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# taz.de -- Lokomotive Karlshof: Die soziale Kettenreaktion
> Sie bauen Kartoffeln an und verschenken sie. Sie haben kein karitatives
> Motiv. Sie wollen durch Aufbau einer nichtkapitalistischen Versorgung
> eine soziale Kettenreaktion auslösen. Ein Abstecher
Bild: Kleines Idyll auf der Website: Lokomotive Karlshof und seine Mitstreiter.
"Warum Rosen besingen, Aristokrat! Besing die demokratische Kartoffel, die
das Volk nährt!" Heinrich Heine
* * *
Ein beliebter Che-Guevara-Spruch in der linken Szene war: Seid realistisch,
fordert das Unmögliche!" Auf dem Karlshof wird das Unmögliche nicht nur
gefordert, es wird von den Utopisten einer "nichtkommerziellen
Landwirtschaft" (NKL), in die Praxis umgesetzt. Sie bauen Kartoffeln an und
verschenken sie. Sie lehnen jede Bezahlung ab, ebenso Gutschriften und
sogar den Tausch. Sie haben kein karitatives Motiv. Sie wollen mehr! Sie
möchten durch den Aufbau einer kleinen, nichtkapitalistischen
Nahrungsversorgung eine soziale Kettenreaktion auslösen, Leute anstiften,
an einem nichtkommerziellen Netzwerk auf Gegenseitigkeit teilzunehmen.
Die Mitglieder des Karlshofs sind keine Eigentümer. Er wurde ihnen zur
Verfügung gestellt, von der Projektwerkstatt auf Gegenseitigkeit (PAG),
einem Netzwerk von Gemeinschaftsprojekten und einzelnen Leuten in Berlin
und Brandenburg, das, in Kooperation und mithilfe einer Stiftung,
Liegenschaften kauft und leihweise an geeignete Projekte vergibt. Der
Karlshof ist eines dieser Projekte.
Den Sinn dieser außergewöhnlichen Versuchsanordnung hat ein Mitglied der
Gruppe "Lokomotive Karlshof" treffend so formuliert: "Die Perspektive kann
nicht sein, individuell die Schafe ins Trockene zu bringen, sondern auf
kollektive Autonomie ausgerichtete Strukturen zu entwerfen, um sich
gegenseitig zu unterstützen." In Zeiten sich verschärfender
gesellschaftlicher Verhältnisse erregt das Experiment die Fantasie.
Der Karlshof liegt 90 Kilometer nördlich von Berlin, dreieinhalb Kilometer
von der Stadt Templin entfernt. Es gibt eine einsame Bushaltestelle an der
ehemaligen LPG. Weite Ebenen, abgeerntete steinige Felder, an den Rändern
in der Ferne Wald und Buschwerk. Es sieht sehr nach Tristesse aus. Ein
langer Sandweg, gesäumt von Peitschenlampen, führt an desolaten, grauen
Stallungen und Wirtschaftsgebäuden vorbei zum Hof. Vor einem schmucklosen
zweistöckigen Wohngebäude mit Satteldach, das unverkennbar aus LPG-Zeiten
stammt, endet der Weg in einer ausgefahrenen Schleife.
Peter Just, einer der Aktivisten, erwartet Elisabeth und mich bereits und
lädt zu einem Rundgang ein. Der 50-ha-Hof umfasst Äcker, Weideland, etwas
Wald, Obst- und Gemüsegärten sowie die Wohn- und Wirtschaftsgebäude. Auf
den weiträumigen Feldern werden Kartoffeln und diverse Getreidesorten
biologisch angebaut. Wir besichtigen ein abgeerntetes Feld, auf dem noch
einige kleine Kartoffeln liegen, und ein benachbartes, schütteres
Sonnenblumenfeld, das demnächst abgeerntet werden soll zur Ölgewinnung.
Der Karlshof bekam eine Ölmühle vom Biohof Ulenkrug zur Verwertung der
Sonnenblumen. Peter erklärt: "Man muss sie nach dem ersten Frost ernten.
