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# taz.de -- Aus dem Leben eines Arbeitslosen: "Ich bin hier falsch"
> "Wenn ich von diesen Politikern höre, die Arbeitslosen seien faul, dann
> packt mich die Wut." Ein Protokoll aus dem Arbeitslosenleben des
> Brandenburgers Mario Krüger.
Bild: Mario Krüger: "Es hieß immer: Mach dies mal, mach das mal."
"Zur Arbeit, die uns lieb, stehn früh wir auf und gehn mit Freuden dran"
William Shakespeare (und Betriebsparole in der DDR).
Brandenburg, die schöne alte Stadt am Wasser, liegt eingebettet zwischen
drei Havelseen und erstreckt sich, teils inselartig angelegt, beiderseits
der Havel. Die weitgehend restaurierte Innenstadt wirkt ein bisschen tot,
so als sei sie erstarrt in banger Erwartung von Kunden und Touristen. Die
flüchten sich aber vorschriftsmäßig in die eben eröffnete St.-
Annen-Galerie mitten im Zentrum, ein 20.000 Quadratmeter großes
Einkaufscenter mit pseudoklassizistischer Fassade, in dem der triste Alltag
aufgedonnert wird zur "Shopping-Erlebniswelt". Man kann als Fremder aber
auch mit der Straßenbahn Nr. 6 hinausfahren in den Norden, nach
Hohenstücken, wo die stillgelegte Bevölkerung großflächig in grauen
Plattenbauten lebt, über denen der drohende "Rückbau" schwebt, wie mir ein
Bewohner erzählte.
Oder man fährt mit der Nr. 2 bis zur riesigen verglasten Halle des alten
Stahl- und Walzwerkes - das einst zum Flick-Konzern gehörte, das Ende der
30er-Jahre zu massiver Rüstungsproduktion benutzt wurde - und in dem die
DDR dann "Friedensstahl" produzierte. Heute zeigt ein von ehemaligen
Stahlarbeitern sehr engagiert betriebenes Industriemuseum, wie und was hier
von 1914-1993 produziert wurde - und dass die Schließung ein reiner Segen
war für Atemluft und Umwelt der Bevölkerung. Mit der dritten der drei
Straßenbahnlinien, der Nr. 1, gelangt man hinaus nach Görden, zur
inzwischen privatisierten Psychiatrischen Landesklinik, der ehemaligen
Landesirrenanstalt, 1911 in Pavillonbauweise errichtet für die Opfer der
Industrialisierung. In einer Psychiatrie-Dauerausstellung wird dort der
10.000-fache Krankenmord in dieser Stadt während der NS-Zeit dokumentiert.
Man kann auch über viel Kopfsteinpflaster in der Stadt herumstreifen und
viel Backsteingotik anschauen. Oder durch die schönen Parks und an den
Flussufern entlang spazieren, über die Jahrtausendbrücke, hinüber auf das
linke Flussufer in die Neustadt.
Hier wohnt Mario, nahe am Theater, in einer renovierten Altbausiedlung aus
den 20er-Jahren. Seine kleine Zweizimmerwohnung ist liebevoll eingerichtet,
die einfallsreiche Verwendung vieler Fundstücke gibt ihr einen sehr
persönlichen Charme. Aus dem Sperrmüll eines Chinarestaurants hat er sich
ein imposantes chinesisches Bett und schöne Regale gebaut, große bemalte
ehemalige Decken-Leuchtelemente zieren die Wand. Im Wohnzimmer steht auf
einem schallisolierten Podest sein Schlagzeug. In einem Vitrinen-
Schränkchen im Flur bewahrt er seine kleine Feuerzeugsammlung auf. In der
Küche, an die Wand über dem Herd, hat er, freihändig mit Pinsel, in
tadelloser Druckschrift ein Kochrezept geschrieben. Man sieht, er hat
Schriftmalerei gelernt. Wir nehmen Platz am Wohnzimmertisch, Mario schenkt
Kaffee ein und erzählt. Er spricht Berliner Dialekt:
"Mein Vater war Gaststättenleiter im Ratskeller, meine Mutter war bei der
Post. Und ich wollte Maler, Tapezierer und Dekorateur werden, eigentlich
deshalb, weil auch mein Großvater ein Maler- und Tapezierergeschäft hatte.
