# taz.de -- Nachruf J. D. Salinger: Eisläufer im Central Park | |
> "Der Fänger im Roggen" machte ihn zum Schriftsteller mehrerer | |
> Generationen. Nun ist der scheu schräge Jerome David Salinger gestorben. | |
Bild: Roggenähre. | |
Wenn die Rede auf J. D. Salinger kam, dann als Ausnahme. Wollte man | |
Parallelen suchen, dann vielleicht bei Sylvia Plath oder Diane Arbus, was | |
das Gefälle zwischen Voraussetzung und Ausführung des Werks betrifft, die | |
Unwahrscheinlichkeit in seiner Zeit. Es war für einen Freigeist wie ihn | |
gewiss nicht leicht, in der McCarthy-Ära vorzudringen zur amerikanischen | |
Öffentlichkeit. Salingers einziger Roman, "The Catcher in the Rye", | |
erschien pünktlich 1951: die gehetzte Stimme des Schulversagers Caulfield, | |
der in disparaten Anekdoten von den Abgründen des Menschen berichtet und | |
sich auf diese Weise die Kameraderie des Lesers verdient. Die letzte | |
Erzählung des Schriftstellers erschien als Zeitschriftentext 1965. Seitdem | |
blieb Salinger so stumm wie in Deutschland nur Wolfgang Koeppen und so | |
unsichtbar wie in den USA sonst nur Thomas Pynchon. | |
Die Stimme Holden Caulfields ließ die - bald internationale - Lesergemeinde | |
überhören, dass J. D. Salinger eine Generation älter war als seine | |
Herumtreiberfigur, der er einen angelsächsischen Namen gegeben hatte | |
unterhalb des Mindestmaßes an Sex-Appeal. Salinger, geboren am 1. Januar | |
1919, Sohn eines jüdischen Fleischimporteurs, war als junger Autor ein | |
echter Kriegsveteran, der an fünf amerikanischen Frankreichfeldzügen | |
mitgewirkt hatte und von dem seine Tochter Margaret später berichtete, er | |
habe seine Uniform aufbewahrt und fahre in Cornish, Massachusetts noch | |
immer einen Jeep. Salinger wurde gewiss der Schriftsteller mehrerer | |
Generationen, nur der seiner eigenen nicht. | |
Nachdem er Caulfield hatte beschließen lassen: "So. Mehr erzähle ich euch | |
nicht", erfand Salinger Stück für Stück die Glass-Familie, kinderreiche | |
Bohemiens, die älteren Brüder Buddy und Seymour einstmals Radio-Show-Stars | |
der ersten Stunde, die jüngeren deren unglückselige Nachfolger. Das | |
Wohnzimmer in Manhattan - Klavier, zusammengeklappte Tischtennisplatte, | |
Aquarium, zwei leere Vogelkäfige, die Tapeten mit Kindergenie-Urkunden | |
dekoriert - ist, abgesehen vom Badezimmer, Schauplatz der Erzählungen, die | |
Mitte der Fünfzigerjahre spielen. Unwahrscheinlich, aber ausgerechnet der | |
Ausreißerroman "Der Fänger im Roggen" (deutsch zuerst 1954) war bereits | |
Salingers Mutter gewidmet gewesen, und Mrs. Glass in ihrem Kimono, genannt | |
Bessie, wurde dann Salingers zentrale Figur, eine fein gezeichnete | |
Beobachterin von Melodramen und Sinnkrisen, die ihre jüngsten Kinder am | |
Anfang ihres Erwachsenenlebens mit fruchtlosen Ratschlägen überzieht. | |
Franny und Zooey sind die ersten Mittelklasse-Drop-outs der amerikanischen | |
Literatur; das Arbeitsleben war Salingers Thema nicht. Als die Drogen | |
dazukamen - Allen Ginsberg und Ken Kesey als Diskursmacher -, war Salinger | |
bereits ein Klassiker, hip wie Hesse. | |
Salinger hatte sich mit seiner Familie zurückgezogen aufs Land in Neu | |
England, und hier begann die andere Geschichte, der ewige Rumor des | |
Giganten im Versteck, die Tragödie einer niemals endenden Erwartung, der | |
der Schriftsteller zu entgehen trachtete, indem er den Kokon um seine | |
Liebsten immer enger spann. Seine Bekenntnisse über die Jahrzehnte | |
umfassten Christian Science, Hindu, Scientology, Zen; rigide Diäten und | |
Homöopathie. Wer auch immer in seinen Bannkreis geriet oder da | |
