# taz.de -- Lärm: Mit Anwalt statt mit Nachbarn reden | |
> Ob Wochenmarkt oder lauter Klub: Die Kompromissbereitschaft bei | |
> Anwohnerstreiten sinkt, die Zahl der Beschwerden und Klagen wächst. | |
> Soziologe sieht Ursache in "Lebensstilkonflikten". | |
Bild: In Berlin ist vielen vieles zu laut: Tanzende Menschen auf der Loveparade | |
Wer irgendwann aus vielerlei Gründen aus dem Kleinstädtischen nach Berlin | |
gezogen ist, weiß die Freiheiten sehr zu schätzen. Berlin steht - wie | |
andere Großstädte - für ein vielfältiges kulturelles Angebot, für | |
Anonymität und Offenheit. Aber auch gegenseitige Rücksichtnahme ist | |
geschätztes Attribut einer modernen Metropole. Und das schon vom alten | |
Fritz propagierte Klima der Toleranz ist zu weiten Teilen in der | |
Stadtkultur verankert und lässt unterschiedlichste Menschen auf engstem | |
Raum mehr oder weniger friedlich zusammenleben. | |
So wurden lange Zeit viele kleine Konflikte zwischen Anwohnern meist | |
untereinander geklärt. Ob Nachlässigkeit, Geruchsbelästigung oder | |
Ruhestörung - die Nachbarn arrangierten sich im Gespräch. Versprach diese | |
Form keinen Erfolg, wandten sich verärgerte Mieter an die Hausverwaltung, | |
um eine Lösung des Problems zu erzwingen. Weitergehende Maßnahmen kamen | |
bisher kaum infrage. | |
Doch seit einiger Zeit ändert sich offenbar die Form der | |
Auseinandersetzung. Im Pankower Ordnungsamt haben die Behörden eine | |
deutliche Zunahme von Anwohnerbeschwerden innerhalb der letzten drei Jahre | |
festgestellt. Diese kämen in erster Linie aus innerstädtischen In-Vierteln. | |
Ein Beispiel ist der legendäre Knaack-Club in Prenzlauer Berg. Als vor zwei | |
Jahren unbemerkt ein Wohnhaus an die Rückwand des Clubs gebaut wurde, kam | |
es nach Einzug der Wohnungseigentümer zum Eklat. Die neuen Nachbarn | |
überbrachten mehrere Beschwerden wegen Lärmbelästigung an das zuständige | |
Ordnungsamt. Ohne dass sie überhaupt versucht hatten, mit den Betreibern zu | |
sprechen, wurde der Bezirk zur Beseitigung des Problems herangezogen. | |
Club-Betreiber Matthias Harnoß sagt: "Es gab in den vergangenen Jahren | |
immer mal kleine Beschwerden einzelner Nachbarn. Nur kamen diese persönlich | |
auf uns zu, sodass wir reagieren konnten und einen Kompromiss | |
herbeiführten." | |
Auch um den Markt am Kollwitzplatz wurde ein erbitterter Kampf geführt. | |
Nachdem der populäre Markt eine Ecke weiter verlegt wurde, fühlten sich | |
Anwohner massiv in ihrer Ruhe gestört und gründeten eine Bürgerinitiative. | |
Auch hier gab es Vermittlungsversuche. Doch die Fronten zwischen Anwohnern | |
und Marktbetreiber verhärteten sich zunehmend. Ein Kompromiss war nicht in | |
Sicht, sodass die Anwohner im Frühjahr 2009 Klage einreichten und das Ende | |
des Marktes forderten. Bisher ohne Erfolg. | |
Der Pankower Baustadtrat Jens-Holger Kirchner (Grüne) hält diese | |
Entwicklung für sehr bedenklich. Die Beschwerden kämen nicht nur aus | |
Prenzlauer Berg, sondern auch aus attraktiven Pankower Stadtrandlagen, wo | |
ein erhöhter Zuzug stattfindet. "Ich nenne das die Radikalisierung der | |
Partikularinteressen. Das Motto der Anwohner lautet: Mit wehenden Fahnen | |
siegen oder untergehen. Nur das Gesicht nicht verlieren." | |
Doch wie entsteht dieses Klima fehlender Dialog- und | |
Kompromissbereitschaft? Kirchner führt dies auf gesellschaftliche Umbrüche | |
zurück. "Die Wende hat viel verändert. Neben dem Aufeinanderprallen | |
verschiedener Lebensformen gibt es im Ländlichen auch die | |
Ossi-Wessi-Konflikte." Politik könne aber durch Vermittlung, Moderation und | |
Grenzenaufzeigen dazu beitragen, Konflikte zu entschärfen. | |
Auch in anderen Bezirken entwickelt sich die Streitlust. "Wir müssen in den | |
letzten zehn Jahren eine Beschwerdeflut exorbitanten Ausmaßes | |
registrieren", sagt Peter Beckers (SPD), zuständiger Wirtschaftsstadtrat in | |
Friedrichshain-Kreuzberg. Hinsichtlich eines veränderten Anwohnerverhaltens | |
sieht er "eine Tendenz, immer erst nach dem Staat zu rufen". Man würde dazu | |
neigen, "gar nicht miteinander zu reden, sondern sich gleich an das Amt | |
oder einen Anwalt zu wenden". | |
In Mitte versucht Baustadtrat Ephraim Gothe (SPD), dem Trend sinkender | |
Kompromissbereitschaft durch intensive Zusammenarbeit mit Stadtteilvereinen | |
zu begegnen. So wurden Kooperationen mit dem Bürgerverein Luisenstadt, der | |
Zukunftswerkstatt Lehrter Straße und den Freunden des Mauerparks | |
eingeleitet. | |
Der in Berlin lebende Stadtsoziologe Hartmuth Häußermann hält das | |
allgemeine Phänomen der zunehmenden Verrechtlichung aller Lebensbereiche | |
für die Ursache dieser Entwicklung: "Es gibt zum einen mehr Möglichkeiten, | |
sich zu beschweren. Durch das entwickelte Umweltrecht und die dazugehörigen | |
Lärmschutzverordnungen sind Klagen durchsetzungsfähiger als noch vor 20 | |
oder 30 Jahren." Zum anderen spricht Häußermann von Lebensstilkonflikten: | |
"Leute, die über akademische Bildung verfügen, zudem den ökonomischen | |
Hintergrund und Kontakte zu Anwälten haben, nützen eher ihr Recht aus, als | |
sich mit Nachbarn persönlich auseinanderzusetzen." Doch sieht er in diesem | |
Verhalten auch eine Schwäche im menschlichen Miteinander. "Man geht | |
uneingeschränkt davon aus, selbst recht zu haben, und stuft dabei den | |
Nachbarn als unverschämt ein." Anstatt sich untereinander zu verständigen, | |
würden immer häufiger staatliche Autoritäten und Juristen zur Lösung des | |
Problems herangezogen. | |
Die Folgen dieser Entwicklung sind nach Häußermanns Auffassung "vor allem | |
eine zunehmende Sprachlosigkeit und mehr Aversion unter Nachbarn". Der | |
Bürgersinn und damit die moralische Ressource für das Gemeinwesen würden | |
zurückgedrängt werden. | |
2 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Torsten Lehmann | |
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