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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Detroit, Detroit
> In den Armenghettos der großen Autostadt Detroit ist die
> Kindersterblichkeit so hoch wie im Entwicklungsland Sri Lanka. Eine
> Reportage
Bild: Kunstprojekt in Detroit: Aus Verfall wird Kunst
"Riechst du diesen Gestank?" Der etwa dreißigjährige Dave wohnt an der 7
Mile Road mitten in den Armenvierteln von Detroit. Die erstrecken sich in
einem zehn Kilometer breiten Gürtel zwischen Downtown Detroit mit seinen
charakteristischen Wolkenkratzern und den wohlhabenden weißen Suburbs.
Gegenüber von Daves Haus, gleich auf der anderen Straßenseite, sind fünf
Haufen Asche zu sehen. Dort standen Häuser, die vor zwei Monaten noch
bewohnt waren. "Heute Nacht hat wieder eins gebrannt. Jede Woche geht hier
irgendwo ein Haus in Rauch auf. Das machen die Leute, um die
Versicherungsprämie zu kassieren und an den Stadtrand ziehen zu können.
Hier will keiner mehr wohnen."
In den Armenghettos von Detroit lösen sich die urbanen Strukturen mehr und
mehr auf. In manchen Blocks sind von den einst an die dreißig Wohnungen nur
noch zwei oder drei bewohnt. Die Stadtviertel wirken verlassen, sind zu
Brachen geworden, in denen verkohlte Autos herumstehen. Die großen
Parkplätze sind leer, die stillgelegten Fabriken verfallen. Am leeren
Horizont überwuchern Gras und Bäume die Ruinen. Die Wohndichte wird
ländlich. Die Landschaft verwildert, hier und da kräht ein Hahn,
Heuschrecken zirpen. Die Natur erobert Detroit zurück.
35 Prozent des Stadtgebiets sind inzwischen unbewohnt(.1) Detroit hat
innerhalb von einem halben Jahrhundert fast eine Million Menschen(2) und
damit mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung verloren, eine auch in Zeiten
von Shrinking Cities extreme Entwicklung. Nur vor der Universität oder bei
Schulschluss gibt es noch etwas Leben. Ansonsten irren nur hier und da
vereinzelte Fußgänger über die Bürgersteige der großen Hauptstraßen
Woodward, Michigan und Gratiot Avenue. Die US-Immobilienkrise hat den in
Detroit seit Jahrzehnten anhaltenden Bevölkerungsschwund weiter verstärkt.
Die größte Stadt des US-Bundesstaats Michigan war mit am stärksten von der
Subprime-Krise betroffen. Diese Kredite mit den undurchsichtigen
Staffelzinsen sollten vor allem ärmere Schichten, die zuvor kein
Wohneigentum erwerben konnten, in die kapitalistische Konsumlogik
einbinden. Die folgende Zahlungsunfähigkeit von tausenden Kreditnehmern,
die die steigenden Monatsraten nicht mehr begleichen konnten, hat die Zahl
der Zwangsräumungen in die Höhe getrieben. Innerhalb von drei Jahren waren
davon nach Angaben der Stadtverwaltung allein in Detroit 67 000 Häuser
beziehungsweise Wohnungen betroffen.
In Detroit wiegt der Schaden, den die jüngste Finanz- und Wirtschaftskrise
angerichtet hat, besonders schwer. Der Zusammenbruch des Finanzsystems hat
auch einen Teil der Industrieproduktion mitgerissen hat. Die Bankenkrise
erschwerte die Möglichkeiten, an Kredite heranzukommen, die den Konsummotor
der US-Wirtschaft darstellen. Damit hat sie den drei großen US-Autobauern -
General Motors, Ford und Chrysler haben ihre Zentrale im Großraum Detroit -
einen schwerenSchlag versetzt. Die Autokäufe in den USA sackten in den
Keller. GM, Chrysler und Ford sind überschuldet, unterkapitalisiert und der
insbesondere japanischen Konkurrenz ausgesetzt. Ihr Überleben verdanken sie
nur dem Rettungsplan der US-Regierung. Kurzarbeit und Entlassungen wurden
damit jedoch nicht verhindert.
Zwischen Januar 2008 und Juli 2009 hat sich die Arbeitslosenquote in der
Stadt von 14,8 auf 28,9 Prozent fast verdoppelt. Der Detroiter
Stadtforscher Kurt Metzger bezifferte die tatsächliche Arbeitslosenquote
sogar auf mehr als 40 Prozent.(3) "Es wird immer schlimmer", erzählt Dave.