So mit 16, 17, wo ich gelernt habe, das war dann auch die Zeit, in der ich
viel angeeckt bin damals. Lange Haare waren angesagt. Wir wurden auch
geprägt durch die 68er Bewegung im Westen. War schon so! Mit acht Jahren
habe ich das im Westfernsehen gesehen, Ho Chi Minh, Vietnamdemonstration,
Dutschke-Attentat und alles, später dann die RAF. Im Westfernsehen hieß die
übrigens Baader-Meinhof-Bande, in unseren Nachrichten immer nur
Baader-Meinhof-Gruppe. Na ja, und die ganzen Jahre über haben wir natürlich
die Musik auf den Westsendern im Radio gehört.
Wir, das war damals eine kleine Gruppe hier in der Stadt, die nicht so
mitgemacht hat, wie man sollte. Da ist man natürlich aufgefallen,
unangenehm aufgefallen, und entsprechend wurde dann auf uns reagiert. Mich
hat man erst mal weg geschickt. Ich hab dann außerhalb lernen müssen, in
Jüterbog, in einer Berufsfachschule. Wie ein Internat war das, mit
geregelten Zeiten für Schularbeit, Abendbrot und Ausgang. Ich war ganz gut,
sogar in Staatsbürgerkunde, aber ich habe natürlich meine Kritik geäußert
am System. Und die Folgen hat man mich dann auch spüren lassen.
Der Beruf hat mir eigentlich Spaß gemacht, aber es war dann so, dass ich in
eine Brigade gekommen bin im neuen Elektro-Stahlwerk - das hatten
ausländische Firmen aufgebaut, heute ist es in italienischer Hand und
gehört dem Riva-Konzern -, und dort hat man mich in den Keller gesteckt.
Ein halbes Jahr habe ich keine Sonne mehr gesehen und von morgens bis
abends nur Rohre grau angestrichen, bis ich eine Allergie gekriegt habe.
Eine Farbenallergie, durch die ganzen Ausdünstungen und Gifte. Ich bekam
vom Arzt ein Attest, dass ich nichts mehr mit Ölfarben zu tun haben darf,
dass ich nur noch mit natürlichen Stoffen arbeiten soll, mit Leimfarben,
also mit Kreide, Latex usw. Ich habe dann da gekündigt.
Mach dies mal, mach das mal
In der DDR war es so: Wer ein viertel Jahr ohne Arbeit war, wurde schon als
kriminell gefährdet registriert, denn Arbeit gab es ja genug. Sie hatten
mich ja sowieso schon auf dem Kieker, deswegen war es gut, dass mein Bruder
im Kraftwerk gearbeitet hat und dort auch in der Gewerkschaftsleitung war.
Durch ihn habe ich dann ganz schnell eine neue Arbeit gekriegt. Das war ein
Kohlekraftwerk, hier in Brandenburg. Da habe ich dann zwölf Jahre lang
gearbeitet, aber nicht mehr direkt als Maler. Zuerst als Kranfahrer - ich
habe den Kranfahrer-Führerschein gemacht -, aber ich hätte mich lieber zum
Kesselwärter qualifiziert. Man ließ mich aber nicht, weil ich als politisch
unzuverlässig eingestuft wurde. Ich war dann aber doch mit am Kessel und
habe ganz gut verdient. Ab und zu musste ich Schilder malen. Es war immer
mal was zu beschriften, diese Elektrokästen zum Beispiel. Es hieß immer:
Mach dies mal, mach das mal!
