# taz.de -- Pädophilie in der Klosterschule: Die Sehnsucht des Pater S. | |
> Die Missbrauchsfälle am Berliner Canisius-Kolleg haben unseren Autor, | |
> einen Exklosterschüler, an einen Lehrer erinnert, den er gern vergessen | |
> hätte. | |
Bild: Das Berliner Canisius-Kolleg: Schauplatz sexuellen Mißbrauchs von Schül… | |
BERLIN taz | Vielleicht war es nur Glück, dass wir nicht die Opfer von | |
Pater S. wurden. Opfer eines Mannes mit pädophilen Neigungen. Opfer eines | |
sexuellen Missbrauchs, der so einfach möglich gewesen wäre. Denn wir waren | |
die Schüler von Pater S., er war unser Klassenlehrer in der fünften und | |
sechsten Klasse an diesem Franziskanergymnasium in Süddeutschland Ende der | |
Siebzigerjahre. Es war knapp. Das denke ich heute. Lange Zeit wusste ich | |
nicht, wie knapp es war. | |
Das Milieu einer Klosterschule in den späten Siebziger- und frühen | |
Achtzigerjahren war ein ganz spezielles - und vergangene Woche wurde | |
öffentlich, was sich genau in dieser Zeit am Canisius-Kolleg der Jesuiten | |
in Berlin, einer Eliteschule der Hauptstadt, zugetragen hatte. Nach | |
bisherigem Wissen missbrauchten zwei Jesuiten in dieser Zeit mindestens 15 | |
Jugendliche, meist Jungen im Alter von etwa 13 bis 16 Jahren, und das | |
jahrelang und systematisch, wie der heutige Rektor des Gymnasiums, Pater | |
Klaus Mertes, erklärt hat. | |
Für manche ist an dieser Stelle die Geschichte schon fast vorbei: So ist | |
sie halt, die katholische Kirche. Wo das Zölibat den Geistlichen ein Leben | |
ohne Sexualität abfordert, lockt sie allzu viele Männer an, die mit diesem | |
Grundbedürfnis des Menschen per se Probleme haben und es verdrängen zu | |
können glauben - oder eben solche Männer, die im Laufe ihrer Jahrzehnte als | |
Ehelose eine gestörte Art von Sexualität entwickeln, die ihre scheinbare | |
Erfüllung nur in einem Verbrechen an Kindern und Jugendlichen findet. | |
Das aber wäre nur die eine Hälfte der Geschichte. Denn fairerweise sei | |
erwähnt, dass sich die katholische Kirche in Deutschland seit Jahren | |
zumindest in ihrer Spitze ernsthaft darum bemüht, pädophile Übergriffe | |
durch Geistliche zu verhindern und zu ahnden. Und auch der Rektor des | |
Canisius-Kollegs engagiert sich, so scheint es bisher, offensiv für die | |
Aufklärung der nun öffentlich gewordenen Missbrauchsfälle, obwohl sie lange | |
vor seiner Zeit an diesem Gymnasium geschahen und das alles, so oder so, | |
dem Ruf seiner Schule schaden wird. Das ist ehrenwert. Ein Happy End aber | |
wird es nicht geben. | |
Bei Pater S. dagegen gab es das schon. Zumindest ein halbes. | |
Pater S. war ein drahtiger, etwas schlaksiger Mann, der in seiner braunen | |
Franziskanerkutte immer ein wenig zu versinken schien. Als wir, etwa zehn | |
Mädchen und zwanzig Jungen, ihn in der fünften Klasse an der für uns alle | |
neuen Schule am Waldrand zum Klassenlehrer bekamen, war er kurze Zeit so | |
etwas wie ein Held für uns: mit Ende 20, Anfang 30 relativ jung, dynamisch, | |
ja brennend vor pädagogischem Eifer. Er war Mathematiklehrer und brachte | |
uns meiner Erinnerung nach mühelos ziemlich schnell ziemlich viel bei. | |
Das allerdings zu einem Preis, der uns alle später erschaudern ließ. Pater | |
S. hatte uns einen fast militärisch anmutenden Drill beigebracht, durch | |
