Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei zum Hof. Vor einem schmucklosen | |
zweistöckigen Wohngebäude mit Satteldach, das unverkennbar aus LPG-Zeiten | |
stammt, endet der Weg in einer ausgefahrenen Schleife. | |
Peter Just, einer der Aktivisten, erwartet Elisabeth und mich bereits und | |
lädt zu einem Rundgang ein. Der 50-ha-Hof umfasst Äcker, Weideland, etwas | |
Wald, Obst- und Gemüsegärten sowie die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Auf | |
den weiträumigen Feldern werden Kartoffeln und diverse Getreidesorten | |
biologisch angebaut. Wir besichtigen ein abgeerntetes Feld, auf dem noch | |
einige kleine Kartoffeln liegen, und ein benachbartes, schütteres | |
Sonnenblumenfeld, das demnächst abgeerntet werden soll zur Ölgewinnung. | |
Der Karlshof bekam eine Ölmühle vom Biohof Ulenkrug zur Verwertung der | |
Sonnenblumen. Peter erklärt: "Man muss sie nach dem ersten Frost ernten. | |
Gefroren hat es aber erst am 10. Oktober, dann war Regen. Jetzt sind sie zu | |
feucht zum Ernten, dann war was mit der Hydraulik …Also an mir lag es | |
nicht, dass sie immer noch … so! Deswegen hat es mich auch geärgert, dass | |
ich hier ein bisschen ausgelacht wurde … Irgendwann mal haben wir Öl!" | |
Elisabeth fragt: "Warum eigentlich ,Lokomotive Karlshof', hieß die LPG mal | |
so?" Peter verneint: " ,Lokomotive', da gibt's einfach viele Assoziationen, | |
zum Beispiel zur Arbeitersportbewegung, was in Verbindung mit der | |
Landwirtschaft ja eine ironische Brechung ergibt, oder zu einer Politband | |
aus dem Kreuzberg der 70er-Jahre und eben zur dynamischen Maschine, von der | |
wir fasziniert sind, die ein Sinnbild für Produktivität war, für | |
Güterverteilung und Kraft." | |
Während wir, begleitet von zwei sehr jungen und zutraulichen getigerten | |
Kätzchen, über schweren, feuchten Ackerboden stapfen, erzählt Peter, dass | |
sich momentan zwölf Erwachsene unterschiedlichen Alters - teils aus den | |
neuen, teils aus den alten Bundesländern stammend - mit fünf Kindern auf | |
dem Hof befinden. Zwei sind studierte Agrarwissenschaftler, die anderen | |
kommen aus verschiedensten Richtungen, bis hin zur Ethnologie, für die | |
meisten waren die Arbeiten gewöhnungsbedürftig. "Gut", sagt Peter, "wir | |
können uns natürlich nicht komplett selber versorgen hier, es gibt | |
finanzielle Nebenabhängigkeiten, logischerweise, und das macht manchmal | |
Stress." Aber man hat den Versuch gewagt. Die Beteiligten üben das | |
Kunststück, mit einem Bein im Geldkreislauf festgebunden zu sein und mit | |
dem anderen im Freien Fuß zu fassen. | |
Nicht alle leben hier ständig, nicht alle sind Mitglieder des Netzwerks. | |
Aber alle kommen aus linken Zusammenhängen und beteiligen sich auf | |
unterschiedliche Art und Weise. Männer und Frauen teilen sich die | |
Hausarbeiten. Jeder muss im Turnus putzen, kochen, Wäsche waschen. Die | |
Reparaturen, Garten- und Feldarbeiten werden je nach Schweregrad, Neigung | |
oder Sachkenntnis übernommen. Mit dem Nachbarbauern hat man ein sehr gutes | |
Verhältnis, man hilft sich gegenseitig, er leiht fehlende Gerätschaften | |
aus. | |
Eine Schar von Leuten leistet ab und an solidarische Hilfe bei diversen | |
