# taz.de -- Bildung in NRW: Die leisen Schulrebellen | |
> Die Hauptschule ist ein Auslaufmodell, davon sind Eltern, Schulleiter, | |
> Schüler und selbst CDU-Bürgermeister überzeugt. Deshalb arbeiten sie an | |
> einer Schule für alle. | |
Bild: Für Schülervertreterin Derya kommt die Schulreform zu spät. | |
AUS DEM MÜNSTERLAND taz | Im Schöppinger Rathaus stehen eine massive | |
Holztruhe, eine hohe Standuhr und ein wunderschön verzierter Schrank - | |
Möbel aus dem Nachlass eines ortsansässigen Gutsbesitzers. Bürgermeister | |
Josef Niehoff hat sie für die Gemeinde erworben und ins Rathaus wuchten | |
lassen. Die Möbel illustrieren sehr schön, was Niehoff über das Wesen des | |
Schöppinger Bürgers sagt: bodenständig und verlässlich. | |
Zwei an sich grundsolide Eigenschaften, die zusammen ein kitzliges, ja | |
revolutionäres Potenzial entfalten. Wenn nämlich die Bodenständigkeit akut | |
bedroht ist, dann schlägt das Verlässliche ins Rebellische um. | |
Als Josef Niehoff 1997 sein Amt als Bürgermeister in der | |
7.800-Seelen-Gemeinde antrat, waren noch 47 Kinder für die örtliche | |
Hauptschule angemeldet, genug für zwei Klassen. Der bedächtig redende | |
Bürgermeister hat eine Statistik auf seinen Besuchertisch gelegt. Sein | |
Finger rutscht nach oben: Im Jahre 2005/2006 kamen dann nur noch 16 neue | |
Fünftklässler zusammen. Zu wenig für eine Klasse. "Schöppingen ohne | |
weiterführende Schule, das wäre undenkbar", sagt Niehoff. So undenkbar, wie | |
dass die Menschen im Münsterland plötzlich SPD wählen und Protestanten | |
werden. | |
Niehoff machte sich auf den Weg nach Dortmund zu Ernst Rösner. Rösner | |
arbeitet am Institut für Schulentwicklungsforschung der Technischen | |
Universität. "Die Hauptschule hat keine Zukunft mehr", ist der | |
Schulforscher überzeugt. Die Beweislage ist erdrückend: Nur noch jeder | |
siebte Schüler wechselt heute in Nordrhein-Westfalen an eine Hauptschule - | |
"ein historischer Tiefstand". Zwei Drittel der über 600 Hauptschulen in NRW | |
sind akut gefährdet. Sie können mangels Schüler keine zwei fünften Klassen | |
mehr eröffnen, wie im Schulgesetz vorgeschrieben. Unter den | |
regierungstreuen Bürgermeistern auf dem Lande gärt es. Gleichwohl hält die | |
regierende CDU in Nordrhein-Westfalen an der Hauptschule als Schulform | |
fest. | |
Und wären nicht auch in Schöppingen die Schülerzahlen rasant gesunken, dann | |
hätte sich das CDU-Mitglied Josef Niehoff niemals Rat beim SPD-Berater | |
Rösner geholt. Und er hätte wahrscheinlich auch nie Sätze gesagt wie: | |
"Kinder sollten länger gemeinsam lernen." Und "Wir müssen um jedes Kind | |
kämpfen." | |
Ein ähnlicher Satz fällt am selben Tag rund 30 Kilometer weiter östlich | |
erneut: "Wir müssen mehr Jugendlichen die Möglichkeit geben, ihr Potenzial | |
auszuschöpfen." Das sagt Cem Özdemir, Bundesvorsitzender der Grünen. Er | |
sitzt auf einer Wahlkampfveranstaltung seiner Partei in der Jovel Music | |
Hall am Stadtrand von Münster. Unter den Zuschauern in der abgeteilten Ecke | |
der Konzerthalle befindet sich auch Karl-Heinz Neubert. Mit den schwarzen | |
Klamotten und dem Brilli im Ohr würde er auch nicht weiter auffallen, wenn, | |
wie am Tag darauf, Uriah Heep auftreten statt Cem Özdemir. | |
Kalle, wie ihn Bekannte nennen, ist kritischer Grüner und hat in insgesamt | |
fünf Gesamtschulinitiativen gesessen, davon einige Jahre als Stadtrat. Der | |
letzte Versuch in Münster, eine zweite Gesamtschule zu gründen, scheiterte | |
1996 an einem Volksentscheid. Ausgerechnet als Grüne und SPD erstmals eine | |
Mehrheit hatten. "Meine wohl bitterste politische Niederlage", sagt | |
Neubert. | |
Jetzt macht er wieder Politik, diesmal von unten. Als Leiter der | |
Geistschule, einer Hauptschule in Münster, hatte er im Februar die Presse | |
in die Aula des Schulhauses gebeten. Thema: Ganze acht Schüler standen am | |
letzten Tag der Anmeldefrist auf seiner Liste. "Wir fühlen uns von der | |
Schulpolitik im Land und in der Kommune alleingelassen", sagte Neubert in | |
Mikrofone und Kameras. Nach der Pressekonferenz ließ Schulministerin | |
Barbara Sommer (CDU) in der Schule anrufen. Die schwarz-gelbe Regierung ist | |
nervös. Bildung ist das wichtigste Wahlkampfthema. | |
In der Geistschule sitzen 17 Schüler der fünften Klasse im | |
Biologieunterricht und lesen Texte über gesunde Ernährung. "Wir müssen die | |
wichtigsten Sachen rausschreiben", flüstert Hamid*, der das Thema Wasser | |
bearbeitet. Er gibt seinen Zettel Ursula Jensen, einer jungen Frau mit | |
gütigen blauen Augen. "So viel und so schön hast du geschrieben. Respekt!", | |
