# taz.de -- Integrationsschulen in NRW: Von Klasse 1 bis zum Abi | |
> Ab Freitag wird der Kongress "Eine Schule für alle" das gemeinsame Lernen | |
> diskutieren. Zwei integrative Grundschulen in NRW wollen das Konzept nach | |
> der vierten Klasse fortsetzen. | |
Bild: Nach der vierten Klasse verkümmert das Potenzial behinderter Kinder oft … | |
KÖLN taz | Monika Wallbrecht tut es leid. Zum Beispiel um den Jungen, der | |
alles findet. Wenn sie an der Tafel steht und grübelt, wo die Schachtel mit | |
der Kreide liegt oder das Klassenbuch - er findet es sofort. "Er würde | |
jedem Büro Unmengen Geld ersparen, wenn man bedenkt, wie viel Arbeitszeit | |
dort mit Suchen verbracht wird." Oder der Schüler, der jeden Streit löst. | |
In schwierigen Fällen tritt Monika Wallbrecht zur Seite und überlässt es | |
ihm, zwei Streithähne auf dem Schulhof auseinanderzubringen. "Das Kind hat | |
ein unglaubliches Talent. So jemanden könnte man bei der Polizei als | |
Schlichter für Krisengespräche sicher gut gebrauchen", sagt Wallbrecht. | |
"Nur wird der wahrscheinlich keinen Abschluss bekommen." | |
An der Grundschule Pannesheide in Herzogenrath bei Aachen dürfen auch | |
behinderte Kinder zeigen, was sie können - bis zur Klasse vier. Danach | |
verkümmert ihr Potenzial oft an Förderschulen, während viele der | |
nichtbehinderten Klassenkameraden das Abitur ansteuern. Integrativer | |
Unterricht ist besonders an weiterführenden Schulen die Ausnahme. Knapp | |
über 20 Prozent aller behinderten Schüler in Nordrhein-Westfalen besuchten | |
im Schuljahr 2008/ 2009 eine normale Grundschule, an den weiterführenden | |
Schulen sackt die Integrationsquote jedoch auf gerade 10 Prozent ab. | |
Rektorin Wallbrecht will das ändern - und am liebsten die Kinder in ihrer | |
Schule weiter unterrichten. Nicht nur wegen der behinderten Kinder, aber | |
auch. Im deutschen Schubladen-Schulsystem ist der Absturz nach der | |
Grundschulzeit für sie schließlich am tiefsten. | |
Reinhard Stähling, Leiter der Grundschule Berg Fidel in Münster, verfolgt | |
eine ganz ähnliche Idee wie Wallbrecht. Von den 200 Kindern seiner Schule | |
sind rund 40 sogenannte Förderschüler, den meisten von ihnen ist eine | |
geistige Behinderung oder Lernschwäche attestiert worden. Die | |
UN-Behindertenrechtskonvention, die seit vergangenem Jahr auch in | |
Deutschland gilt, verlangt, dass wesentlich mehr solcher Schüler als bisher | |
Regelschulen besuchen. Der einfachste Weg dahin wäre aus Stählings Sicht: | |
das gemeinsame Lernen über Klasse vier hinaus verlängern. | |
Eine Grundschule bis zum Abi wäre ein absolutes Novum in NRW: Abgesehen von | |
der Laborschule, einem seit 1974 laufenden Versuchsprojekt an der Uni | |
Bielefeld, gibt es keine Schule, in der von der Einschulung bis zum | |
Abschluss alle unter einem Dach lernen. | |
Stähling und Wallbrecht wissen sich mit ihren Ideen in guter Gesellschaft. | |
Pünktlich zur Landtagswahl im Mai machen Grundschulleiter auf breiter Front | |
mobil gegen das frühe Aussortieren. Mehr als 800 Rektoren haben kürzlich | |
einen Aufruf für längeres gemeinsames Lernen unterzeichnet - ein | |
ungewöhnlicher Schritt für sonst loyale Landesbeamte. "Wir wollen eine | |
Schule leiten, die die Lebenschancen aller Kinder fördert und nicht durch | |
die Verteilung auf verschiedene weiterführende Schulformen belastet", heißt | |
es in dem Appell - was auch deutlich das Unbehagen vieler Lehrer ausdrückt, | |