Arbeiten. Besonders zur Kartoffelernte im Herbst kommen für 14 Tage | |
zahlreiche Netzwerkhelfer und Freunde angereist. Sogar die Kinder des | |
benachbarten Waldkindergartens helfen, und auch Kinder aus der Freien | |
Schule Templin, die auch Kartoffeln erhält. Man ist mit verschiedenen | |
landwirtschaftlichen Kooperativen in gegenseitiger Hilfe und, wie es Peter | |
formuliert, "bedürfnisorientiertem Austausch" verbunden. "Einsam und | |
verlassen sind wir hier nicht", sagt Peter und lacht. | |
Die Gebäude der ursprünglichen bäuerlichen Hofstelle bilden ein Ensemble, | |
sind aus rotem Backstein und stehen ein wenig abseits vom Wohnhaus. Im lang | |
gestreckten ehemaligen Stall mit durchgehendem Dachboden sind unten | |
verschiedene Werkstätten eingerichtet. Oben unter dem alten Gebälk wurden | |
zahlreiche Möglichkeiten zur Unterbringung der Helfer und Gäste geschaffen, | |
zum Schlafen, Feiern und Spielen. "Im Sommer und Herbst waren eine Menge | |
Leute da", erklärt Peter, "die müssen natürlich ordentlich versorgt | |
werden." Er zeigt uns die Sommerküche mit Terrasse nebst Backofen. Auch ein | |
ästhetisch sehr gelungenes solarbetriebenes Badehaus aus Ziegeln und Holz | |
sowie zwei Komposttoiletten mit Rädern stehen zur Verfügung. | |
Zwei schmale Schweine | |
Das ehemalige Bauernhaus - in seinen Kellerräumen lagern die | |
Kartoffelvorräte des Karlshofs bei idealen acht Grad und guter Lüftung - | |
wird seit Längerem saniert. Es soll als Gemeinschafts-und Seminarhaus | |
dienen. Momentan wird eine Heizung eingebaut. Zwei sichtbar gut gelaunte | |
Leute, ein Schlosser und eine Schlosserin - beide haben Umwelttechnik | |
studiert -, schneiden vor dem Haus die Rohre und Gewinde zurecht. Sie sind | |
zur solidarischen Hilfe auf den Hof gekommen und stellen dem Netzwerk ihre | |
handwerkliche Leistung gratis zur Verfügung. Wie auch die anderen reisenden | |
Handwerkerinnen und Handwerker, die hier im Sommer umfangreiche Steinmetz-, | |
Maurer- und Zimmermannsarbeiten gemacht haben, das originelle Badehaus | |
errichteten und einen künstlerisch gestalteten steinernen Brunnen. Eine | |
Schmiedin war da und hat Maueranker geschmiedet und eingezogen. Der | |
Karlshof muss für all das nur die verbauten Materialien bezahlen. | |
Auch die Tiere scheinen sich wohlzufühlen. Es gibt ein paar Schafe, eine | |
Schar Gänse, die aufrecht und aufgeregt dahinstrebt, und bedachtsam | |
scharrende und pickende Hühner in Braun und Weiß, nebst Hahn. Zwei schmale | |
Schweine mit dunklen Tupfen, Charles und Camilla, durchfurchen ihr Gehege | |
und heben freundlich die Köpfe, als wir näher treten. "Sie bekommen | |
gedämpfte Kartoffeln mit Gerste und Erbsen. Der Dämpfer war ein Geschenk | |
aus dem Netzwerk", erklärt Peter. | |
Im großen Garten werden Salat und Gemüse gehegt und geerntet, es wächst | |
reichlich für alle Bewohner und auch für die Gäste. Und für den Winter | |
werden Marmeladen, Sirupe, Gelees, Chutneys hergestellt und natürlich | |
Sauerkraut. Unter dem übervollen Birnbaum liegen verschwenderisch | |
hingebreitet große, gelbe Birnen im Gras. Es wirkt wie Hohn und Spott. Ohne | |