Ach so, und zwischendurch haben sie mich ja noch zur Nationalen Volksarmee
eingezogen für eineinhalb Jahre! Wollt ihr das auch hören? Gut, also ich
hatte einen Antrag gestellt auf Dienst ohne Waffe, man musste dann als
Bausoldat schuften, aber ich wurde nicht berücksichtigt. Im Gegenteil!
Nachdem ich dem Einberufungsbefehl nicht Folge geleistet hatte, haben sie
mich erst mal in den Armeeknast nach Hohenstücken, dann nach Oranienburg
gesteckt. Und nach der Grundausbildung haben sie mich in eine besonders
brutale Einheit getan. Das war 84/85.
Ich wurde mit dem Jeep rausgefahren in den Wald, da standen Uniformierte
mit geschorener Glatze - was ja sonst bei der NVA verboten war, weil, so
sahen die Russen aus! Die deutschen Soldaten hatten Kultur, einen
ordentlichen Haarschnitt über den Ohren. Von den 20 Mann mit Unteroffizier
wurde grade Überfall und Hinterhalt trainiert, also wie man einem anderen
von hinten in die Kniekehlen springt, im Fallen ihm die Augen ausdrückt,
oder mit dem Messer zusticht, damit der Mann beim Abrollen keinen Mucks
mehr macht, im Ernstfall. Lautloses Töten heißt das.
Ich habe mich gemeldet und gesagt: Genosse Unteroffizier, ich bin hier
falsch! Später musste ich zum Offizier und der hat gesagt: Sie sind aus
Brandenburg? Hier sind Sie in Beelitz, beide Orte fangen mit B an. Sie
bekommen jetzt zwei Minuten Zeit, um sich zu entscheiden, ob Sie hier
mitmachen. Ansonsten fängt der nächste Ort, an den wir sie bringen, auch
mit B an!
Und dann bin ich wieder ins Kraftwerk
Es war klar, was er meinte. In den Knast nach Bautzen, das wollte keiner.
Also habe ich mich gefügt und das durchgezogen, diese Ausbildung bei den
Fernaufklärern. Es war hart und brutal, was da abging. Und es war streng
geheim! Das mussten wir extra unterschreiben, dass wir niemals darüber
sprechen. Unser Einsatzgebiet wäre in erster Linie Westberlin gewesen, im
Ernstfall sollten wir in 5er-Gruppen Westberlin unterwandern, Leute
ausschalten und wichtige Stellen wie Rundfunk, Post, Bahnhöfe usw. unter
unsere Kontrolle bringe und übernehmen. Na ja, letzten Endes kams dann
umgekehrt", sagt er lachend. "Und danach bin ich wieder ins Kraftwerk, ich
hatte eigentlich einen Ausreiseantrag stellen wollen, aber dann lernte ich
eine Frau kennen und bald schon kam ein Kind. So ist das?"
Mario schlägt vor, eine Pause zu machen: "Ich dachte, wir essen was
zusammen, Königsberger Klopse mit Kapernsoße, ja? Habe ich selber gemacht!"
Während des Essens, das sehr wohlschmeckend ist, erzählt er uns ein wenig
über die Lage in der Stadt Brandenburg: "Ja, die Stadt ist heute
hergerichtet. Sie hat sich sehr verändert, in jeder Beziehung. Es sind
viele Leute und auch viele meiner Freunde weggezogen, nach Berlin oder
sonst wohin. Und das geht weiter so. Zu DDR-Zeiten lebten hier 100.000
Einwohner, jetzt sind es 30.000 weniger. Wir haben heute mehr als 15
Prozent Arbeitslose, glaub ich. Offiziell! Da werden aber die ganzen Leute,
die in Maßnahmen gesteckt werden, die 1-Euro-Jobber usw., gar nicht
mitgezählt. In Wirklichkeit sind das wesentlich mehr, die ohne eine
richtige Erwerbsarbeit sind. Wesentlich! Es ist einfach so: Alles, worauf
wir mal gehofft hatten, woran wir mal geglaubt haben nach der Wende, ist
aufgelöst. In Lügen aufgelöst, in Luft! Es wurde alles zugemacht, ohne
Ersatz zu schaffen.