hineingelockt wurde, musste sich der jeweils neuen Praxis unterwerfen. | |
Salinger wurde dort eine Sekte für sich. | |
Holden hatte er einen älteren Schriftstellerbruder namens D. B. mitgegeben, | |
der seinen Kriegsdienst als Fahrer eines "Cowboygenerals" herumbringt. Auf | |
Heimaturlaub verrät er, "wenn er einen hätte erschießen müssen, hätte er | |
gar nicht gewusst, in welche Richtung er schießen sollte. Er sagte, bei der | |
Armee gibt es praktisch genauso viele Ärsche wie bei den Nazis." Die | |
Einlassung wäre weniger prekär, hätte Jerome Salinger nicht bei seinem | |
letzten Kriegseinsatz - Hilfe bei der "Entnazifizierung" in Deutschland - | |
eine gleichaltrige gebürtige Frankfurterin geheiratet, Sylvia Welter; es | |
war die letztlich kürzeste seiner insgesamt drei Ehen. Ausgerechnet mit ihr | |
ließ er sich nieder im fränkischen Nazinest Gunzenhausen - Special | |
Investigator, CIC, CAF 10, Bewohner der Villa Schmidt -, ein weiteres, fast | |
spurenloses Kapitel dieses Mannes, der wohl gut Deutsch sprach; aber man | |
weiß nicht, wie er es eingesetzt hat, und für sein Werk spielt es keine | |
Rolle. | |
Die Schuldfrage jedenfalls hat Salinger, als Anwalt der Unschuld, so | |
zusammengefasst: | |
Holden, todmüde vom Vagabundieren, findet einen Schlafplatz bei seinem | |
Lehrer Antolini. Dort wacht er auf, während der Lehrer ihm über den Kopf | |
streichelt. Wiederum geflohen und restlos erschöpft, zeichnet Holden in | |
seinem Kopf dennoch das Bild eines gütigen und weitsichtigen Lehrers, ja er | |
fragt sich, ob er die Situation nicht sogar missverstanden habe, und dringt | |
zu folgender Überlegung vor: "Also, ich dachte sogar schon, dass er, selbst | |
wenn er ein Warmer war, doch auf jeden Fall sehr nett zu mir gewesen war", | |
wie es bei Eike Schönfeld heißt, der Salingers Werk zuletzt ins Deutsche | |
übertragen und entschlackt hat. | |
Dass Salinger Kult mit der Unschuld trieb, so viel ist klar, aber die | |
Schlüsse, die er für sich selbst daraus zog, überraschen schon. Im April | |
1972 begann er Liebesbriefe an eine Studentin zu schreiben, die er - | |
schmal, großäugig, clownhaft - im "Magazin" der New York Times entdeckt | |
hatte. Joyce Maynard hatte einen pessimistischen Essay über ihre Generation | |
verfasst und wurde per Coverfoto zu deren Inkarnation. Im Herbst überredete | |
er die 18-Jährige, ihr Studium aufzugeben und bei ihm einzuziehen, ein | |
idealer Fund für den 53-jährigen Einsiedler: Sie war intelligent und | |
jungfräulich, Kind geltungssüchtiger Eltern und vor allem eine mit Fanpost | |
überhäufte Autorin, die sich aussuchen konnte, mit wem sie einen | |
Buchvertrag abschließen wollte. | |
Das war es, was "Jerry" Salinger verhinderte, indem er ihr das Bild einer | |
gierigen Medienwelt zeichnete, die am Ende nichts anderes zu bieten habe | |
als das Zerrbild eines jeden Werks und seines Schöpfers. Nach wenigen | |
Monaten von Salinger brutal verstoßen, wartete Joyce Maynard ein | |
Vierteljahrhundert, bis sie mit ihrem Buch "At Home in the World: A Memoir" | |
mit dem selbst ernannten Guru abrechnete. Literatur, nachgelebt: Holdens | |
Verliebtheit in seine magische jüngere Schwester Phoebe wurde im Holzhaus | |
am Ende der Straße von Cornish zur leibhaftigen Karikatur paternalistischer | |
Neigungen, das Liebesleben des ungleichen Paares erschüttert von den | |
Vaginalkrämpfen des Mädchens, das Salinger unter Einsatz selbst | |
praktizierter esoterischer Medizin "zu heilen" versuchte, natürlich | |
vergeblich. | |
Was sein eigenes Werk anging, versuchte Salinger, bis ins Detail die | |
Kontrolle zu behalten. Seine Bücher haben keine Vorworte, keine | |