diese Eigenschaft und Gunst der Natur, die ja erst die Möglichkeit des | |
Mehrwerts bietet, wären nie die weltbeherrschenden Systeme entstanden. | |
Die beiden kleinen Katzen begleiten uns immer noch unverdrossen durch ihr | |
zukünftiges Jagdrevier. Peter zeigt uns einen alten Belarus-Traktor aus | |
Minsk und einen DDR-Traktor namens "Fortschritt". Er erzählt: "Wie ich den | |
angemeldet habe, meinte die Frau, die da im Kostüm hinter dem Tresen saß: | |
,Ach, der alte ,Fortschritt', den durfte ich früher nie fahren. Das war der | |
Männertraktor, und der ,Belarus' war der Frauentraktor.' " Er lacht, zeigt | |
auf Egge und Kultivator und führt uns dann in die teils desolaten | |
LPG-Gebäude. Zeigt einbrechendes Dachgebälk und große Hallen, die als | |
Remise dienen und als Lagerhalle für das Saatgut, für Getreide, | |
Hülsenfrüchte und die Sonnenblumenkerne. | |
Es gibt teils museale Sortiermaschinen für Hülsenfrüchte und Getreide und | |
den DDR- Mähdrescher namens "Hamster". Sogar eine rustikale Holztheke mit | |
Barhockern ist da, für die großen Sommerfeste. In hängenden weißen | |
Gewebesilos lagert hier nun mäusesicher die Ernte. Ein defekter Traktor | |
steht in der picobello geordneten Werkstatt. "Es gibt einen Maschinenbauer, | |
der kommt regelmäßig vorbei, zum Glück", sagt Peter. | |
Die Wahnwitzigkeit des Unternehmens wird angesichts der alten und | |
reparaturbedürftigen Gebäude und Arbeitsgeräte, des Dieselpreises und der | |
Materialkosten besonders deutlich. Spenden könnten hier gute Dienste | |
leisten. Also für Anleger mit Prinzipien das ideale Objekt. Garantiert | |
boni- und renditefrei! | |
Bei einem wohlgeratenen Spaghettiessen nebst hofeigenem Salat mit | |
kandierten Walnüssen und kühlem, naturtrübem Apfelsaft lernen wir auch | |
einige andere Hofbewohner flüchtig kennen. Sie sind wortkarg, scheinen aber | |
freundlich. Danach bereitet unser Gastgeber Kaffee zu und bittet uns ins | |
ruhige Wohn- und Spielzimmer. Es bietet Ausblick auf ein weites Feld und | |
hat - wie alle Räume dieses Hauses - einen soliden Berliner Kachelofen. | |
"Ihr könnt gern auch noch Apfelsaft haben", sagt Peter , "der ist übrigens | |
ein Beispiel für das, was ich bedürfnisorientierten Austausch nenne: Von | |
einer Kooperative bekommen wir Apfelsaft, wenn wir welchen brauchen, und | |
die wiederum kommen, wenn sie Kartoffeln brauchen. Es wird unabhängig | |
voneinander produziert, aber nichts gegengerechnet. Ein sehr angenehmes | |
Verhältnis. | |
Und jetzt erzähle ich einfach mal: Ich bin damals 2006 dazugestoßen über | |
Freunde. Ich dachte, es ist Zeit, was anderes zu machen, es ist Zeit, mit | |
den Gewohnheiten zu brechen, auf diesen Geldfluss da und auf den | |
Äquivalententausch zu verzichten und nach Alternativen zu suchen. Zu | |
schauen, wie wir anderweitig unsere Bedürfnisse befriedigen können, wie wir | |
zu einer bedürfnisorientierten kollektiven Organisierung kommen, zu einer | |
sozialen Vernetzung gegenseitiger Unterstützung … zu praktizierter | |
Solidarität. Wir hatten uns alle kritisch mit der kapitalistischen | |
Warenproduktion und dem Verwertungszusammenhang im Allgemeinen | |