Hier gab es Schwerindustrie, Stahl und Stahlwalzwerk. Davon gab`s zwei, das
neue Elektrostahlwerk und das alte Stahlwerk mit den Siemens-Martin-Öfen,
das ihr gesehen habt, also den Rest davon, mit nur noch einem Ofen, das
Industriemuseum. Heute ist auf dem ehemaligen Werksgelände so ein bisschen
Gewerbe angesiedelt, aber da gibts kaum Arbeitsplätze, im Vergleich zu
früher kann man das vergessen. In den Werken waren ja allein schon mehr als
10.000 Leute beschäftigt. Das Elektrostahlwerk - wo ich gearbeitet habe als
Maler - das arbeitet noch, aber mit viel weniger Leuten. Es wurde 1980 in
Betrieb genommen und nach der Wende 91/92 verkauft an die Italiener, an den
Riva-Konzern.
Dann gabs noch das Getriebewerk, die Elisabeth-Hütte, es gab textile
Verpackung und was weiß ich, Brandenburger Kinderbekleidung - ein
Riesenbetrieb. Sie mussten sogar Arbeitskräfte aus Kuba und Vietnam holen,
Frauen und Mädchen, die hier genäht haben. Alwo gabs noch, Wolle-und
Spinnereiwerke, die Kammgarnspinnerei, eine Keksfabrik und andere, also
richtig voll mit Betrieben waren wir hier. Und heute ist das eine Stadt,
die keine Arbeit mehr hat! Nur noch ein bisschen Dienstleistungsgewerbe!
Mittlerweile habe ich den Eindruck, dass der größte Arbeitgeber der Stadt
das Arbeitsamt selber ist." Er lacht.
"Na ja, und dann war hier Garnisonstadt, fast immer schon. Aber die Stadt
war mal reich. Hier wurden ja in den 20er-Jahren die meisten Kinderwagen
Fahrräder und Autos von ganz Deutschland gebaut. Bei Brennabor, der
Fahrrad- und Autofabrik der Gebrüder Reichstein. Im Krieg wurden dann dort
Rüstungsgüter produziert. Nach dem Krieg haben die Russen die Reste
demontiert und dann war der VEB Brandenburger Traktorenwerke bzw. das
Getriebewerk drin, bis zur Wende. Später wurde saniert und ausgebaut, heute
sind da Künstlerateliers und eine Kunsthalle.
So, jetzt komme ich wieder zum Kraftwerk, wo ich zwölf Jahre gearbeitet
habe, bis 1991. Und da ging es dann auch schon los mit dem
Arbeitsplatzabbau. Anfangs, gleich nach der Wende, haben wir im Kraftwerk
noch Unterschriften gesammelt für die Zulassung des Neuen Forums. Das war
ziemlich schwierig. Plötzlich waren da aber überall lauter DVU-Aufkleber.
Ich hab die natürlich gleich abgemacht. Und bald ist dann auch das
Betriebsklima massiv schlechter geworden. Innerhalb von zwei Jahren. Es
wurde das Konkurrenzverhalten der Beschäftigten untereinander dermaßen
aggressiv, nur, damit man nicht der Erste ist, dem gekündigt wird. Mit
Mobbing und Denunziationen, das war unglaublich. Dann wurde mein
Schichtleiter in den Vorruhestand geschickt und ich sollte den Kessel
übernehmen. Das, was ich immer wollte. Aber da war ja nichts mehr
investiert worden und dementsprechend gefährlich wurde die Anlage. Also ich
hatte eine richtige Angst davor, weil man wirklich mit hohen Drücken
gearbeitet hat. Ich bin dann gegangen.