sie streichelt seine Wange. Hamid nickt stolz und wird rot. Man fragt sich | |
unwillkürlich, wieso diese elfjährigen Kinder, deren Wille zum Lernen und | |
Weiterkommen noch ungebrochen ist, in eine Schulform gesteckt werden, deren | |
gesellschaftlicher Ruf ruiniert ist. | |
Die Geistschule nimmt sie alle auf: mutmaßliche Minderjährige ohne Papiere, | |
Einwandererkinder ohne Deutschkenntnisse, Kinder, die es nach der | |
Grundschule weder aufs Gymnasium noch auf die Realschule schaffen, und | |
jene, die diese Schulen wieder abgeben. | |
Auch Derya musste wegen schlechter Noten von der Realschule auf die | |
Hauptschule wechseln. Die Schülersprecherin der Geistschule ist eine | |
lebhaft redende 17-Jährige, die über 300 Schüler aus 50 Nationen vertritt. | |
"Wir sind nicht aggressiv", sagt sie, während sie im Schulhaus Aufsicht | |
schiebt. Und erzählt von ihrem Praktikum bei einer Friseuse: Die riss die | |
Augen auf, als Derya ihr eines Tages berichtete, sie käme von der | |
Geistschule. "Von der Assischule?" | |
Der Schulforscher Rösner ist überzeugt, dass es in zehn Jahren keine | |
Hauptschulen mehr geben wird. "Die Eltern stimmen mit den Füßen ab", stellt | |
auch Bürgermeister Niehoff in seinem Bürozimmer in Schöppingen fest. "Ich | |
will, dass die Schule im Ort bleibt", sagte er zu Rösner, als er vor vier | |
Jahren bei ihm vorsprach. Er hätte mehrere Lösungen, stellte der | |
Schulentwickler sein Angebot vor wie ein Autohändler seinen Fuhrpark. | |
Gemeinschaftsschulen wären wohl pädagogisch am fortschrittlichsten. Rösner | |
hatte ein ähnliches Konzept für Schleswig-Holstein entworfen, als den | |
ländlichen Schulen die Schüler ausgingen. Niehoff entschied pragmatisch: | |
"Wenn die Gemeinschaftsschule das modernste Modell am Markt ist, nehme ich | |
es." | |
Er besprach sich mit dem Kollegen der Nachbargemeinde Horstmar, ebenfalls | |
ein CDUler, und befragte die Eltern. Die Gemeinschaftschule soll es sein, | |
waren sich alle einig. Die Kinder können dort bis zur 13. Klasse gemeinsam | |
lernen. Die Schule bleibt am Ort, die Vereine bekommen Nachwuchs und die | |
zahlreichen Unternehmen genügend Lehrlinge. | |
Allein die Landesregierung war dagegen. CDU und FDP steckten lieber 100 | |
Millionen Euro in eine "Qualtitätsoffensive" zur Rettung der Hauptschulen. | |
Mit der Landesregierung einigten sich die Bürgermeister von Horstmar und | |
Schöppingen schließlich auf einen Kompromiss: Sie dürfen eine Verbundschule | |
gründen; das heißt, die Schöppinger Schule erhält einen Zweig für | |
Realschüler und in Horstmar wird eine Dependance des Steinfurter Gymnasiums | |
gegründet. | |
Haupt-, Realschüler und Gymnasiasten werden also fächerweise getrennt | |
unterrichtet, sind aber zumindest in Schöppingen auf Armlänge | |
zusammengerückt. "Hätten wir uns nicht darauf eingelassen, dann hätten wir | |
die Schule dicht machen müssen", sagt Niehoff. In diesem Jahr kletterten | |
die Anmeldezahlen für die Verbundschule auf über 90 Schüler, davon 34 für | |
den Hauptschulzweig. | |
Auf Expansionstour ist auch Karl-Heinz Neubert, der mit einem Wohnmobil-VW | |
zur benachbarten Berg-Fidel-Grundschule unterwegs ist. Vor der Schule | |
erwartet ihn Reinhard Stähling, ein großer Mann mit breiten Schultern. Bis | |
tief in die Nacht haben die beiden Schulleiter gestern noch | |
zusammengesessen. Das Ergebnis ihrer Arbeit ist ein schmales Bündel Seiten, | |
der Arbeitstitel lautet: Internationale Gemeinschaftsschule von Klasse 1 | |
bis 13. | |
Die beiden Schulleiter wissen allerdings: Unter der jetzigen | |
Landesregierung hätten diese Überlegungen keine Chance. Deshalb hoffen sie | |
auf eine neue Regierung, um ihre Idee ab 2011 umzusetzen. | |
Zu spät für Derya. Sie hat sich unterdessen für die Abiturstufe der | |
katholischen Gesamtschule in Münster beworben. "Selbst die Lehrer erklärten | |
uns für verrückt", sagt sie. Wieso sollte ausgerechnet eine Schule, die | |
jedes Jahr hunderte Bewerber ablehnt, vier Hauptschüler aufnehmen, drei | |
davon Muslime? Sie ließen sich nicht abbringen und fuhren zur | |
Friedensschule, um beim Schulleiter persönlich vorzusprechen. "Wir wurden | |
sehr freundlich empfangen und es geschafft." Derya strahlt und in ihrem | |
Lächeln liegt die Überzeugung: Selbst festgefügte Traditionen und solide | |
Überzeugungen lassen sich überwinden. Man muss nur frech sein, und sich auf | |
den Weg machen. | |
*Name geändert | |
5 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
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