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# taz.de -- Autor zu Haitis Kolonialgeschichte: "Die letzten Tage der Sklaverei"
> Der New Yorker Autor Ned Sublette ist ein Kenner der Kolonialgeschichte.
> Nach dem Erdbeben fordert er ein besseres Verständnis für Haiti und
> engere Zusammenarbeit beim Wiederaufbau.
Bild: Der Flughafen in Port-au-Prince ist nach dem Anführer des Sklavenaufstan…
taz: Mr Sublette, die Handelsroute Havanna-New Orleans war
Hauptverkehrsader im Golf von Mexiko bis zum US-Embargo gegen Kuba, das
seit 1962 in Kraft ist. Wurde die haitianische Wirtschaft davon in
Mitleidenschaft gezogen?
Ned Sublette: Haiti war bereits vorher Opfer einer Blockadepolitik, die
weit schlimmer wiegt als das US-Embargo gegen Kuba. Aber es steht außer
Frage, dass das Embargo den freien Warenverkehr in der gesamten Region
beeinträchtigt hat. Die USA hatten nie gesteigertes Interesse an Haiti als
souveränem Staat. Auf Verlangen von Thomas Jefferson, der einmal von den
Haitianern als den "Kannibalen" sprach, wurde Haiti schon seit 1804, dem
Moment seiner Staatsgründung, von den USA boykottiert. Die Anerkennung
erfolgte erst 58 Jahre später unter Präsident Abraham Lincoln, der Haiti
als Schlupfloch betrachtete, wohin man Afroamerikaner abschieben könnte.
Warum wurde der Sklavenaufstand von 1791 unter Toussaint Louverture in
Saint-Domingue (wie Haiti damals hieß) als direkte Bedrohung für die
segregierenden Südstaaten der USA bewertet?
Die Sklaven haben sich gegen ihre Halter erhoben und diese getötet, um das
Unrechtssystem der Sklaverei insgesamt zu beseitigen. Vier der fünf ersten
US-Präsidenten waren Sklavenhalter, und sie haben die Abschaffung der
Sklaverei in Haiti als ernsthafte Bedrohung ihres Lebensstils angesehen.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Sklavenaufstand in Haiti und dem
Zeitalter der Aufklärung?
Dass der Sklavenaufstand unter Toussaint Louverture eine Begleiterscheinung
des Zeitalters der Aufklärung ist, hat zuerst der karibische Marxist C. L.
R. James in seinem Buch "The Black Jacobins" (1938) diskutiert. James
argumentierte mit Nachdruck, die haitianische Revolution als Teil der
Weltgeschichte anzuerkennen. Es gibt zahllose Bücher über die Französische
Revolution, die mit keiner Silbe erwähnen, dass die Geschehnisse in Haiti
ihre radikalste Errungenschaft sind: die vollständige Abschaffung der
Sklaverei. Toussaint Louverture kannte die Hauptwerke der Aufklärung. Die
von ihm angeführte Erhebung war kein blindwütiger Aufstand, sondern eine
zielgerichtete Aktion, die auf den Grundannahmen der Aufklärung beruht.
Welche Konsequenzen hatte der haitianische Sklavenaufstand?
Die Abschaffung der Sklaverei löste in Frankreich eine Rezession aus.
Frankreich und England verloren weit über 10.000 Soldaten in Haiti, und
diese traumatische Erfahrung beschnitt ihre Ambitionen, mit Plantagen, auf
denen Sklaven arbeiten, Geld zu verdienen. Schließlich brachte Napoleon die
Niederlage in Haiti auch dazu, Louisiana an die USA zu verkaufen. Er musste
seinen Plan, die Sklaverei in Haiti wiedereinzuführen, begraben und damit
auch die Idee von Louisiana als französischer Nachschubbasis.
Toussaint Louverture wird als tragische Gestalt charakterisiert, der sich
vom Unterdrückten zum Unterdrücker wandelt. Ist das ein Muster, das sich
durch die haitianische Geschichte zieht?
Ich sehe in der Figur Toussaint Louvertures keine Hybris. 1795 war die
haitianische Revolution bereits Geschichte. Saint-Domingue wurde zu einer
Art französischem Überseedepartement mit autonomen Status unter Führung
Louvertures. Dann schickte Napoleon 1802 eine riesige Streitmacht über den
Atlantik, ließ die Insel bis auf die Grundmauern niederbrennen, tötete
massenhaft Schwarze und nahm Louverture in Gefangenschaft. Er starb in
einem französischen Kerker. Falls Sie auf den ehemaligen haitianischen
Präsident und Armenpriester Jean-Bertrand Aristide ansprechen, dem
Korruption unterstellt wird, sollten Sie diese Anschuldigungen auch einmal
im Lichte einer finsteren Diffamierungskampagne betrachten, die es gegen
Aristide vonseiten der religiösen Rechten in den USA und ihrer
Helfershelfer gegeben hat.
Warum haben Sie den Aufstand gegen die Sklaverei einmal als soziales
Erdbeben bezeichnet?
Als die Erklärung der Menschenrechte das prärevolutionäre Haiti erreichte,
führte dies zu einer vollständigen Umwälzung der Gesellschaft.