Alle waren voller Hoffnung
Damals bestand gerade die Möglichkeit, in den Fontane-Club einzusteigen -
das war unser schönes Kulturhaus, direkt am Wasser gelegen. Heute ist es
privatisiert. Wir waren ja auch sehr engagiert für Jazz, auch schon zur
DDR-Zeit, und haben den Club dann politisch umgedreht. Wir waren die erste
Szene-Kneipe der Stadt, ich war fest angestellt als gastronomischer Leiter.
Es gab Fördermittel, es gab Musik, Lesungen, ein Kinosaal ist dort, also
querbeet. Das war die beste Zeit damals, die kreativste. Alle waren voller
Hoffnungen und Ideen. Und dann gab es natürlich politisch Ärger. Unsere
Fördermittel wurden gestrichen und unsere kleine Zeitung konnte nicht mehr
erscheinen. Damit war das erst mal vorbei.
Ich habe dann in verschiedenen Kultureinrichtungen gearbeitet.
Zwischendurch war ich immer kurz arbeitslos. Erst kam ein selbst
verwaltetes Jugendprojekt im Haus der Offiziere der ehemaligen sowjetischen
Streitkräfte, dann habe ich Projektarbeit gemacht für den Kultur- und
Gewerbehof Brennabor. Das lief über Fördermittel der EU und ich war fest
angestellt, bis es auslief.
Um 2000 habe ich wieder im Fontane-Club angefangen als Tontechniker. Sie
hatten sich einen neuen Geschäftsführer geholt aus Westberlin, Volker Hugo,
ein guter Mann mit vielen Verbindungen zu Bands und Künstlern, auch
international. Und obwohl es sehr gut lief, haben sie ihm nach einem halben
Jahr den Vertrag nicht verlängert, ohne Begründung. Von heute aus gesehen
ist klar, das waren alles die Vorbereitungen zur Privatisierung. Wir haben
vergeblich dagegen angekämpft, das Objekt gehörte ja der Stadt, war eine
Schenkung in den 20er-Jahren. Sie haben es einfach verscherbelt. Wir haben
uns beworben um den Betrieb nach der Privatisierung, haben aber den
Zuschlag als politisch Unliebsame natürlich nicht gekriegt. Wir wollten ja
was anderes als nur eine schicke Kneipe.
Damit waren wir alle arbeitslos, und die 60 bis 70 Leute, die da
verkehrten, die hatten nun auch keinen Ort mehr, wo sie sich treffen
konnten oder wollten. Ich habe dann eine Umschulung gemacht zum
Veranstaltungskaufmann übers Arbeitsamt und habe mich beworben für die
Theater-Klause, zusammen mit einer Kollegin aus der Gastronomie.
Leider haben wir auch hier den Zuschlag nicht gekriegt, obwohl man mir ja
vom Theater her absolut Hoffnungen gemacht hatte. Na, ich war schon sehr
enttäuscht. Dann hat der Intendant gesagt: Pass auf, du kriegst den Job als
Betriebshandwerker. Der es jetzt macht, geht dann und dann in Rente. Gut,
habe ich also mit befristetem Arbeitsvertrag so lange gejobbt im Theater,
habe auch die Klause quasi restauriert, so wie sie ursprünglich mal war,
Bar mit Goldrand und alles. Immer mit dieser Hoffnung, dass ich eine
Festanstellung kriege.
Dann ging der endlich in Rente, aber ich habe den Job wieder nicht
gekriegt, und zwar deshalb, weil ich keinen Grundkurs in Elektrotechnik
hatte. Hat mir keiner gesagt, dass ich den brauche. Sonst hätte ich den
nämlich gemacht, in einem Vierteljahr während der Wartezeit!