"Aber man muss ja irgendwie überleben. Ich schlage mich so durch, mache
alle möglichen Jobs und komme damit knapp über die Runden. Aber meine Frau
findet gar keine Arbeit. GM und Chrysler stehen kurz vor der Pleite, und
bei Ford läuft es auch nicht viel besser. Es gibt hier keine Fabriken
mehr." Die leerstehenden Wolkenkratzer im Stadtzentrum und die leeren
Fahnenmasten sind die neuen Symbole des Niedergangs.
Die Autostadt Detroit, in der einst Henry Ford die Massenproduktion am
Fließband erfand, hat sich immer wieder als äußerst anfällig für
Wirtschaftszyklen und für Veränderungen des kapitalistischen Systems
erwiesen.(4) Der Fordismus - zu dessen frühem Sinnbild der 1908 von Albert
Kahn erbaute Crystal Palace wurde - hatte die Stadt der Big Three zum
Weltzentrum des Industriekapitalismus gemacht. In der ersten Hälfte des 20.
Jahrhunderts zogen die auf Massenproduktion ausgerichteten Autowerke mit
ihrem immensen Bedarf an Arbeitskräften und vergleichsweise hohen Löhnen
viele Arbeitssuchende an: Schwarze, die vor dem Terror in den rassistischen
Südstaaten flüchteten, aber auch viele Griechen und Polen. Bis zum Zweiten
Weltkrieg ging es stetig bergauf. Und während des Kriegs galt Detroit, das
zum wichtigsten Lieferanten der US Army wurde, als "Waffenschmiede der
Demokratie".
Doch seit 1945 gingen sowohl die Einwohnerzahlen als auch die Arbeitsplätze
in Detroit beständig zurück. Ab diesem Zeitpunkt vollzog sich der Übergang
zu einem postfordistischen Stadium des US-Kapitalismus und zu neuen Formen
der Akkumulation von Reichtum. Die Industrieproduktion wanderte vom
Nordosten und Mittleren Westen der USA ab und konzentrierte sich nun mehr
im Süden, wo die Gewerkschaften schwächer und die Arbeitskosten geringer
waren.
Die veränderten Produktionsabläufe und die Tatsache, dass sich nun auch die
kleinen Leute ein Auto leisten konnten, führten im Großraum Detroit zu
einer zunehmenden Dezentralisierung. Am Stadtrand entstanden neue
Beschäftigungs- und Dienstleistungszentren, um die herum sich das Leben
organisierte. Angelockt von den neuen Arbeitsmöglichkeiten und vom
amerikanischen Traum vom eigenen Heim zogen die weißen Mittel- und
Oberschichten in die Suburbs.
Dass die weißen Mittelschichten mehr und mehr in die Vororte abgewandert
sind, hatte aber auch mit Angst und Rassismus zu tun. Erste Anzeichen einer
Deindustrialisierung gab es zwar schon in den 1950er-Jahren. Doch die
Mehrheit der weißen Bevölkerung nahm erst die Rassenunruhen von 1967, bei
denen Panzer eingesetzt wurden und 43 Menschen ums Leben kamen, zum Anlass,
die Innenstadt zu verlassen. Dramatisch aufgebauschte Schilderungen der
Ereignisse brachten Detroit den Namen Murder City oder Devil City ein - was
seine Wirkung als Selffulfilling Prophecy nicht verfehlte. Angst und
Rassismus sollten schließlich zu den wesentlichen Faktoren auch für die
wirtschaftliche Spaltung der Stadt werden.
## Schwarze Stadt, weiße Vorstadt
Detroit ist die einzige Großstadt der USA, in deren Stadtzentrum es weder
eine Gentrifizierung noch eine "Multikulturalisierung" gab. Es ist eine der
ärmsten Metropolen Nordamerikas - ein Drittel der Einwohner lebt unter der
Armutsgrenze - und eine Stadt, in der sich die Rassentrennung bis heute
gehalten hat - fast neun Zehntel der Einwohner sind Schwarze. Diese
"amerikanische Apartheid" trennt nicht wie in den meisten US-Städten ein
Stadtviertel vom andern, sondern den ganzen Stadtkern von den Suburbs.