nach der 4. Klasse bindende Schulempfehlungen ausstellen und damit über das | |
Schicksal von Zehnjährigen bestimmen zu müssen. | |
Das Düsseldorfer Schulministerium reagiert indes abweisend auf den Appell: | |
"Auf die Kommunen kämen Kosten in Milliardenhöhe zu für den Bau weiterer | |
Klassen und von Räumen für die Übermittagsbetreuung, während gleichzeitig | |
in den weiterführenden Schulen Klassenräume leer stünden", sagt ein | |
Ministeriumssprecher. Und außerdem: Es gebe keinen Beleg dafür, dass | |
längeres gemeinsames Lernen zu besseren Ergebnissen führt. | |
Kein Beleg? Der Münsteraner Grundschulrektor Stähling kann nur den Kopf | |
schütteln - gerade Förderkinder droht die schwierige Suche nach einer | |
weiterführenden Schule regelmäßig zu entmutigen. "Das hier hat einer der | |
Viertklässler neulich geschrieben", sagt Stähling und liest vor: ",Ich | |
hatte mich so drauf gefreut, dass ich auf die Realschule kam. Ich aber kam | |
nicht drauf. Vor kurzem haben sie mir einen Brief geschickt. Ich war | |
traurig, weil das meine Traumschule war.' " Wenn der Junge keinen Platz an | |
einer Regelschule bekommt, bleibt nur eine Förderschule für | |
verhaltensauffällige Kinder - obwohl Stähling sicher ist, dass er mit etwas | |
längerer Unterstützung sogar Abitur machen könnte. "Das ist ein klassisches | |
Beispiel. Dem würde es sicher guttun, wenn er hier bei uns bleiben könnte." | |
Stähling will vor Ort selbst Fakten schaffen. Die Gebäudesanierung möchte | |
der Rektor nutzen, um die Schule direkt um eine Sekundarstufe aufzustocken. | |
Ob die Stadt als Bauherr und Schulträger da mitspielen wird, ist allerdings | |
unklar. Eine andere Alternative ist ein Verbund mit der benachbarten | |
Hauptschule, die man gleichzeitig zu einer Art Gesamtschule inklusive | |
Oberstufe aufwerten könnte. Dort gehen die Anmeldezahlen wie an vielen | |
Hauptschulen zurück - da wäre es keine schlechte Perspektive, wenn Klassen | |
nahezu komplett von der Grundschule rüberwechselten. | |
Auch in Herzogenrath überlegt Schulleiterin Wallbrecht, wie sie ihre Idee | |
umsetzen kann. Zusammen mit Eltern, Lehrerinnen und Lehrern hat sie eine | |
Initiative gestartet, die sich für die Gründung einer neuen Schule von der | |
ersten Klasse bis zum Abitur einsetzt. Wie schon in der Grundschule sollen | |
die Schüler nach dem Konzept der Jenaplanpädagogik jahrgangsübergreifend | |
unterrichtet werden. Da eine Privatschule für die Initiatoren nicht in | |
Frage kommt, müssen sie doppelt Überzeugungsarbeit leisten: Einmal bei der | |
Stadt, damit sie die Trägerschaft übernimmt. Und beim Land, damit es die | |
Schule als Modellprojekt anerkennt - denn formell lässt das Gesetz keine | |
Chance, eine Grundschule zu verlängern. | |
Wallbrecht ist sich sicher: Die wissenschaftliche Begleitung, mit der man | |
ein solches Ausnahmeprojekt begründen könnte, ließe sich finden. Zu | |
Erziehungswissenschaftlern der Rheinisch-Westfälischen Technischen | |
Hochschule Aachen und zur Uni Bochum hat die Rektorin bereits Kontakte | |
geknüpft. | |
Ihr großes Vorbild ist die Jenaplan-Schule in Jena, die Kinder von der | |
Vorschule bis zur Hochschulreife führt - und das als öffentliche Schule. | |
"Warum", fragt Wallbrecht, "sollte so etwas in Nordrhein-Westfalen nicht | |
möglich sein?" | |
10 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Bernd Kramer | |
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