So, und nun hänge ich jetzt hier fest, bin arbeitslos und kriege keinen Fuß
mehr in die Tür. Nirgends. Wenn ich das schon höre, von diesen Politikern
da, die Arbeitslosen sind faul, dann packt mich die Wut. Es gibt ja nicht
zu viele Faule, es gibt zu wenig Arbeitsplätze! Sie nehmen uns die sozialen
Errungenschaften Stück für Stück weg, die unsere Vorfahren erkämpft haben,
und wir Arbeitslose müssen uns auch noch als Drückeberger beleidigen
lassen. Ja wer hat denn die ganzen Werte geschaffen?! Die doch nicht! Na
gut, es hat ja keinen Sinn. Mir bleibt jetzt nur noch der Schritt in die
Selbstständigkeit. Aber da geht auch nichts voran.
Drei Tage zu spät
Das alles hat mir total die Kraft genommen. Gut, ich muss hier nicht
verhungern, klar, aber dafür darf ich mich schikanieren lassen vom
Arbeitsamt. Gleich beim ersten Arbeitslosengeld haben sie mir 150 Euro
abgezogen, als Sanktion. Man muss sich drei Monate bevor der Arbeitsvertrag
ausläuft bereits arbeitslos melden - versteht ja kein Mensch. Und ich bin
aus Versehen drei Tage zu spät hingegangen. Das wird hart bestraft. Und
das, während andere straflos Steuern hinterziehen dürfen, in Milliardenhöhe
auf ihren Auslandskonten. Hauptsache sie melden es, sobald sie erwischt
werden. Das erkläre mal einem Normalbürger!
Das nächste Mal habe ich selbst einen Termin gemacht mit meiner
Arbeitsberaterin. Es ging um mein Weiterkommen, damit ich mich bald
selbstständig machen kann als Raumausstatter. Das muss ja alles
fristgerecht beantragt werden und dauert ewig. Der Termin sollte neun
Wochen später sein. Ich habe gedacht, ich werde da noch mal benachrichtigt,
dem war aber nicht so. Ich habe ihn versäumt. Um einen Tag! Wieder 150 Euro
Abzug!
Zum neu anberaumten Termin war dann aber meine Sachbearbeiterin nicht da.
Darüber wurde ich natürlich nicht informiert! Ich saß da, habe gewartet,
war sauer, bin kurz laut geworden und habe verlangt, jemand von der
Teamleitung zu sprechen. Nach insgesamt vier Stunden Wartezeit hatte ich
den Termin. Ich durfte vorsprechen.
Zwei Teamleiter vom Arbeitsamt in Armani-Anzügen haben mich von oben herab
abgefertigt, wollten keine Einzelfallprüfung akzeptieren und sagten: Es
bleibt bei der Sanktion. 150 Euro! Ich habe gesagt: Also Sie brauchen sich
nicht zu wundern über den Unmut in der Bevölkerung. Es kann passieren, dass
eines Tages Leute draußen auf der Straße stehen, mit Knüppeln in der Hand,
die ihrer Wut freien Lauf lassen. Dann möchte ich nicht in Ihrer Haut
strecken! Danach bin ich raus. Mir wurde dann vom Arbeitsamt schriftlich
mitgeteilt, dass ich ein halbes Jahr Hausverbot habe. Sie haben behauptet,
ich hätte sie bedroht.
Und 150 Euro, das ist für so einen Teamleiter vielleicht kein Geld, aber
für mich ist das absolut einschneidend, denn ich komme überhaupt nicht mehr
rum und muss mir was borgen. Ich kann euch das mal vorrechnen: Ich bekommen
vom Amt als Regelsatz 359 Euro monatlich zum Lebensunterhalt, davon muss
man auch die Stromkosten zahlen und Warmwasser. 330 Euro bekommt man für
Heizung und Unterkunft - das reicht aber nie, schon gar nicht nach einem so
kalten Winter, deshalb muss man sich das auch vom Lebensunterhalt abknapsen
- und dann kriege ich noch 87 Euro, befristeter Zuschlag nach § 24 SGB II,
weil ich ja gearbeitet habe vorher.