Auf der 8 Mile Road, einer breiten Straße im Norden der Stadt, markiert der
Mittelstreifen eine Grenze zwischen zwei Welten. Auf der einen Seite liegen
die wohlhabenden Vororte mit großzügigen Villen und gepflegtem Rasen, auf
der anderen reihen sich Elendsquartiere aneinander, deren Bevölkerung unter
Arbeitslosigkeit und den Folgen des selektiven privaten Gesundheitssystems
leidet.
Im Inneren der Stadt erinnern die durch die Straßen irrenden Hinkenden und
Wohnungslosen an Samuel Becketts Held Molloy, der mit seiner Krücke und
seinem Fahrrad immer weitergeht. Detroit ist die Stadt der vollgestopften
Einkaufswagen und der Rollstühle, die sich an den Straßenrändern langsam
vorwärtsbewegen. Die Gesundheitsindikatoren gleichen denen eines
Entwicklungslandes. Die Kindersterblichkeit liegt bei 18 pro tausend,
dreimal so hoch wie im Rest der USA, auf demselben Niveau wie Sri Lanka.
"Wenn du deine Arbeit verlierst, verlierst du deine Krankenversicherung",
erklärt Dave. "Wer erst mal arbeitslos ist, geht normalerweise auch nicht
mehr zum Arzt. Du kannst dich zwar irgendwo an der nächsten Ecke behandeln
lassen. Das kostet zwanzig Dollar, aber ein Familienangehöriger, der Arbeit
hat, muss für dich bürgen. Und mehr als eine Routinebehandlung kannst du da
nicht erwarten, und du kommst als Letzter dran." Mit der gestiegenen
Arbeitslosenquote wird sich die Gesundheitssituation aller
Wahrscheinlichkeit nach noch mehr verschlechtern.
Problematisch ist auch die ringförmige Anlage der Stadt. 86 Prozent der
Arbeitsplätze liegen in der Peripherie, ein Viertel der Einwohner hat kein
Auto (offiziellen Angaben zufolge ist es ein Drittel, aber viele fahren
ohne Versicherung und tauchen deshalb in der Statistik nicht auf). In
Detroit, das ganz und gar auf das Auto zugeschnitten ist, wird schon die
Überquerung der breiten Straßen zur Mutprobe. Mobilität wird hier zu einer
sozialen Frage. Wer sich nicht auf die Unterstützung von Bewohnern der
äußeren Ringe verlassen kann oder sich mit anderen ein Auto teilt, greift
auf das Fortbewegungsmittel der Armen zurück: Autobus mit Fahrradträger.
David Bing, der neue Bürgermeister dieser nahezu bankrotten Stadt, hat
allerdings drastische Einschnitte im öffentlichen Nahverkehr vorgenommen:
113 Busfahrer wurden entlassen, mehrere Linien gestrichen, die übrigen
Busse fahren jetzt seltener.(5) Die Organisation des Raumes trägt somit das
Ihre zu den sozialen Ungleichheiten bei, indem sie einen Teil des
städtischen Arbeiterklasse wie in einer Enklave einschließt.
Die Organisation des städtischen Raumes sorgt auch dafür, dass den Armen
der Zugang zu Gesundheitsversorgung weiterhin verwehrt bleibt. Um mehr zu
verdienen, haben sich viele Allgemeinärzte in den wohlhabenden Vorstädten
niedergelassen, weit weg von den mehr oder weniger zahlungsunfähigen Armen.
Und in Detroit gibt es zwar medizinische Spitzenforschung und einige
ultramoderne Krankenhäuser, aber auch davon haben nur die reichen Bewohner
der Suburbs etwas.
## Kindersterblichkeit wie in Sri Lanka
Deshalb wird die von Präsident Obama versprochene und geplante
Gesundheitsreform für weite Teile der Bevölkerung zu einer Überlebensfrage.
Louise hat früher bei der Stadtverwaltung gearbeitet. Wir treffen sie in
dem heruntergekommenen Schwarzenviertel East Side. "Ich bin 74. Ihr könnt
euch vorstellen, dass ich mir wegen der Diskussionen über die
Krankenversicherung Sorgen mache. Ich habe für Obama gestimmt, weil ich
dachte, er schafft es. Ich brauche die Reform nämlich wirklich. Mein Arzt
hat mir eine Computertomografie verschrieben. Medicare (die staatliche
Krankenkasse für die über 65-Jährigen) übernimmt 80 Prozent der Kosten.
Aber die restlichen 20 Prozent sind immer noch viel zu viel für mich. Ich
habe schon Mühe, meine Medikamente zu bezahlen. Soll ich jetzt entscheiden,
ob ich entweder auf meine Medizin oder auf das CT verzichte? Ich habe 29
Jahre gearbeitet und Steuern gezahlt. Ich finde das ungerecht."