auseinandergesetzt, insbesondere mit den Bedingungen und Absurditäten der | |
Nahrungsmittelproduktion im globalisierten Kapitalismus." | |
Kartoffel-Euphorie | |
Peter redet ernst, manchmal stockend, wenn er ein Wort auslässt, sagt er | |
manchmal einfach nur "so", oder er lächelt. "Und dann haben wir einfach | |
angefangen und haben uns in die Praxis gestürzt. Es ist zwar oft hart, aber | |
das Schöne für mich hier besteht darin, es ist einfach was Handfestes, was | |
Praktisches, bei dem was Sinnvolles rauskommt. Kartoffeln sind toll! Wir | |
erzeugen ein Grundnahrungsmittel, wir erzeugen es ökologisch. Ich kann es | |
zusammen tun mit Menschen, die ich mag. Und man hat hier genug Zeit, | |
Erfahrungen zu machen. Zu lernen, wie mache ich was, wann und warum. Also | |
man setzt sich einfach Ziele und guckt, wie sie erreichbar sind. Wir machen | |
jetzt das vierte Jahr Kartoffeln. Und wir wurden jedes Jahr besser. | |
2006 ist die NKL ja in Gang gekommen, als Versuch, eine alternative | |
Wirtschaftsform zu praktizieren, jenseits vom Markt, mit dem Ziel, sich so | |
weit wie möglich vom Geld zu lösen. Sich anders zu vergesellschaften, denn | |
darum geht es. Es gab von Anfang an relativ viel Feedback von Berlin, auch | |
einen größeren Interessentenkreis. Wir machten damals für diese Idee | |
Propaganda. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Die globalisierte | |
Kartoffel', im Café Morgenrot in Berlin, wurde das Konzept vorgestellt. | |
Auch im Café der Agrarwissenschaftler in der Humboldt-Uni und später bei | |
der Vorbereitung des G-8-Gipfels. Im Frühjahr 2006 jedenfalls schickten wir | |
unseren ,Aufruf zur Selbstorganisierung' an Hausprojekte, Landprojekte, WGs | |
und politische Gruppen. An 150 bis 200 Menschen erst mal. Wir kamen auf | |
einen Bedarf von etwa 4,15 Tonnen Kartoffeln, die wir auf 0,7 ha | |
produzieren wollten. Bald schon gab es ein gemeinsames | |
Kartoffelkäferablesen. Und dann, im September 2006, der große Augenblick, | |
die Ernte! Es kamen überraschend viele Helfer. 4,5 Tonnen wurden geerntet. | |
2007 vergrößerten wir die Anbaufläche. 8,5 Tonnen war die Ernte. 2008 waren | |
es schon 15 Tonnen auf 1,5 ha. Und zum ersten Mal hatten wir auch alle | |
Saatkartoffeln aus eigener Produktion, die mussten wir ja anfangs kaufen. | |
Also wir haben zwei Tonnen Saatkartoffeln rein getan und 15 Tonnen | |
geerntet. Und 2009 haben wir auf 2 ha 18 Tonnen geerntet. Das ist doch eine | |
recht gutes Ergebnis, dafür, dass wir keinen Dünger in den Boden geben?! | |
Aber es ist natürlich nicht das Ziel, immer mehr zu ernten. Wir erheben den | |
Bedarf, und danach produzieren wir. Wir fragen im Netzwerk herum: Wer | |
braucht wie viele und welche Kartoffeln? Der Bedarf pro Nase im Jahr liegt | |
ja so bei 50 bis 55 kg." [Um 1900 war es fünfmal so viel; Anm. G.G.] "Wir | |
haben inzwischen verschiedene Kartoffelsorten, festkochende, mittelfeste | |
und mehlige. Sogar rote. Und die werden dann mit dem Hänger nach | |
Eberswalde, Potsdam und Berlin gebracht und eingelagert in | |
Kartoffelkellern; das sind Orte, wo du hingehen und deine Kartoffeln | |
abholen kannst. In Berlin ist es jetzt nicht mehr im Bethanien. Wir machen | |