Meine Wohnung hier, die ich mir damals genommen habe, weil ich ja sicher
war, dass ich im Theater fest angestellt werde, die hat 10 Quadratmeter
mehr als erlaubt. Eine angemessene Wohnung darf maximal 50 Quadratmeter
groß sein.
Die Mehrkosten muss ich selber tragen, die gehen auch vom Lebensunterhalt
ab. Abziehen muss ich auch noch monatlich 75 Euro Schuldentilgung für einen
Kredit über 2.000 Euro, den ich damals für Renovierung und Einrichtung der
Wohnung aufgenommen habe. Da werde ich noch ein Jahr dran sitzen. Und geht
mal der Kühlschrank kaputt oder der Computer oder was, dann ist das eine
Katastrophe, da ist kein Geld für da. Ich hatte zum Beispiel eine
Wurzelbehandlung am Backenzahn. 250 Euro! Das übernimmt die Kasse nicht,
auch nicht das Amt. Das musst du selber zahlen. Übernommen wird nur noch
Ziehenlassen! Vorne, die Schneidezähne, damit es keine Probleme gibt bei
der Arbeitssuche. Oder du musst die Schmerzen aushalten und warten, ob sie
von selber weggehen.
Was da normalerweise vom Regelsatz zum Leben übrig bleibt, das könnt ihr
euch leicht ausrechnen. Meist so gut wie nichts!
Zum Glück kann ich auch mal bei der Mutter mitessen. Die lebt alleine, mein
Vater ist schon gestorben. Sie hat Leukämie und hatte auch noch einen
Oberschenkelhalsbruch, nun kann sie kaum gehen. Ich bin täglich dort, helfe
ihr, mach bisschen sauber, kaufe ein, damit sie nicht ins Heim muss. Ich
gehe auch mit zu den Arztbesuchen, sonst fällt sie vielleicht wieder. Also
wenn ich meine Freundin und meine Freunde nicht hätte und meine Musik, mir
würde die Decke auf den Kopf fallen.
Ich habe Fernsehen, Radio, Internet, aber es ist so, dass alles in den
eigenen vier Wänden stattfindet. Anfang der 90er-Jahre gab es in
Brandenburg noch einen Kulturbeitrag für Arbeitslose, den hat die SPD
abgeschafft, wie so vieles hier. Jedenfalls, Kneipe, Kino, Café, Theater,
Schwimmbad sind nicht drin bei mir, Zeitung und Bücher auch nicht. Auto
habe ich sowieso keins, auch keine Monatskarte, ich mache alle Wege mit dem
Fahrrad, oder wie jetzt, bei Schnee, gehe ich zu Fuß. Und, das ist doch
komisch, ich habe wieder keine Reisefreiheit." Er lacht. "Nicht ohne Kohle!
Außerdem muss ich jederzeit dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.
Also ich sehe schwarz, auch wie sie das ausnutzen mit der Wirtschaftskrise.
Man zwingt die Leute in sinnlose Beschäftigungsgesellschaften - das habe
ich auch hinter mir - in 1-Euro-Jobs und höhlt einfach den ersten
Arbeitsmarkt aus. Mindestlöhne wollen sie nicht und die Firmen werden doch
geradezu eingeladen zum Betrug mit Kurzarbeitergeld und Qualifizierung.
Oder andere Leute, die arbeiten 40 Stunden voll für einen Hungerlohn und
müssen unterstützt werden. Dem Absinken nach unten sind alle Türen und Tore
geöffnet worden. Hier geht doch alles zu Ende! So ähnlich war es auch
damals 89 beim Untergang der DDR."
Eben rief Mario an: "Ich war heute bei der Fallmanagerin, die krank war,
und sie war überraschend kooperativ. Das hat mir wieder etwas Hoffnung
gemacht."
29 Mar 2010
## AUTOREN
Gabriele Goettle
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