Gefroren hat es aber erst am 10. Oktober, dann war Regen. Jetzt sind sie zu
feucht zum Ernten, dann war was mit der Hydraulik …Also an mir lag es
nicht, dass sie immer noch … so! Deswegen hat es mich auch geärgert, dass
ich hier ein bisschen ausgelacht wurde … Irgendwann mal haben wir Öl!"
Elisabeth fragt: "Warum eigentlich ,Lokomotive Karlshof', hieß die LPG mal
so?" Peter verneint: " ,Lokomotive', da gibt's einfach viele Assoziationen,
zum Beispiel zur Arbeitersportbewegung, was in Verbindung mit der
Landwirtschaft ja eine ironische Brechung ergibt, oder zu einer Politband
aus dem Kreuzberg der 70er-Jahre und eben zur dynamischen Maschine, von der
wir fasziniert sind, die ein Sinnbild für Produktivität war, für
Güterverteilung und Kraft."
Während wir, begleitet von zwei sehr jungen und zutraulichen getigerten
Kätzchen, über schweren, feuchten Ackerboden stapfen, erzählt Peter, dass
sich momentan zwölf Erwachsene unterschiedlichen Alters - teils aus den
neuen, teils aus den alten Bundesländern stammend - mit fünf Kindern auf
dem Hof befinden. Zwei sind studierte Agrarwissenschaftler, die anderen
kommen aus verschiedensten Richtungen, bis hin zur Ethnologie, für die
meisten waren die Arbeiten gewöhnungsbedürftig. "Gut", sagt Peter, "wir
können uns natürlich nicht komplett selber versorgen hier, es gibt
finanzielle Nebenabhängigkeiten, logischerweise, und das macht manchmal
Stress." Aber man hat den Versuch gewagt. Die Beteiligten üben das
Kunststück, mit einem Bein im Geldkreislauf festgebunden zu sein und mit
dem anderen im Freien Fuß zu fassen.
Nicht alle leben hier ständig, nicht alle sind Mitglieder des Netzwerks.
Aber alle kommen aus linken Zusammenhängen und beteiligen sich auf
unterschiedliche Art und Weise. Männer und Frauen teilen sich die
Hausarbeiten. Jeder muss im Turnus putzen, kochen, Wäsche waschen. Die
Reparaturen, Garten- und Feldarbeiten werden je nach Schweregrad, Neigung
oder Sachkenntnis übernommen. Mit dem Nachbarbauern hat man ein sehr gutes
Verhältnis, man hilft sich gegenseitig, er leiht fehlende Gerätschaften
aus.
Eine Schar von Leuten leistet ab und an solidarische Hilfe bei diversen
Arbeiten. Besonders zur Kartoffelernte im Herbst kommen für 14 Tage
zahlreiche Netzwerkhelfer und Freunde angereist. Sogar die Kinder des
benachbarten Waldkindergartens helfen, und auch Kinder aus der Freien
Schule Templin, die auch Kartoffeln erhält. Man ist mit verschiedenen
landwirtschaftlichen Kooperativen in gegenseitiger Hilfe und, wie es Peter
formuliert, "bedürfnisorientiertem Austausch" verbunden. "Einsam und
verlassen sind wir hier nicht", sagt Peter und lacht.
Die Gebäude der ursprünglichen bäuerlichen Hofstelle bilden ein Ensemble,
sind aus rotem Backstein und stehen ein wenig abseits vom Wohnhaus. Im lang
gestreckten ehemaligen Stall mit durchgehendem Dachboden sind unten
verschiedene Werkstätten eingerichtet. Oben unter dem alten Gebälk wurden
zahlreiche Möglichkeiten zur Unterbringung der Helfer und Gäste geschaffen,
zum Schlafen, Feiern und Spielen. "Im Sommer und Herbst waren eine Menge
Leute da", erklärt Peter, "die müssen natürlich ordentlich versorgt
werden." Er zeigt uns die Sommerküche mit Terrasse nebst Backofen. Auch ein
ästhetisch sehr gelungenes solarbetriebenes Badehaus aus Ziegeln und Holz
sowie zwei Komposttoiletten mit Rädern stehen zur Verfügung.
