# taz.de -- Bürgerrechtler Jens Reich über 1989: "Die SED zersplitterte die O… | |
> Vor 20 Jahren ging die Bürgerbewegung bei den Volkskammerwahlen unter. | |
> Der Bürgerrechtler Jens Reich meint: Was folgte, war eine westdeutsche | |
> Wahl im Osten. | |
Bild: "Wir wollten etwas Neues": Demonstranten am 4. November 1989 auf der Ost-… | |
taz: Herr Reich, am 18. März 1990 fand die erste und letzte freie, | |
demokratische Wahl der DDR statt. War diese Wahl fair? | |
Jens Reich: Wenn man Wahlen heutzutage zum Maßstab nimmt - nein. Die Mittel | |
waren ja extrem ungleich verteilt. Die "Allianz für Deutschland" wurde | |
massiv von West-CDU-Politikern und mit Geld unterstützt. Die SED/PDS | |
verfügte über Geld und einen Apparat. Bündnis 90 hatte nichts davon: keine | |
Logistik, kein Geld, keine Redenschreiber, weniger Zugang zu Medien. Es war | |
eine westdeutsche Wahl auf dem Gebiet der DDR. | |
Margaret Thatcher hat danach Helmut Kohl zu seinem Wahlsieg gratuliert - | |
obwohl nicht Kohl, sondern Lothar de Maizière zur Wahl stand … | |
Das zeigt einen feinen britischen Sinn für Ironie. | |
Welche Rolle spielte Kohls Ankündigung im Februar, die Währungsunion | |
schnell einzuführen, und zwar im Umtauschverhältnis eins zu eins? | |
Das war ein attraktives Angebot, dass ein Großteil der DDR-Bevölkerung | |
nicht ablehnen konnte. | |
War Kohl denn wirklich die treibende Kraft - oder eher ein Getriebener, der | |
tat, was das DDR-Volk wollte? | |
Die Parole "Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, gehn wir zu | |
ihr" war eine Erfindung des DDR-Volks. Und sie drückte präzise aus, was | |
viele DDR-Bürger nach den Entbehrungen des Realsozialismus wollten. Kohl | |
hat dem einfach nachgegeben. Er hat der Erpressung "entweder Währungsunion | |
sofort, oder wir gehen in den Westen" nichts entgegengesetzt. Das wäre | |
durchaus möglich gewesen. Stattdessen hat Kohl, gegen den Widerstand der | |
Bundesbank und vieler Ökonomen, den Umtausch eins zu eins durchgesetzt. Das | |
war keine Zwangsläufigkeit, sondern eine politische Entscheidung. | |
Das Argument der Kohl-Anhänger lautet: Es gab keine Alternative. | |
Dieser Satz stimmt historisch nie. Der Determinismus, demzufolge es immer | |
genau so kommen musste, wie es kam, hat etwas Armseliges. Es gibt immer | |
Entscheidungsspielräume. | |
Im Frühjahr 1990 brach die DDR-Wirtschaft zusammen, die DDR-Bürger gingen | |
in den Westen. Außerdem war die deutsche Einheit nur in diesem Moment | |
möglich. Stimmt das nicht? | |
Man muss differenziert hinschauen. Richtig ist, dass höchst fraglich war, | |
wie lange die Zustimmung aller alliierten Mächte zur Vereinigung halten | |
würde. Gorbatschow saß ja damals auf dem Schleudersitz. Außenpolitisch gab | |
es Gefahren, die eine schnelle Einigung dringlich machten. Aber warum | |
musste deswegen innenpolitisch mit der Brechstange gearbeitet werden? Das | |
Zusammenwachsen der beiden sehr verschiedenen Strukturen wäre klüger und | |
weniger hektisch möglich gewesen. | |
Der Verlierer der Volkskammerwahl war Bündnis 90, das nur knapp drei | |
Prozent bekam. Eigentlich war der 18. März 1990 das Ende der Bürgerbewegung | |
- oder? | |
Ja, obwohl es auch nach dieser Niederlage weiterging. Es folgten ja harte | |
Auseinandersetzungen um die Stasi-Akten, und es gab in der Provinz der | |
Republik weiterhin Runde Tische. Bis weit in die Vereinigung im Herbst 1990 | |
hinein existierten solche Formen spontaner Basisdemokratie neben den | |
offiziellen Strukturen. Allerdings hatten wir auf den Einigungsvertrag nach | |
dieser Wahl so gut wie keinen Einfluss. | |
Hatte die Bürgerbewegung Mitschuld an ihrem Untergang - oder wurde sie | |
einfach von der Vereinigungseuphorie hinweggespült? | |
Der Aufstand im Herbst 1989 war spontan. Es ist kein Wunder, dass Bündnis | |
90 drei Monate später im parteipolitischen Sinne keine professionelle | |
Organisation war. Die Gruppen haben sich auch gegenseitig gelähmt und | |
neutralisiert. Es gab bei uns niemand, der organisiert mit einem | |
tragfähigen politischen Programm die Macht erobern wollte. Den konnte es | |
nicht geben - er wäre von der Basis nicht akzeptiert worden. | |
Sie waren naiv? | |