neuerdings das Kartoffelcafé in Kreuzberg, in der Admiralstraße 17, im | |
Laden der KPD/RZ". [Hierbei handelt es sich um die Spaßpartei "Kreuzberger | |
patriotische Demokraten/realistisches Zentrum"; Anm. G.G.) | |
"Es gibt jetzt neben Kartoffeln auch noch Weizen, Buchweizen, Dinkel und | |
Erbsen vom Karlshof. Und neuerdings sogar Brot. Das Café ist jeden zweiten | |
Sonntag für NKL-Mitglieder geöffnet. Interessierte Menschen sind natürlich | |
herzlich eingeladen und können sich ganz unverbindlich alles erst mal aus | |
der Nähe angucken." | |
Wir möchten wissen, was denn eigentlich genau von den Nutznießern der | |
Kartoffeln erwartet wird. "Also der Beitrag, den wir erwarten, der wird | |
nicht definiert, wir hoffen auf gute Einfälle. Das kann zum Beispiel | |
Mithilfe sein im Kartoffelcafé. Es gibt eine Menge Möglichkeiten der | |
Mitarbeit und Hilfe. Je nach Zeit und Fähigkeit kann die sporadisch sein | |
oder auch regelmäßiger. Es gibt Leute, die sagen, okay, wir sind Mitglied | |
im Netzwerk. Und es gibt Leute, die machen halt einfach nur so mit. Wir | |
informieren im Internet über den Verteiler, was wir konkret brauchen. Also | |
das kann praktische Hilfe sein, Marmelade kochen, was mauern, oder wenns | |
ein Ingenieur ist zum Beispiel, der kann mit statischem Wissen helfen, mit | |
einer einfachen Konstruktionsskizze für den Bau von einem Silo. | |
Sprit für den Traktor | |
Wir brauchen vielfältige Sachen, auch gute Tipps oder Beratung von einem | |
Netztechniker. Aber natürlich kann sich auch jemand an den Kosten | |
beteiligen, wir brauchen ja Sprit für den Traktor, Material und | |
Ersatzteile, müssten einige arbeitserleichternde Geräte anschaffen, das | |
wird manchmal recht stressig. Vor anderthalb Jahren haben wir eine | |
Spendenkampagne gemacht und Geld gesammelt für den Traktor. Davon haben wir | |
den "Fortschritt" gekauft, den ihr vorhin gesehen habt. Aber wir möchten da | |
eigentlich gar keinen Druck ausüben. | |
Und die Kartoffeln, die wir verschenken, sollen auch keine Verpflichtung | |
sein, keine Vergütung für vergangene oder künftige Dienstleistungen. Wir | |
wollen eben keinerlei Äquivalententausch, wir wollen nicht den Wert von | |
Kartoffeln oder Leistungen taxieren und verrechnen müssen. Wozu? So müssen | |
wir auch nicht immerzu gucken: Ist das jetzt gerecht oder ungerecht? Wurden | |
wir übervorteilt? Das ist wahnsinnig erleichternd, wenn man das alles mal | |
hinter sich hat! | |
Es gibt auch Leute, die sich Kartoffeln abholen, ohne direkt etwas für uns | |
oder das Netzwerk zu tun. Es ist einfach so, es gehört mit zum Prinzip der | |
Selbstorganisation, dass man umdenkt und sich überlegt: Was kann ich tun? | |
Das und das wird vielleicht gebraucht, das und das wäre jetzt wichtig, die | |
und die Bedürfnisse hat der andere. Anfangs hatten die Kartoffeln ja so | |
eine Agitpropfunktion, inzwischen sind sie auch Symbol und Beweis dafür, | |
dass es geht, und eine Aufforderung dazu, dass sich andere | |
Produktionsbereiche gründen und selbstständig im Netzwerk engagieren. Das | |
passiert auch. Jetzt hat sich gerade eine nichtkommerzielle Brotbackgruppe | |