Zwei schmale Schweine
Das ehemalige Bauernhaus - in seinen Kellerräumen lagern die
Kartoffelvorräte des Karlshofs bei idealen acht Grad und guter Lüftung -
wird seit Längerem saniert. Es soll als Gemeinschafts-und Seminarhaus
dienen. Momentan wird eine Heizung eingebaut. Zwei sichtbar gut gelaunte
Leute, ein Schlosser und eine Schlosserin - beide haben Umwelttechnik
studiert -, schneiden vor dem Haus die Rohre und Gewinde zurecht. Sie sind
zur solidarischen Hilfe auf den Hof gekommen und stellen dem Netzwerk ihre
handwerkliche Leistung gratis zur Verfügung. Wie auch die anderen reisenden
Handwerkerinnen und Handwerker, die hier im Sommer umfangreiche Steinmetz-,
Maurer- und Zimmermannsarbeiten gemacht haben, das originelle Badehaus
errichteten und einen künstlerisch gestalteten steinernen Brunnen. Eine
Schmiedin war da und hat Maueranker geschmiedet und eingezogen. Der
Karlshof muss für all das nur die verbauten Materialien bezahlen.
Auch die Tiere scheinen sich wohlzufühlen. Es gibt ein paar Schafe, eine
Schar Gänse, die aufrecht und aufgeregt dahinstrebt, und bedachtsam
scharrende und pickende Hühner in Braun und Weiß, nebst Hahn. Zwei schmale
Schweine mit dunklen Tupfen, Charles und Camilla, durchfurchen ihr Gehege
und heben freundlich die Köpfe, als wir näher treten. "Sie bekommen
gedämpfte Kartoffeln mit Gerste und Erbsen. Der Dämpfer war ein Geschenk
aus dem Netzwerk", erklärt Peter.
Im großen Garten werden Salat und Gemüse gehegt und geerntet, es wächst
reichlich für alle Bewohner und auch für die Gäste. Und für den Winter
werden Marmeladen, Sirupe, Gelees, Chutneys hergestellt und natürlich
Sauerkraut. Unter dem übervollen Birnbaum liegen verschwenderisch
hingebreitet große, gelbe Birnen im Gras. Es wirkt wie Hohn und Spott. Ohne
diese Eigenschaft und Gunst der Natur, die ja erst die Möglichkeit des
Mehrwerts bietet, wären nie die weltbeherrschenden Systeme entstanden.
Die beiden kleinen Katzen begleiten uns immer noch unverdrossen durch ihr
zukünftiges Jagdrevier. Peter zeigt uns einen alten Belarus-Traktor aus
Minsk und einen DDR-Traktor namens "Fortschritt". Er erzählt: "Wie ich den
angemeldet habe, meinte die Frau, die da im Kostüm hinter dem Tresen saß:
,Ach, der alte ,Fortschritt', den durfte ich früher nie fahren. Das war der
Männertraktor, und der ,Belarus' war der Frauentraktor.' " Er lacht, zeigt
auf Egge und Kultivator und führt uns dann in die teils desolaten
LPG-Gebäude. Zeigt einbrechendes Dachgebälk und große Hallen, die als
Remise dienen und als Lagerhalle für das Saatgut, für Getreide,
Hülsenfrüchte und die Sonnenblumenkerne.
Es gibt teils museale Sortiermaschinen für Hülsenfrüchte und Getreide und
den DDR- Mähdrescher namens "Hamster". Sogar eine rustikale Holztheke mit
Barhockern ist da, für die großen Sommerfeste. In hängenden weißen
Gewebesilos lagert hier nun mäusesicher die Ernte. Ein defekter Traktor
steht in der picobello geordneten Werkstatt. "Es gibt einen Maschinenbauer,
der kommt regelmäßig vorbei, zum Glück", sagt Peter.
Die Wahnwitzigkeit des Unternehmens wird angesichts der alten und
reparaturbedürftigen Gebäude und Arbeitsgeräte, des Dieselpreises und der
Materialkosten besonders deutlich. Spenden könnten hier gute Dienste
leisten. Also für Anleger mit Prinzipien das ideale Objekt. Garantiert
boni- und renditefrei!