Ja, das können Sie gerne unprofessionell nennen. Ich fand es nicht | |
unsympathisch. Wir wollten eben die Macht nicht an die Parteiapparate | |
delegieren. | |
Die Bürgerbewegung trat aber auch zersplittert an. Manche zusammen mit der | |
Ost-CDU im "Demokratischen Aufbruch", manche bei Bündnis 90, manche in der | |
SPD, manche bei kleinen linken Gruppen. In der Tschechoslowakei oder in | |
Polen trat die Bürgerbewegung gemeinsam an. Warum nicht in der DDR? | |
Weil die Bewegung auch vor 1990 schon so zersplittert war. Das war der | |
Erfolg von Honeckers Strategie. Die SED konnte die Opposition nicht | |
zerschlagen, aber, zum Beispiel mit der Stasi, zersplittern. Wir hatten | |
deshalb keine Zeit, uns auf das Kommende vorzubereiten. Die Französische | |
Revolution wurde von den Enzyklopädisten theoretisch vorbereitet. In der | |
DDR wurden - siehe Rudolf Bahro - solche Köpfe einfach in den Westen | |
abgeschoben. | |
Also gab es den polnischen Weg, zusammen anzutreten, für die DDR-Opposition | |
nicht? | |
Nein. Und man muss auch sehen, was aus den osteuropäischen Bürgerbewegungen | |
wurde. Die Solidarnosc hat nach der Machtübernahme sehr ähnliche | |
Zersplitterungstendenzen gezeigt. Als basisdemokratische Grassroot-Bewegung | |
hat sie die Machtübernahme nicht überstanden. Der Unterschied war eben, | |
dass Polen und Tschechen mit ihren dekonstruierten kommunistischen Eliten | |
die Demokratie aufbauen mussten, während die DDR den Westen hatte. Das | |
hatte nicht nur Nachteile. In Polen hat sich die Aufarbeitung der | |
Vergangenheit sehr verzögert, was sich noch heute als Fehler erweist. | |
War der Sinn der Demokratiebewegung nur der Sturz des DDR-Regimes - und | |
danach war sie überflüssig? | |
Was heißt nur? Wir hatten im Herbst 1989 eine Menge programmatische Ideen. | |
Wir wollten Freiheit, die Demokratisierung der Wirtschaft, Reform der | |
Bildung, das Ende der ökologischen Verantwortungslosigkeit und vieles mehr. | |
Wir wollten also nicht nur das Alte abschaffen, sondern auch etwas Neues. | |
Deshalb stimmt das "nur" nicht. | |
Und was ist heute davon noch geblieben? | |
Ich will meine Impressionen nicht überbewerten, aber ich glaube, dass es im | |
Osten eine, wenn auch kleine, kritische Bürgerschicht gibt, die noch immer | |
an grundlegender Demokratisierung interessiert ist. Die haben keinen | |
Einfluss, keine Medienmacht, sie kommen gegen den Parteienstaat nicht an. | |
Aber es gibt sie. Auch wenn in der aktuellen Wirtschaftskrise davon leider | |
nicht viel zu merken ist, wacht dieser Bürgersinn, dieser Geist von 1848, | |
vielleicht wieder auf. Das ist eine Möglichkeit. | |
Nach der Wahl formierte sich die erste und letzte demokratisch legitimierte | |
Volkskammer. Was war das für ein Parlament? Ein, wie im Westen viele | |
meinten, Laienspielhaus? Das Instrument, das die DDR abwickelte? Oder ein | |
offenes, demokratisches Experimentierfeld? | |
Alles zusammen. Laienspielschar - das stimmt gemessen an den Kriterien von | |
Professionalität, die in westlichen Parteien herrscht. Aber das ist nicht | |
das Maß aller Dinge. Ich war als Volkskammerabgeordneter auch Laie, weil | |
ich mit Dingen befasst war, die ich vorher nicht kannte. Und ich war der | |
Ansicht, dass wir kein Parteienparlament brauchten - schön ordentlich in | |
Regierungsfraktion und Opposition geteilt. Dazu war ich zu altmodisch. | |
Inwiefern? | |
Wir glaubten, wie die Revolutionäre 1848, an die freien Abgeordneten, die | |
sich bei einzelnen Fragen zusammenschließen. Das halten viele für naiv. Ich | |
empfinde das nicht als Schimpfwort. | |
Der SPD-Politiker und Theologe Richard Schröder meint, dass die Deutschen | |
insgesamt zu skeptisch, zu desinteressiert auf 1989/90 schauen. Brauchen | |
wir also eine freudigere, positivere Haltung zum Sturz der DDR-Diktatur? | |
Also ich freue mich jeden Tag, dass die DDR untergegangen ist. Ob wir | |
generell einen positiveren Bezug auf 1989 und damit wohl auch zur | |
Nationalgeschichte brauchen - da bin ich vorsichtig. Nein, ich bin nicht | |
unzufrieden mit unserem Nationalbewusstsein. | |
18 Mar 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Christian Semler | |
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