Jetzt hat ein gewaltige Erdbeben Haiti dem Erdboden gleichgemacht.
Es gibt dort schlichtweg nichts, was die Effekte des Erdbebens hätte
mindern können. Das Beben wäre auch anderswo fatal gewesen, weil die
Erdstöße ungewöhnlich knapp unter der Erde lagen. Dass die meisten Gebäude
in Haiti nicht so gebaut sind, dass sie Erdstößen an sich standhalten
können, ist aber vor allem ein soziales Desaster.
Der haitianische Botschafter in der Bundesrepublik, Jean Robert Saget, hat
einen Marshallplan für sein Land gefordert. Wie könnte so ein Plan in einem
Land aussehen, in dem es kaum noch Industrie gibt?
Die Zeit für Experimente mit der freien Marktwirtschaft ist abgelaufen.
Zumal Haiti schon vor dem Erdbeben zu Tode privatisiert wurde. Jetzt muss
man ihnen beim Wiederaufbau eines funktionierenden Staates helfen. Haiti
muss mit ortsansässiger Arbeitskraft wiederaufgebaut werden, und nicht mit
einer korporativen Invasion, wie es sie in New Orleans nach dem Hurrikan
"Katrina" gab. Dort wurden ortsansässige Afroamerikaner vom Arbeitsmarkt
ausgeschlossen und Mitarbeiter mit politischen Verbindungen bevorzugt
eingestellt. Egal wie man zu Jean-Bertrand Aristide steht, ihm muss die
Rückkehr nach Haiti gestattet werden, und seiner Partei Lavalas muss
erlaubt werden, bei den nächsten freien Wahlen teilzunehmen.
Spielt die haitianische Revolution in der Region heute noch eine Rolle?
Das Bild der haitianischen Revolution ist vor allem in Kuba wirkmächtig.
Speziell im Osten Kubas ist das Andenken an die haitianische Revolution
tief verwurzelt. Dorthin gelangte 1803 auch ein Exodus haitianischer
Flüchtlinge, die vor den napoleonischen Schlächtern geflüchtet waren. Die
kubanische Unabhängigkeit wurde 1895 nicht zufällig zuerst im Osten
erkämpft. 80 Prozent der Kämpfer hatten schwarze Hautfarbe. Genau in dieser
Region begann auch Fidels Guerillakampf. C. L. R. James war es, der Fidel
Castro einmal mit Toussaint Louverture verglichen hat.
Man weiß von der reichhaltigen kubanischen Musikkultur, gibt es
Vergleichbares in Haiti?
Es war die haitianische Revolution, die in der ganzen Region eine
kulturelle Explosion auslöste! Ihre Auswirkungen sind überall zu spüren:
Haiti ist tief in kubanischer Musik verankert. Ich will Ihnen ein Beispiel
nennen: Der Vier-Achtel-Rhythmus, bam ba-bam ba-bam, in Haiti als cata
bekannt, heißt in Kuba cinquillo. Er ist die Basis von populären Genres wie
danzón und bolero. Es gilt als sicher, dass dieser Rhythmus auf
Saint-Domingue seinen Ursprung hatte. Zusammen mit den Trommeln pflanzte
sich das Symbol von Revolution und Widerstand fort. Überall auf den
Antillen wird das in den Gesellschaften reflektiert. Ob in Guadeloupe oder
auf St. Lucia. Es gibt dort den Brauch, dass sich Festgesellschaften im
Stile französischer Salons des späten 18. Jahrhunderts kleiden und Musik
spielen, von contredanse bis zu afrikanischen Trommeltänzen. Damit wird des
Moments der Wahrheit gedacht: die letzten Tage der Sklaverei in
Saint-Domingue.
Warum tut eine Auseinandersetzung mit haitianischer Kultur not?
Ein besseres Verständnis der haitianischen Kultur ist essenziell, denn in
den Massenmedien wird ein schiefes Bild gezeichnet. Im schlimmsten Fall
entsteht dabei das, was die Autorin Michelle Chen als "rassistisches
Spektakel" bezeichnet hat. So hat die New York Times behauptet, Haitis
Probleme seien durch "Voodoo" entstanden und durch mangelnde
Kindererziehung.
Wie denken Sie über die Entsendung von US-Truppen nach Haiti?
Ich hoffe für Präsident Obama, dass die jetzige Mission allein humanitären
Zwecken dient und den Frieden in Haiti herstellt. Am Effektivsten
arbeiteten bisher Hilfsorganisationen, die bereits vor dem Erdbeben in
Haiti tätig waren. Paul Farmers Partners in Health etwa. Oder die
kubanischen Ärztemission, die jetzt Unterstützung vom Katastrophendienst
der Henry Reeve Brigade erhält. Auch US-Medizinstudenten, die an der
kubanischen Hochschule Elam studieren, sind sofort ins Erdbebengebiet
gereist, um zu helfen.
Wäre die Erdbebenkatastrophe nicht ein guter Anlass für Kuba und die USA,
enger zusammenzuarbeiten?
Diese Möglichkeit besteht schon länger, aber die USA nehmen sie bis jetzt
noch nicht wahr.
26 Jan 2010
## AUTOREN
Julian Weber
Julian Weber
## TAGS
Haiti
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