Bei einem wohlgeratenen Spaghettiessen nebst hofeigenem Salat mit
kandierten Walnüssen und kühlem, naturtrübem Apfelsaft lernen wir auch
einige andere Hofbewohner flüchtig kennen. Sie sind wortkarg, scheinen aber
freundlich. Danach bereitet unser Gastgeber Kaffee zu und bittet uns ins
ruhige Wohn- und Spielzimmer. Es bietet Ausblick auf ein weites Feld und
hat - wie alle Räume dieses Hauses - einen soliden Berliner Kachelofen.
"Ihr könnt gern auch noch Apfelsaft haben", sagt Peter , "der ist übrigens
ein Beispiel für das, was ich bedürfnisorientierten Austausch nenne: Von
einer Kooperative bekommen wir Apfelsaft, wenn wir welchen brauchen, und
die wiederum kommen, wenn sie Kartoffeln brauchen. Es wird unabhängig
voneinander produziert, aber nichts gegengerechnet. Ein sehr angenehmes
Verhältnis.
Und jetzt erzähle ich einfach mal: Ich bin damals 2006 dazugestoßen über
Freunde. Ich dachte, es ist Zeit, was anderes zu machen, es ist Zeit, mit
den Gewohnheiten zu brechen, auf diesen Geldfluss da und auf den
Äquivalententausch zu verzichten und nach Alternativen zu suchen. Zu
schauen, wie wir anderweitig unsere Bedürfnisse befriedigen können, wie wir
zu einer bedürfnisorientierten kollektiven Organisierung kommen, zu einer
sozialen Vernetzung gegenseitiger Unterstützung … zu praktizierter
Solidarität. Wir hatten uns alle kritisch mit der kapitalistischen
Warenproduktion und dem Verwertungszusammenhang im Allgemeinen
auseinandergesetzt, insbesondere mit den Bedingungen und Absurditäten der
Nahrungsmittelproduktion im globalisierten Kapitalismus."
Kartoffel-Euphorie
Peter redet ernst, manchmal stockend, wenn er ein Wort auslässt, sagt er
manchmal einfach nur "so", oder er lächelt. "Und dann haben wir einfach
angefangen und haben uns in die Praxis gestürzt. Es ist zwar oft hart, aber
das Schöne für mich hier besteht darin, es ist einfach was Handfestes, was
Praktisches, bei dem was Sinnvolles rauskommt. Kartoffeln sind toll! Wir
erzeugen ein Grundnahrungsmittel, wir erzeugen es ökologisch. Ich kann es
zusammen tun mit Menschen, die ich mag. Und man hat hier genug Zeit,
Erfahrungen zu machen. Zu lernen, wie mache ich was, wann und warum. Also
man setzt sich einfach Ziele und guckt, wie sie erreichbar sind. Wir machen
jetzt das vierte Jahr Kartoffeln. Und wir wurden jedes Jahr besser.
2006 ist die NKL ja in Gang gekommen, als Versuch, eine alternative
Wirtschaftsform zu praktizieren, jenseits vom Markt, mit dem Ziel, sich so
weit wie möglich vom Geld zu lösen. Sich anders zu vergesellschaften, denn
darum geht es. Es gab von Anfang an relativ viel Feedback von Berlin, auch
einen größeren Interessentenkreis. Wir machten damals für diese Idee
Propaganda. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe ,Die globalisierte
Kartoffel', im Café Morgenrot in Berlin, wurde das Konzept vorgestellt.
Auch im Café der Agrarwissenschaftler in der Humboldt-Uni und später bei
der Vorbereitung des G-8-Gipfels. Im Frühjahr 2006 jedenfalls schickten wir
unseren ,Aufruf zur Selbstorganisierung' an Hausprojekte, Landprojekte, WGs
und politische Gruppen. An 150 bis 200 Menschen erst mal. Wir kamen auf
einen Bedarf von etwa 4,15 Tonnen Kartoffeln, die wir auf 0,7 ha
produzieren wollten. Bald schon gab es ein gemeinsames
Kartoffelkäferablesen. Und dann, im September 2006, der große Augenblick,
die Ernte! Es kamen überraschend viele Helfer. 4,5 Tonnen wurden geerntet.
2007 vergrößerten wir die Anbaufläche. 8,5 Tonnen war die Ernte. 2008 waren
es schon 15 Tonnen auf 1,5 ha. Und zum ersten Mal hatten wir auch alle
Saatkartoffeln aus eigener Produktion, die mussten wir ja anfangs kaufen.