Autorität, aber auch durch Begeisterungsfähigkeit, die er uns zugleich | |
vermitteln konnte. Als einmal während seines Unterrichts eine, sagen wir, | |
lässigere 68er-Lehrerin in unseren Klassenraum hineinplatzte, sprangen wir | |
wie ein Mann auf und riefen: "Guten Morgen, Frau O…!" Ich erinnere mich, | |
dass sie kurz irritiert wirkte - und später erzählte sie einigen von uns, | |
dass sie sich durch unser militärisches Aufspringen kurzzeitig veräppelt | |
gefühlt habe. Wir dachten uns aber gar nichts dabei, das hatten wir bei | |
Pater S. schlicht so gelernt. | |
Äußerlich betrachtet kamen wir fast alle aus mehr oder weniger | |
unproblematischen Mittelstandsfamilien, oft ziemlich spießig und | |
konservativ - aber zumindest von unserer sozialen Herkunft her brachten wir | |
wenig Sprengkraft mit in die Schule. Da fiel das Unterrichten nicht so | |
schwer, zumal wir eine Schülergeneration waren, der in der Regel eher | |
Autoritätsgläubigkeit vom Elternhaus eingebläut worden war als | |
Widerspruchsgeist. Dazu kam der immense Druck, den Pater S., mal offener, | |
mal subtiler, aufbauen konnte. Wir hätten damals in unserer Naivität für | |
unseren so geliebten wie gefürchteten Klassenlehrer eine Menge getan. | |
Zugleich gab es jedoch eine Seite an Pater S., die vielen von uns schon | |
damals unangenehm war, denn der Mann, das spürten wir schon ein wenig, | |
hatte etwas unglaublich Verkrampftes, ja Hysterisches, das wir damals aber | |
kaum so hätten benennen können. Ich erinnere mich, dass er einem Mitschüler | |
im Unterricht, zunächst im Überschwang und aus Spaß, mit einem Feuerzeug | |
die Haare im Nacken ankokelte - bis der, erst mitlachend, vor Schmerzen | |
schrie. Das Rauchen war übrigens das einzige Laster, das sich Pater S. | |
erlaubte. | |
Einmal teilte Pater S. allein mit seinen großen starken Händen vor unseren | |
Augen einen kleinen festen Apfel, was uns einigermaßen beeindruckte. Das | |
war typisch für ihn: Die Show war zugleich eine Machtdemonstration. Der | |
Druck, den Pater S. aufzubauen verstand, war so groß, dass wir in den | |
Pausen nach seinem Unterricht häufig einfach im Dutzend | |
aufeinandersprangen, um unsere verdrängte oder angestaute Wut abzubauen. | |
Und es ist kein Zufall, dass unsere Klasse nach den zwei Jahren bei Pater | |
S. zu den schwierigsten und lautesten gehörte, die die Schule für ein paar | |
Jahre zu ertragen hatte - es war eine Art Befreiung. Und, ehrlich gesagt, | |
hat das auch viel Spaß gemacht. | |
Später erfuhren wir von einem anderen Lehrer, der bedeutend entspannter war | |
als Pater S., dass dieser in der Schulzeit, ebenfalls bei Patres, | |
allerdings eines anderen Ordens, in seiner Klasse ein Außenseiter war, der | |
hart gemobbt wurde, wie man das heute nennen würde. Einmal, so erzählte | |
dieser Lehrer mit einem Glucksen, sei der spätere Pater S. als Schüler das | |
Opfer einer gemeinsamen Schneeballattacke seiner Mitschüler, alles Jungen | |
natürlich, geworden - und habe mit ausgebreiteten Armen im Schneeballregen | |
gebetet: "Herr, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Dass | |
Pater S. als Erwachsener wohl den Schutz des gewohnten Milieus suchte und | |
den Druck weitergab, den er selbst erfahren hatte, liegt auf der Hand. | |
