# taz.de -- Peking: Die Jäger des Goldenen Perlhuhns | |
> Eigentlich lohnt sich eine Reise in die chinesische Hauptstadt nicht. | |
> Einzig die "Wilde Mauer" nördlich von Peking muss man erlebt haben. Doch | |
> beim Abschied auf dem Airport hofft man, mal wiederzukommen | |
Bild: Wie nur komme ich in Peking über die Straße, ohne Schaden zu nehmen? | |
Wenn Sie klug sind, bleiben Sie zu Hause, fliegen für zwei Wochen nach | |
Mykonos, oder Sie setzen sich unter einem Apfelbaum in der Provence vor Ihr | |
neues Notebook und bilden sich ein paar Tage lang ein, Sie könnten ein Buch | |
schreiben, das irgendjemand tatsächlich lesen wird. Wenn Sie klug sind, tun | |
Sie, was immer Sie wollen, nur eines nicht: nach Peking fliegen. Aber, da | |
Sie Zeitung lesen, sind Sie wahrscheinlich nicht nur klug, sondern auch ein | |
wenig exzentrisch, und dann interessiert es Sie vielleicht doch, was Sie in | |
Peking erwartet, wenn Sie erst einmal da sind, und das will ich Ihnen gern | |
verraten, denn ich komme gerade von dort. | |
Auf einen kurzen Nenner gebracht: Rechnen Sie mit dem Schlimmsten! | |
Philosophisch betrachtet, würde ich es hingegen anders formulieren: Sie | |
werden sich in Peking drei existenziellen Fragen gegenübersehen, nämlich 1. | |
Wie kann ich die Straße überqueren, ohne überfahren zu werden? 2. Wie | |
entkomme ich den Jägern des goldenen Perlhuhns? 3.Was mache ich hier sieben | |
Tage lang? | |
Wenn es in der Innenstadt von Peking Schafe gäbe, würden sie nicht blöken, | |
sondern hupen. Als Italiener bin ich einiges gewöhnt, aber der tägliche | |
Klassenkampf auf Pekings Straßen hat dann doch etwas Primitives, | |
Archaisches. Hier regiert der Jetta-Fahrer noch mit der eisernen Härte des | |
Steinzeitmenschen über den Fußgänger. Zebrastreifen und Ampeln stellen | |
lediglich aus dem Westen importierte folkloristische Elemente dar. | |
Ganz oben in der automobilen Hackordnung stehen die schwarzen Audis der | |
Manager und Parteigrößen, dann kommen die gelbgrünen Taxis, die sich im | |
Wesentlichen wie die Panzer der Volksbefreiungsarmee verhalten, wenngleich | |
sie nicht über deren Tarnanstrich und Geschütztürme verfügen, und | |
schließlich folgen die privaten Emporkömmlinge in ihren kleinen Citroëns | |
oder Fords. Die schmale mobile Mittelklasse setzt sich aus den | |
motorisierten Rikschas, den Fahrrad-Rikschas, den Elektro-Fahrrädern und | |
den immer selteneren, durch Muskelkraft betriebenen Fahrrädern zusammen, | |
während der einfache Pekingmensch, der um sein Leben rennende Fußgänger | |
also, die niedrigste aller sozialen Lebensformen repräsentiert. | |
Vespas bzw. Roller gibt es hier in Peking praktisch nicht, denn nur vier | |
Räder verheißen grenzenlose Macht und das Privileg, jeden Tag mehrere | |
Stunden lang im Stau zu stehen und sich wie ein reicher Deutscher oder | |
Amerikaner fühlen zu dürfen. Für den Touristen heißt das vor allem eines: | |
Lauf, Forrest, lauf! Jede noch so kleine sich bietende Möglichkeit, die | |
Straße zu überqueren, sollte ohne zu zögern genutzt werden, Goethes | |
"Verweile doch, du bist so schön" wird hier ansonsten schnell zum Epitaph | |
auf dem Touristengrabstein, grüne Fußgängerampel hin oder her. Und keine | |
Angst vor Verkehrspolizisten, es gibt in Peking praktisch keine! | |