Also wir haben zwei Tonnen Saatkartoffeln rein getan und 15 Tonnen
geerntet. Und 2009 haben wir auf 2 ha 18 Tonnen geerntet. Das ist doch eine
recht gutes Ergebnis, dafür, dass wir keinen Dünger in den Boden geben?!
Aber es ist natürlich nicht das Ziel, immer mehr zu ernten. Wir erheben den
Bedarf, und danach produzieren wir. Wir fragen im Netzwerk herum: Wer
braucht wie viele und welche Kartoffeln? Der Bedarf pro Nase im Jahr liegt
ja so bei 50 bis 55 kg." [Um 1900 war es fünfmal so viel; Anm. G.G.] "Wir
haben inzwischen verschiedene Kartoffelsorten, festkochende, mittelfeste
und mehlige. Sogar rote. Und die werden dann mit dem Hänger nach
Eberswalde, Potsdam und Berlin gebracht und eingelagert in
Kartoffelkellern; das sind Orte, wo du hingehen und deine Kartoffeln
abholen kannst. In Berlin ist es jetzt nicht mehr im Bethanien. Wir machen
neuerdings das Kartoffelcafé in Kreuzberg, in der Admiralstraße 17, im
Laden der KPD/RZ". [Hierbei handelt es sich um die Spaßpartei "Kreuzberger
patriotische Demokraten/realistisches Zentrum"; Anm. G.G.)
"Es gibt jetzt neben Kartoffeln auch noch Weizen, Buchweizen, Dinkel und
Erbsen vom Karlshof. Und neuerdings sogar Brot. Das Café ist jeden zweiten
Sonntag für NKL-Mitglieder geöffnet. Interessierte Menschen sind natürlich
herzlich eingeladen und können sich ganz unverbindlich alles erst mal aus
der Nähe angucken."
Wir möchten wissen, was denn eigentlich genau von den Nutznießern der
Kartoffeln erwartet wird. "Also der Beitrag, den wir erwarten, der wird
nicht definiert, wir hoffen auf gute Einfälle. Das kann zum Beispiel
Mithilfe sein im Kartoffelcafé. Es gibt eine Menge Möglichkeiten der
Mitarbeit und Hilfe. Je nach Zeit und Fähigkeit kann die sporadisch sein
oder auch regelmäßiger. Es gibt Leute, die sagen, okay, wir sind Mitglied
im Netzwerk. Und es gibt Leute, die machen halt einfach nur so mit. Wir
informieren im Internet über den Verteiler, was wir konkret brauchen. Also
das kann praktische Hilfe sein, Marmelade kochen, was mauern, oder wenns
ein Ingenieur ist zum Beispiel, der kann mit statischem Wissen helfen, mit
einer einfachen Konstruktionsskizze für den Bau von einem Silo.
Sprit für den Traktor
Wir brauchen vielfältige Sachen, auch gute Tipps oder Beratung von einem
Netztechniker. Aber natürlich kann sich auch jemand an den Kosten
beteiligen, wir brauchen ja Sprit für den Traktor, Material und
Ersatzteile, müssten einige arbeitserleichternde Geräte anschaffen, das
wird manchmal recht stressig. Vor anderthalb Jahren haben wir eine
Spendenkampagne gemacht und Geld gesammelt für den Traktor. Davon haben wir
den "Fortschritt" gekauft, den ihr vorhin gesehen habt. Aber wir möchten da
eigentlich gar keinen Druck ausüben.
Und die Kartoffeln, die wir verschenken, sollen auch keine Verpflichtung
sein, keine Vergütung für vergangene oder künftige Dienstleistungen. Wir
wollen eben keinerlei Äquivalententausch, wir wollen nicht den Wert von
Kartoffeln oder Leistungen taxieren und verrechnen müssen. Wozu? So müssen
wir auch nicht immerzu gucken: Ist das jetzt gerecht oder ungerecht? Wurden
wir übervorteilt? Das ist wahnsinnig erleichternd, wenn man das alles mal
hinter sich hat!
