Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Integration in Deutschland: Viel besser als ihr Ruf
> Erstmals hat der Sachverständigenrat ein Integrationsbarometer erstellt.
> Es zeigt, dass Migranten und Deutschstämmige pragmatisch und mit
> Grundvertrauen zusammenleben.
Bild: Alles ist möglich.
BERLIN taz | Geht es in der öffentlichen Debatte um die
Einwanderungsgesellschaft, wird gerne das Schreckensbild von der
gescheiterten Integration beschrieben. Von Schulversagern, Arbeitslosen und
integrationsunwilligen Türken ist dann die Rede, von Zwangsheiraten,
Parallelgesellschaften und kriminellen Migrantenkids.
Das Jahresgutachten, das der [1][Sachverständigenrat deutscher Stiftungen
für Integration und Migration] am Mittwoch vorgestellt hat, wirft ein
anderes Licht auf den Zustand der deutschen Einwanderungsgesellschaft:
"Integration in Deutschland ist, trotz einiger Problemzonen,
gesellschaftlich und politisch ein Erfolgsfall", so lautet das Fazit von
Klaus J. Bade, dem Vorsitzenden des Sachverständigenrats. "Sie ist im
internationalen Vergleich viel besser als ihr Ruf im Land."
Grundlage dieser Einschätzung ist das erste Integrationsbarometer, eine
repräsentative Studie, für die der Sachverständigenrat 5.600 Menschen mit
und ohne Migrationshintergrund in den traditionellen Zuwanderungsgebieten
und Ballungsräumen Rhein-Ruhr, Stuttgart und Rhein-Main befragen ließ.
"Das Integrationsbarometer signalisiert verhaltenen Integrationsoptimismus
auf beiden Seiten der Einwanderungsgesellschaft, ein gemeinsames,
pragmatisches Verhältnis zu Integrationsfragen und ein belastbares
gegenseitiges Grundvertrauen", fasst Bade das Ergebnis zusammen.
Der mit dem Integrationsbarometer erstmals gemessene
Integrationsklima-Index, der künftig zweijährlich erhoben werden soll,
registriert laut Bade "einen positiven Mittelwert": Auf einer Skala von 0
(sehr schlecht) bis 4 (sehr gut) liegt er für das vergangene Jahr bei der
Mehrheitsgesellschaft bei 2,77, bei den Einwanderern mit 2,93 noch etwas
höher. Der Index misst Erfahrungen und Einstellungen der Befragten für
verschiedene Bereiche der Integration, darunter Arbeitsmarkt, Nachbarschaft
und das Bildungssystem.
Die Studie des unabhängigen Sachverständigenrat, den acht Stiftungen Ende
2008 ins Leben riefen und dem neben Bade acht weitere renommierte
WissenschaftlerInnen angehören, ist eine echte Neuerung: Die Forscher haben
erstmals Menschen mit und ohne Migrationshintergrund nach ihren
Einschätzungen und Erwartungen in Sachen Integration und Migration sowie
zur entsprechenden Politik befragt. Und sie haben erhoben, was die beiden
Seiten der Einwanderungsgesellschaft voneinander halten und erwarten.
Dabei hat der Sachverständigenrat durchaus überraschende Tendenzen zu Tage
befördert: So bescheinigen Deutsche und Einwanderer sich selbst und auch
der jeweils anderen Gruppe ein Interesse an Integration. Nur ein Viertel
der Migranten und ein Fünftel der Deutschstämmigen gehen davon aus, dass es
der eigenen Gruppe an Integrationsinteresse mangelt. Und nur ein Fünftel
der Einwanderer und 30 Prozent der Mehrheitsbevölkerung sehen bei der
anderen Gruppe einen Hang zur Integrationsverweigerung.
Das widerspricht dem in Medien, Politik und bei Migrantenorganisationen
weit verbreiteten Bild von den integrationsunwilligen Einwanderern einer-
und den integrationsfeindlichen Deutschen andererseits. "Keine Seite sieht
sich selbst oder die andere generell als Blockierer, vielmehr erkennen
beide den insgesamt positiven Beitrag der eigenen und der anderen Seite zur
Integration an", heißt es in der Studie.
Beide Seiten sind sich im Wesentlichen auch darüber einig, welche Maßnahmen
für die Integration besonders wichtig sind: Die Bekämpfung von
Arbeitslosigkeit und Diskriminierung sowie die Bereitstellung von
Sprachkursen. In den Erwartungen, die mit Blick auf die Integration an die
Einwanderer gestellt werden, liegen beide Gruppen ebenfalls nicht weit
auseinander: Die Migranten sollen sich um Arbeit bemühen, Deutsch sprechen,
einen guten Abschluss anstreben, die hiesigen Gesetze beachten und
Freundschaften mit Deutschen schließen, fordern beide Gruppen häufig.