gegründet, die aus unserem Getreide Sauerteigbrote gebacken hat, sodass zum | |
ersten Mal auch Brot verteilt werden konnte im Kartoffelcafé." | |
Auf die Frage, ob er uns den theoretischen Ansatz noch mal genauer | |
erläutern kann, sagt er abwehrend und entschieden: "Also ich bin jetzt | |
keiner, der so beschlagen ist in Theorie, der diese Mehrwertsache vorträgt, | |
da bin ich der Falsche. Aber eins weiß ich genau, ich halte eine Produktion | |
um der Produktion willen, die nur produziert, um Geld zu machen, für | |
unsinnig. Und ich halte das derzeitige Wirtschaftssystem für falsch, für | |
ökologisch und sozial schädlich. Punkt! Das treibt mich schon um, dass | |
jeder sechste Mensch hungert und jede Minute so und so viele Kinder sterben | |
an Hunger. Es muss doch jedem klar sein, dass diese Art des Wirtschaftens | |
mörderisch ist. Und da finde ich, dass unser wertkritischer Ansatz gut ist, | |
dass wir in kleinem Maßstab aktiv werden, um einfach was zu versuchen, um | |
die Dinge zu ändern. | |
Eine Halle stürzt ein | |
Ich persönlich jedenfalls bin mit der Theorie nicht weitergekommen. Ich | |
löse das für mich lieber praktisch, auf so einer solidarisch-menschlichen | |
Ebene, und ich finde diese Versuche - auch von euch jetzt -, dem eine | |
theoretische Grundlage abzuverlangen, echt nicht gut! Wir haben es ja | |
immerhin innerhalb von vier Jahren geschafft, ein ziemlich autarkes kleines | |
Wirtschaftssystem mit einem sich entwickelnden Netzwerk kollektiver | |
Subsistenz aufzubauen. Und das ist nicht mehr theoretisch abgehoben, | |
sondern eine ganz handfeste Geschichte. | |
Wir kommen zurecht. Sicher, wir haben auch die klassischen kollektiven | |
Organisations- und Kommunikationsprobleme, wie andere auch. Wir haben | |
einmal in der Woche eine Art Plenum, wo alles Wichtige besprochen wird. Es | |
gibt natürlich auch Themen, wo keiner so richtig … unbeliebte Themen zum | |
Beispiel Verantwortung für die Gebäude. Entweder wir übernehmen die … oder | |
wir müssen eben sagen, gut, lasst diese Halle einstürzen. Bums! Aus! Dann | |
haben wir es eben gemeinsam nicht geschafft. Und es gibt manchmal so | |
Sachen, da fragst du dich: Warum mache ich mich hier zum Hampel? Aber wir | |
kriegen es immer irgendwie halbwegs hin, würde ich mal sagen. Und ich will | |
ja auch was anderes als nur Harmonie. Ich will auch was umsetzen. | |
Gut, während ich hier auf dem Acker herumfahre, haben andere an der Uni | |
promoviert. Es ist schon ein sozialer Abstieg, wenig Geld, wenig | |
Sicherheit, kein sozialer Status. Das ist vielleicht der Preis, den man in | |
dem Sinne bezahlen muss. Aber das ist eine Sache der Perspektive. Denn wenn | |
ich mir anschaue, wie es mir geht, dann würde ich sagen, ich fühle mich | |
wesentlich besser hier. Es gefällt mir, draußen zu arbeiten, es gefällt | |
mir, wofür ich arbeite. Und diese Freiheit, einfach etwas machen zu können, | |
die habe ich in diesem Kontext mehr als anderswo. Zum ersten Mal bin ich | |
nicht mehr so frustriert, nicht mehr so machtlos." | |
24 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Gabriele Goettle | |
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