Klappentexte und enthalten keine Notiz über den Autor; sie haben keine | |
Titelillustrationen; sie sind hinten beschriftet wie vorn. Das war sein | |
Markenzeichen von Reinheit, durchgesetzt bis in die billigsten | |
Taschenbuchreihen, bis in die fremdsprachigen Lizenzausgaben. Man nahm es | |
als Leser (und sollte das auch) als Zeichen der Reinheit, unwiderleglicher | |
Modernität. | |
Seine merkwürdige Melange von Kleingeisterei und Größenwahn, Familienkult | |
und Weltfurcht findet sich in nuce in der Widmung von "Franny and Zooey", | |
erschienen im September 1961: "So nah wie möglich im Geiste Matthew | |
Salingers, einjährig, wie er einem Picknick-Kameraden eine kühle Limabohne | |
aufnötigt, dränge ich meinen Lektor, Mentor und (der Himmel sei ihm gnädig) | |
engsten Freund, William Shawn, genius domus des New Yorker, Liebhaber der | |
Totale, Beschützer der Produktionsarmut, Verteidiger hoffnungslosen | |
Bombasts, dem unbegründet Bescheidenen unter allen geborenen | |
Künstler-Lektoren, dieses ärmlich aussehende Buch anzunehmen." | |
Literarisches Urviech | |
Salingers Werk ist überschaubar geblieben, ein Roman, ein Erzählungsband | |
mit "Nine Stories", zwei Sammelbände mit zwei längeren Erzählungen um die | |
Glass-Familie. Holden Caulfield stellt die vertikale Perspektive dar, eine | |
ständige Flucht, ein Leben auf der Straße aus Furcht vor dem sozialen Tod. | |
Die Glass-Familie ist horizontal ausgerichtet, der Familienroman aus der | |
Badewanne und von der Couch aus betrachtet. Alle Werke verbindet ein zum | |
Inzest neigender Eros. | |
J. D. Salinger galt als literarisches Original, ein Urviech primärer | |
Empfindungen: ein Junge, der eine Hure ins Hotelzimmer bestellt und - was | |
denn sonst - nur mit ihr reden möchte; das prägt sich ein. Was aber den | |
"Fänger" mit den "Glass"-Erzählungen verbindet, ist das gigantische System | |
kultureller Referenzen, im "Fänger" noch sortiert nach supertoll und | |
langweilig (also Kür und Pflicht); bei der Familie Glass als Triumph der | |
Stadtbibliothek über das Erwerbsleben. Hinter dem Eskapismus lauerte der | |
Anspruch auf kulturelle Hegemonie, auf den besten Literaturtipp, auf die | |
bizarrste Art der Ich-Findung: "Aah, da hebt die kleine Franny drauf ab. An | |
dem Punkt legt Klein-Franny die Bibel zu den Akten und läuft geradewegs | |
über zu Buddha, der den Vögeln unter dem Himmel nichts Böses anhängt." | |
Er war gegen die Stadt und für die Natur, gegen den Ehrenkodex und für das | |
Experiment. Natürlich hätte es J. D. Salinger nicht gegeben ohne Rousseau | |
und Thoreau, ohne Emily Dickinson und Walt Whitman, aber seine Synthese | |
zeitgenössischer Reverien war einzigartig. Man meinte beim Lesen seinen | |
Atem zu spüren, war gefesselt, betört und benebelt. Seine Prosa barg | |
Travestien und Genderzweifel. Salinger war ein androgyner Stilist. Seine | |
Figuren waren leicht wie die Eisläufer im Central Park, mit tonnenschweren | |
Problemen am Hals. | |
Am Mittwoch ist Salinger in seinem Haus in New Hampshire gestorben. Man | |
wird ihn nicht wirklich vermissen, weil er seit Jahrzehnten abwesend war, | |
einer der ersten Schriftsteller, dessen Werk als Kraftakt gegen das | |
Fernsehen gelesen werden kann: "Salinger geht ins Kino" wäre der mögliche | |
Titel einer kommenden Studie. Er war so altmodisch wie die Filme seiner | |
Jugend, zeitlebens aufgebracht vom Verrat durch die Wirklichkeit. | |
30 Jan 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulf Erdmann Ziegler | |
## TAGS | |
J. D. Salinger | |
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