Eher selten wird verlangt, dass die Einwanderer religiöse und kulturelle
Lebensweisen aufgeben und Interesse an deutscher Kultur und Geschichte
zeigen. Die Studie bescheinigt Deutschen und Einwanderern ein
"pragmatisches Integrationsverständnis", das - abweichend von Politik und
Publizistik - auf die Forderung nach kulturelle Anpassungsleistungen
weitgehend verzichte.
Die meisten Befragten fühlen sich wohl in Deutschland. Mit einem kleinen
Unterschied: Während nur jeder 20. Migrant sagt, er fühle sich unwohl, ist
es bei den Deutschstämmigen jeder 15. Die erlebte Diskriminierung ist bei
den Migranten laut Studie "geringer als erwartet": Je nach Bereich haben
zwei Drittel bis 80 Prozent damit keine Erfahrung. Besonders selten soll
diese im Bereich der Religionsausübung sein - was der weit verbreiteten
Darstellung widerspricht, praktizierende Muslime würden diskriminiert.
Am häufigsten wird Diskriminierung bei Ämtern und Behörden beklagt. Positiv
schätzen beide Seiten die Integrationspolitik ein: Jeweils etwa die Hälfte
beider Gruppen meint, dass sich die Integrationspolitik der letzten fünf
Jahre "wesentlich" oder zumindest "etwas" verbessert habe. Zur
gegenteiligen Einschätzung kommen nur zehn bis 15 Prozent der Befragten.
Die Hälfte beider Gruppen erwartet entsprechend in der Zukunft
Verbesserungen bei der Integration. Nur jeder siebte Befragte ohne
Migrationshintergrund und jeder sechste Einwanderer rechnet mit
Verschlechterungen.
"Auch die Politik ist endlich in der Einwanderungsgesellschaft angekommen",
meint Migrationsforscher Bade - und schränkt sein Lob umgehend wieder ein.
Zum jahrzehntelangen friedlichen Zusammenwachsen habe die Politik wenig
beigetragen - und sich meist verspätet und "eher widerwillig" der
Entwicklung angepasst. Erst in den vergangenen zehn Jahren habe die Politik
auf einen Integrationskurs umgesteuert. Dies, so möchte man ergänzen, gilt
ganz besonders für die Union.
Trotz vieler positiver Ergebnisse warnt auch der Sachverständigenrat vor
Problemen. So könne von gleichen Bildungs- und damit Lebenschancen von
Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund nicht die Rede sein. Trotz
des friedlichen und pragmatischen Umgangs mit Integration könne die
steigende Anzahl der "perspektivlosen sozialen Verlierer" zu aggressiver
Spannung führen, die den sozialen Frieden gefährde. Bade nennt das ein
Integrationsparadox. Nötig sei eine gezielte, auch nachholende Bildungs-
und Qualifikationsoffensive, die die Vererbung sozialer Startnachteile
begrenze. "Bildungsinvestitionen sind nachhaltiger als Bankensubventionen",
so der Migrationsforscher.
In der Bildung sieht er ein zweites Paradox. Obwohl - überraschender Weise
- beide Gruppen positive Erfahrungen mit ethnisch heterogenen
Schülerschaften gemacht haben und Chancengleichheit im Bildungssystem
fordern, zweifeln Mehrheitsgesellschaft und Einwanderer daran, dass Kinder
an ethnisch gemischten Schulen genauso viel lernen wie an anderen.
Entsprechend sind Eltern beider Gruppen - insbesondere wenn sie Mittel- und
Oberschicht angehören - häufig nicht bereit, ihre Kinder auf Schulen mit
einem hohen Migrantenteil zu schicken.
Dieser "sich selbst verstärkende bildungspolitische Teufelskreis" müsse
durchbrochen werden, fordert der Sachverständigenrat - mit nachhaltiger
finanzieller, personeller und konzeptioneller Förderung der betroffenen
Schulen. An der Bildungsmisere kommt eben auch ein optimistischer
Integrationsindex nicht vorbei.
19 May 2010
## LINKS
[1] http://www.svr-migration.de
## AUTOREN
Sabine am Orde
## ARTIKEL ZUM THEMA
Migration und Bildung: Chancengleichheit nicht in Sicht
Trotz der Sonntagsreden über Integration: MigrantInnen werden im
Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt noch immer deutlich benachteiligt,
zeigt ein neuer Bericht.
Kommentar Integrationsbarometer: Studie ohne Opfer
Das Integrationsbarometer zeigt den Feuilletons und Politikredaktionen wie
weit entfernt von der Wirklichkeit ihre Debatten sind. Denn es geht um
soziale, nicht um kulturelle Diskurse.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.