Es gibt auch Leute, die sich Kartoffeln abholen, ohne direkt etwas für uns
oder das Netzwerk zu tun. Es ist einfach so, es gehört mit zum Prinzip der
Selbstorganisation, dass man umdenkt und sich überlegt: Was kann ich tun?
Das und das wird vielleicht gebraucht, das und das wäre jetzt wichtig, die
und die Bedürfnisse hat der andere. Anfangs hatten die Kartoffeln ja so
eine Agitpropfunktion, inzwischen sind sie auch Symbol und Beweis dafür,
dass es geht, und eine Aufforderung dazu, dass sich andere
Produktionsbereiche gründen und selbstständig im Netzwerk engagieren. Das
passiert auch. Jetzt hat sich gerade eine nichtkommerzielle Brotbackgruppe
gegründet, die aus unserem Getreide Sauerteigbrote gebacken hat, sodass zum
ersten Mal auch Brot verteilt werden konnte im Kartoffelcafé."
Auf die Frage, ob er uns den theoretischen Ansatz noch mal genauer
erläutern kann, sagt er abwehrend und entschieden: "Also ich bin jetzt
keiner, der so beschlagen ist in Theorie, der diese Mehrwertsache vorträgt,
da bin ich der Falsche. Aber eins weiß ich genau, ich halte eine Produktion
um der Produktion willen, die nur produziert, um Geld zu machen, für
unsinnig. Und ich halte das derzeitige Wirtschaftssystem für falsch, für
ökologisch und sozial schädlich. Punkt! Das treibt mich schon um, dass
jeder sechste Mensch hungert und jede Minute so und so viele Kinder sterben
an Hunger. Es muss doch jedem klar sein, dass diese Art des Wirtschaftens
mörderisch ist. Und da finde ich, dass unser wertkritischer Ansatz gut ist,
dass wir in kleinem Maßstab aktiv werden, um einfach was zu versuchen, um
die Dinge zu ändern.
Eine Halle stürzt ein
Ich persönlich jedenfalls bin mit der Theorie nicht weitergekommen. Ich
löse das für mich lieber praktisch, auf so einer solidarisch-menschlichen
Ebene, und ich finde diese Versuche - auch von euch jetzt -, dem eine
theoretische Grundlage abzuverlangen, echt nicht gut! Wir haben es ja
immerhin innerhalb von vier Jahren geschafft, ein ziemlich autarkes kleines
Wirtschaftssystem mit einem sich entwickelnden Netzwerk kollektiver
Subsistenz aufzubauen. Und das ist nicht mehr theoretisch abgehoben,
sondern eine ganz handfeste Geschichte.
Wir kommen zurecht. Sicher, wir haben auch die klassischen kollektiven
Organisations- und Kommunikationsprobleme, wie andere auch. Wir haben
einmal in der Woche eine Art Plenum, wo alles Wichtige besprochen wird. Es
gibt natürlich auch Themen, wo keiner so richtig … unbeliebte Themen zum
Beispiel Verantwortung für die Gebäude. Entweder wir übernehmen die … oder
wir müssen eben sagen, gut, lasst diese Halle einstürzen. Bums! Aus! Dann
haben wir es eben gemeinsam nicht geschafft. Und es gibt manchmal so
Sachen, da fragst du dich: Warum mache ich mich hier zum Hampel? Aber wir
kriegen es immer irgendwie halbwegs hin, würde ich mal sagen. Und ich will
ja auch was anderes als nur Harmonie. Ich will auch was umsetzen.
Gut, während ich hier auf dem Acker herumfahre, haben andere an der Uni
promoviert. Es ist schon ein sozialer Abstieg, wenig Geld, wenig
Sicherheit, kein sozialer Status. Das ist vielleicht der Preis, den man in
dem Sinne bezahlen muss. Aber das ist eine Sache der Perspektive. Denn wenn
ich mir anschaue, wie es mir geht, dann würde ich sagen, ich fühle mich
wesentlich besser hier. Es gefällt mir, draußen zu arbeiten, es gefällt
mir, wofür ich arbeite. Und diese Freiheit, einfach etwas machen zu können,
die habe ich in diesem Kontext mehr als anderswo. Zum ersten Mal bin ich
nicht mehr so frustriert, nicht mehr so machtlos."
24 Jan 2010
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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