Und dann war da noch die Geschichte mit der Sexualität: Davon bekamen wir | |
eigentlich kaum etwas mit, denn dieses Thema war uns damals noch ziemlich | |
fern. Später aber erfuhren wir, dass Pater S. zu Frauen ein mehr als | |
verkrampftes Verhältnis hatte. Er soll bei Wandertagen, die mit Schülern | |
und Eltern stattfanden, regelrecht die Flucht ergriffen haben, wenn eine | |
Mutter es wagte, ihn anzusprechen. | |
Dieser Krampf Frauen gegenüber war bei den Patres unseres Gymnasiums eher | |
unüblich. Von den etwa 100 Lehrerinnen und Lehrern der staatlich | |
anerkannten Privatschule waren knapp zehn Franziskaner. Abgesehen davon, | |
dass mindestens zwei von ihnen Affären mit Lehrerinnen anfingen, wie wir | |
später erzählt bekamen - die Franziskaner an unserer Schule waren, dem | |
Zeitgeist folgend, eher liberal. Das gilt übrigens traditionell auch für | |
Jesuiten. Manche "unserer" Patres hätte man sogar als links bezeichnen | |
können, wie überhaupt die Franziskaner in ihrer Geschichte und bis heute | |
als Orden der Armen seit Franz von Assisi diese soziale, sozialistisch | |
angehauchte Tradition hochhielten und -halten. (Der brasilianische | |
Befreiungstheologe Leonardo Boff war Franziskaner - und für einige an | |
unserer Schule, Lehrer und Schüler, ein ferner Star.) | |
Pater S. aber war aus einem anderen Holz - und eines Tages mitten im | |
sechsten Schuljahr einfach weg. Er sei überarbeitet gewesen, habe einen | |
Nervenzusammenbruch erlitten, wurde uns Schülerinnen und Schülern erzählt. | |
Und das glaubten wir lange Jahre ohne Mühe, passte es doch zu dieser | |
manischen Persönlichkeit. Erst nach dem Abitur erfuhr ich die wahre | |
Geschichte: Pater S. hatte einem Mitbruder offenbart, dass er pädophile | |
Fantasien habe. Es soll bloß bei Fantasien geblieben sein. Pater S. wurde | |
sofort aus dem Schuldienst entlassen. | |
Pater S. mag man zugute halten, dass er womöglich selbst mit seinem | |
Geständnis in der Beichte die Notbremse zog, ehe er seinen Gedanken Taten | |
folgen ließ, was leicht gewesen wäre. Und den Patres in der Schulleitung | |
ist hoch anzurechnen, dass sie das Beichtgeheimnis ziemlich flexibel | |
auslegten und das Problem zumindest nicht verdrängten oder auszusitzen | |
versuchten, was - siehe der jüngste Fall in Berlin - ja auch eine Strategie | |
gewesen wäre, wenn auch eine dumme und schädliche. | |
Jahre nach dem Abitur trafen mein Bruder und ich per Zufall noch einmal auf | |
Pater S. Er war nun in einem Seniorenheim fern der Schule in der | |
Altenseelsorge eingesetzt, was eine tragikomische Note hat. Er sah noch | |
genauso aus wie früher, hatte immer noch etwas Jugendliches, aber auch die | |
gleiche verkrampfte Art. | |
Wir sprachen nicht darüber, was damals passiert war, oder gar darüber, was | |
hätte passieren können. Pater S. schien nicht unglücklich zu sein, aber das | |
mag auch Show gewesen sein. Er hatte uns beide sofort erkannt, unsere Namen | |
noch parat und bat uns zum Abschied fast hysterisch lachend, liebe Grüße an | |
unsere Eltern auszurichten. Ich kann mich nicht erinnern, dies getan zu | |
haben. Gott sei Dank war ich fertig mit ihm. | |
1 Feb 2010 | |
## AUTOREN | |
Philipp Gessler | |
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