Detroit ist eine Bastion der Demokraten, 97 Prozent der Wähler haben hier
für Obama gestimmt. Sein Sieg am 4. November 2008 hat große Hoffnungen
geweckt. Noch ein Jahr danach erinnert sich Luther Keith lebhaft an diesen
so besonderen Tag für die Schwarzen von Detroit. Er ist der Präsident des
Vereins Arise Detroit(6), der den Bewohnern der Armenviertel kostenlose
Gesundheitsversorgung und schulische Unterstützung anbietet. "Überall wurde
gefeiert. Es war unglaublich. Wir hatten das Gefühl, jemandem aus unserer
Familie sei etwas ganz Wunderbares gelungen." Und noch ein Vergleich fällt
ihm ein: "Wie im Juni 1938, als Joe Louis Max Schmeling geschlagen hat!"
Der schwarze Boxer wurde zur Symbolfigur der Schwarzenbewegung - eine
Statue in der Stadt erinnert an ihn -, nachdem er den in Nazideutschland
als Held gefeierten Max Schmeling besiegt hatte.
Aber auch hier, im Zentrum der US-Bürgerrechtsbewegung, war eher das
Wirtschafts- und Sozialprogramm des demokratischen Kandidaten
wahlentscheidend als seine Herkunft. "Wir haben nicht für Obama gestimmt,
weil er ein Schwarzer ist, sondern wegen seiner Pläne, vor allem wegen
seiner Entschlossenheit, die Krankenversicherung zu reformieren", betonen
die Leute immer wieder. Der Sieg der Demokraten in Macomb County wirft ein
klares Licht auf die wirtschaftlichen und sozialen Beweggründe der Wahl im
Norden Detroits.
Die Leute in Detroit bringen dem neuen Präsidenten nach wie vor viel
Wohlwollen entgegen, obwohl sie sich wegen der vielen Hindernisse, die auf
dessen Weg liegen, Sorgen machen. "Solche Sachen brauchen Zeit. Obama hat
in den letzten Monaten schon mehr geschafft als jeder Präsident vor ihm",
versichert Keith. "Aber die Arbeit ist natürlich noch nicht erledigt. Und
den Menschen, die ihren Job verloren haben, fällt es natürlich schwer zu
glauben, dass alles gut wird." Die Bewohner von Detroit verfolgen genau,
wie Obama mit den Lobbyverbänden, den Republikanern und der Opposition in
seiner eigenen Partei Kompromisse schließt. Bei vielen seiner Wähler ist
von der Hoffnung nur noch geduldiges Warten übrig. Keith warnt: "Wenn er
scheitert, wird die Enttäuschung riesig."
Alle Hoffnungen richten sich inzwischen auf dem Staat, denn die Stadt hat
keinen Handlungsspielraum mehr. Der Einbruch der Steuereinnahmen - als
Folge der Kapitalflucht und weil die Mittelschicht wegzieht - bringt
Detroit an den Rand der Pleite. Der demokratische Stadtrat scheint
außerstande, die zunehmende Verarmung zu stoppen. Die Schaffung eines
integrierten metropolitanen Raumes wird vermutlich ein Wunschtraum bleiben.
Die Bewohner der Vorstädte weigern sich, den Reichtum ihrer Viertel zu
teilen. Und die schwarze Stadtbevölkerung hat ihre politische Souveränität
zu hart erkämpft, um sie an eine Metropolenverwaltung abzugeben, die sich
um ihr Schicksal doch nicht kümmern würde.
Trotz der katastrophalen Situation gibt es weder Streiks in den Betrieben
noch Demonstrationen auf der Straße. Nachdem ihnen der Kasinokapitalismus
so zugesetzt hat, versuchen viele Arme ihr Glück in den Spielsälen von
Detroit. Diese wurden Ende der 1990er-Jahre mit Steuerbefreiung gebaut -
als wichtigste entwicklungspolitische Maßnahme der Stadt. Seine
fortschrittlichen Traditionen hat Detroit ohnehin längst hinter sich
gelassen. Dazu gehörten die großen Streiks der Arbeiter von 1937 und 1945
ebenso wie die Wahl des ersten schwarzen Bürgermeisters(6) Coleman Young
1973, und früher schon der Kampf gegen Sklaverei und für Bürgerrechte, die
Aufstände von 1833, 1918, 1943 und 1967, die Entstehung der Black Power.