Auf der dreistündigen Fahrt zur Großen Mauer im Nordosten der Stadt etwa | |
bitten auch hartgesottene Atheisten die Götter händeringend um Beistand. | |
Wenn der Fahrer auf der Landstraße bei Gegenverkehr in der Kurve überholt, | |
heißt es die Augen schließen, den nicht vorhandenen Sicherheitsgurt enger | |
schnallen und Ihre Seele der Gnade Gottes zu überantworten. | |
Zusammenfassend lässt sich also als Antwort auf Frage 1 feststellen: | |
Verglichen mit dem Straßenverkehr in Peking kann der von Neapel als Teil | |
des preußischen Kulturerbes betrachtet werden. Bill, ein US-Manager aus | |
Schanghai, den ich mit Frau und den beiden Töchtern auf der Großen Mauer | |
treffe, bringt es auf den Punkt: "The Italians are crazy, but not that | |
crazy!" Was uns zur zweiten existenziellen Frage bringt, der sich jeder | |
Besucher - weniger die Besucherin - in Peking gegenübersieht: Wie entkomme | |
ich den Jägern des goldenen Perlhuhns? Alles beginnt wie immer ganz | |
harmlos, aber wehe!, unsere Eitelkeit führt uns dann schnurstracks ins | |
Verderben, wie wir gleich sehen werden. | |
Sind Sie auch so stolz auf Ihr in langen Schuljahren erworbenes und dann im | |
Business verfeinertes Oxford-Englisch? Ja, das sind Sie. Und die Jäger des | |
goldenen Perlhuhns wissen das. Meistens arbeiten sie zu zweit, und es sind | |
vorwiegend junge Frauen, die nicht unbedingt schön, dafür aber in allen | |
sprachlichen Kampfkünsten ausgebildet sind. Einige von ihnen geben sich als | |
Kunststudentinnen aus, andere als Fachkräfte der chinesischen | |
Automobilindustrie, was den Zweck hat, das ausgezeichnete Englisch der | |
Jägerinnen zu erklären und uns naive Kapitalisten in Sicherheit zu wiegen. | |
Wir kommen also mit den freundlichen Einheimischen ins Gespräch, und weil | |
wir moderne, weltoffene Menschen sind, folgen wir ihnen schließlich in ein | |
Café oder Restaurant, wo alles ganz friedlich und normal wirkt, das aber | |
leider nur, bis die Rechnung kommt. Plötzlich wird uns klar, warum unsere | |
charmanten Begleiterinnen einen Tee nach dem anderen bestellt und uns eine | |
Flasche Wein zur typisch chinesischen Mahlzeit empfohlen haben. Die | |
Rechnung für drei Personen schlägt mit 6.000 Yuan zu Buche, sechshundert | |
Euro, und das in einer Stadt, in der Sie normalerweise mit dreißig Euro zu | |
dritt wie Gott in Frankreich dinieren. | |
Hier hilft kein Jammern und kein Wehklagen, nur noch feilschen, und als | |
sich schließlich die beiden Jägerinnen des goldenen Perlhuhns großzügig und | |
durch und durch emanzipiert bereit finden, die Hälfte der Rechnung zu | |
übernehmen, jubelt Ihr unbedarftes Touristenherz, und Sie zahlen die | |
dreihundert Euro, cash oder mit Ihrem guten Namen. Alles endet in lauter | |
Freude und inniger Völkerverständigung, und erst als die Wirkung des teuren | |
Rotweins verblasst und Sie auf ihrem Hotelbett liegen, geht Ihnen auf, dass | |
Sie kein erfolgreicher Manager oder kluger Ministerialdirigent sind, | |
sondern ein kleines Perlhuhn aus dem Westen, das hier in Peking ein für | |
alle Einheimischen sichtbares $-Zeichen auf der Stirn trägt. | |
Bleibt noch die letzte, den hoffnungsfrohen Weltreisenden zunächst | |
verblüffende Frage: Was zum Teufel mache ich sieben Tage lang in Peking? | |
Moment mal, denken Sie jetzt, da ist doch das futuristische Olympiastadion | |
und diese beiden Hochhäuser, die oben zusammenwachsen, ganz zu schweigen | |
vom Platz des Himmlischen Friedens und der Verbotenen Stadt. Und der Mann | |
macht sich Sorgen, dass er sich langweilt! | |
Doch bevor wir jetzt zu zweifeln anfangen, mag zu meiner Verteidigung | |
gesagt sein: Ich war ja dort, und zwar überall, und es war alles ganz | |
anders! Das von den Einheimischen liebevoll "Vogelnest" titulierte | |
Olympiastadion ist Teil einer Anlage, gegen die die Startbahn West des | |
Frankfurter Flughafens als überaus charmant gelten darf, und die manisch | |
depressiven Besuchern nur unter großzügiger Beigabe von Prozac zugemutet | |
werden sollte. Das futuristische Hochhaus der Star-Architekten Scheeren & | |
Koolhaas, die neue Sendezentrale des chinesischen Fernsehens CCTV also, ist | |
aus der Nähe betrachtet von schwindelerregender Hässlichkeit. Und wenn Sie | |
den Platz des Himmlischen Friedens ansprechen, so lassen Sie sich sagen, | |
dass dort zwar durchaus betonbewehrter himmlischer Frieden herrscht, aber | |
nur, weil er fast jeden Tag für das irdische Publikum gesperrt ist. | |
Ganz anders als die Verbotene Stadt, die allen buntbekappten Reisegruppen | |
dieser Welt offensteht und so perfekt renoviert worden ist, dass sie | |
genauso gut neben dem Mirage in Las Vegas stehen könnte. Generell gilt in | |
Peking: Made in China ist auch hier keine leere Drohung, sondern eine in | |
industriellem Maßstab betriebene und perfekt funktionierende Deckung des | |
(Touristen-)Bedarfs. Peking ist so romantisch wie ein Durchlauferhitzer, | |
und jedes Museum in New York oder Paris hat in seiner Asienabteilung mehr | |
echte chinesische Kultur zu bieten als die Hauptstadt des Nordens. | |
Also dann doch lieber nach Miami, wo es wenigstens Striptease-Lokale und | |
Kabelfernsehen gibt? Nein. Nein? Nein, denn das wirklich Fantastische, | |
Sehenswerte, Unglaubliche an Peking ist das, was gleich hinter Peking | |
beginnt, diese steinerne Welle, diese unfassbare, alle Maßstäbe sprengende | |
Komposition aus verwitterten Linien und zwischen den Bergkämmen aufragenden | |
Quadern, diese stumme Melodie inmitten des großen Schweigens der kargen, | |
winddurchfluteten Landschaft: die Große Mauer. | |
Drei Stunden Fahrt, und dann sind Sie in Jinshanling, dort, wo die Große | |
Mauer immer noch die wilde, fast unnahbare Mauer ist, mit ihren steilen, | |
verwitterten, endlosen Treppenstufen und ihrer spröden Schönheit. Fast | |
keine Touristen, nur vereinzelt ein paar Jägerinnen des Perlhuhns, die Sie | |
mit List und finsteren Blicken für ein paar Stunden hinter sich lassen, und | |
dann ist da nur noch der Wind, der blaue Himmel, Sie und die Mauer. | |
Wie gesagt, wenn Sie klug sind, fliegen Sie nicht nach Peking, ganz sicher | |
nicht. Und falls doch, dann nur für ein einziges Mal, um die Große Mauer zu | |
sehen. Ich selbst werde aber wohl trotzdem noch einmal hinfliegen, denn | |
irgendwie ist mir das schwergefallen, fortzugehen, meine ich, als ich da am | |
Terminal 2 vor dem Schalter stand und eingecheckt habe und leise Bye-bye, | |
Peking geflüstert habe. | |
3 Apr 2010 | |
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