Selbst die United Auto Workers, die mächtige amerikanische
Automobilgewerkschaft, hat den Kampf aufgegeben und den Bossen von General
Motors und Chrysler zugesagt, in Krisenzeiten nicht mehr zu streiken.
Niemand hier scheint sich gegen das System aufzulehnen, das Detroit wie
keine andere Stadt zu verkörpern scheint. "Der Kapitalismus, das ist
Amerika. Er hat unsere Stadt gebaut. Das Musiklabel Motown, die Autos, die
die Leute fahren, das ist der Kapitalismus. Der Kapitalismus ist alles -
alles, was du hast, und in gewisser Weise auch alles, was du nicht hast.
Das ist wie die Luft, die du atmest. Du kannst sie nicht ändern."
Die Unternehmen von Techtown, dem großen Forschungs- und Technologiepark
von Detroit, setzen ebenso wie die Politiker auf "grüne Ökonomie". Die
Elite wollte immer schon an eine blühende Zukunft glauben: Innovationen,
neue Wachstumszyklen, ein ständiger Orkan "schöpferischer Zerstörung" im
Sinne Joseph Schumpeters. Detroit lässt sich immer wieder von diesem
Optimismus anstecken. Davon kündet das Renaissance Center an der Stelle, wo
sich einst die Keimzelle der Stadt befand. Henry Ford II. gab den Bau
dieses Wolkenkratzers nur vier Jahre nach den Aufständen von 1967 in
Auftrag. Seit 1995 hat GM hier seine Firmenzentrale. Geschäftsleute sitzen
beim Mittagessen im Restaurant oben im 73. Stock. Vor ihren Augen entfaltet
sich ein Panorama des Ruins, eine Landschaft der Vergangenheit, in der sich
Spuren der Gewalt abgelagert haben.
"Für viele Amerikaner ist Detroit gleichbedeutend mit Ground Zero",
behauptet Keith. Kein Ground Zero, in dem noch manchmal ein Funke
aufflackert. Auch kein verstörendes Ereignis. Sondern ein allmählich
angesteuerter Nullpunkt, ein Rückwärtszählen, das nie zu enden scheint.
Detroit als Produkt eines Systems, das zuerst und vor allem zu der
Notwendigkeit zwingt, immer weiterzumachen. "Der Optimismus ist die einzige
Lösung, die wir haben", sagt Keith lächelnd.
(1) "Detroit Free Press, 7. September 2009.
(2) 1950 hatte Detroit 1,8 Millionen Einwohner, heute sind es je nach
Zählung zwischen 912 062 und 777 493. An dieser für US-Verhältnisse
außergewöhnlichen Diskrepanz entzünden sich immer wieder heftige
Auseinandersetzungen. Schließlich bemisst sich an der Einwohnerzahl nicht
nur das politische Gewicht der Stadt, sondern auch die Höhe der ihr
zustehenden Subventionen.
(3) Bei der Berechnung der Arbeitslosenquote werden nur die bei den
Arbeitsämtern registrierten Arbeitssuchenden berücksichtigt. Siehe auch den
Artikel "Nearly half of Detroit's workers are unemployed. Analysis shows
reported jobless rate understates extent of problem" in "Detroit News vom
16. Dezember 2009.
(4) Beispielsweise hat die Krise von 1929 bei Ford zu einem
Arbeitskräfteabbau von 71 Prozent geführt (laut André Kaspi: "Les
Américains", Paris (Seuil) 1999).
(5) Die Stadt Detroit ist mit 300 Millionen Dollar verschuldet, 2009 betrug
das Defizit 80 Millionen Dollar; vgl. "Detroit Free Press, 11. September
2009.
(6) Arise steht für Activating Resources and Inspiring Service and
Empowerment (siehe [1][arisedetroit.org]).
(7) Der erste schwarze Bürgermeister von Detroit (1973 bis 1993) war
Mitglied der Demokratischen Partei. Er unterstrich die schwarze Identität
seiner Stadt, indem er Straßen umbenannte und Denkmäler zur Erinnerung an
wichtige Figuren der afroamerikanischen Bewegung, wie zum Beispiel Harriet
Tubman, errichten ließ.
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz
[2][Le Monde diplomatique] Nr. 9089 vom 15.1.2010
28 Jan 2010
## LINKS
[1] http://arisedetroit.org/
[2] http://www.monde-diplomatique.de/
## AUTOREN
A. Popelard
P. Vannier
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
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