# taz.de -- Lena Meyer-Landrut beim Grand Prix: Junge Frau in Oslo, unbekümmert | |
> Eine Woche lockerer Anlauf in Oslo: Mit Lena Meyer-Landrut und ihrer | |
> angemessen jugendlich-größenwahnsinnigen Allüre, ein Star des Jahres 2010 | |
> zu werden, beim Eurovision Song Contest. | |
Bild: Sail away/Dream your dreams/You will always find a chance to make your fe… | |
OSLO taz | Dann taucht sie plötzlich auf, auf dem Hotelflur, gibt jedem, | |
der vor ihr verblüfft stehen bleibt - "Ist das wirklich Lena?" - die Hand, | |
sagt nicht ohne Grazie, vorsichtig, beinahe schüchtern, "Guten Tag" und | |
verschwindet in einem wirklich nicht sehr geräumigen Zimmer, um Interviews | |
zu geben. Verliert sie wenigstens jetzt die Nerven? Dass sie sich einer | |
Fragesituation aussetzen muss, die, schon räumlich, heftig eng ist. Aber | |
sie lächelt. Sie sieht noch viel schmaler aus als im Fernsehen, sie hat, so | |
sagt es ein Mensch vom Fernsehen, offenbar ihre Essgewohnheiten, ihren | |
Körper überhaupt vollständig unter Kontrolle. Ihre Miene ist, recht | |
besehen, noch bezaubernder, als man es aus inzwischen allen Medien kennt, | |
und sie spricht auch im wahren Leben so, wie sie eben spricht: "Das Bild | |
ist wunderschönst", sagt sie über ein Foto für ihr erstes Album "My | |
Cassette Player". | |
Mittwochvormittag, vier Tage vor ihrem Auftritt beim 55. Eurovision Song | |
Contest. Sie ist bislang nicht irre geworden an dem Druck, der doch | |
irgendwie auf ihr lasten muss. Sie hat eben das Abitur geschafft, will, so | |
gab sie einmal zu Protokoll, Schauspielerin werden. Und doch weiß man nicht | |
so richtig, was sie eigentlich darstellt, denn am Ende wird man doch immer | |
sie erkennen, eine Hannoveranerin, die ihren Eigensinn kultiviert. Und die | |
mit Lust am Risiko, ohne die Mutter oder die beste Freundin im Gepäck, in | |
Stefan Raabs Castingbox fährt und einfach eine Art Lautmalerei anbietet. | |
Lena Meyer-Landruts angemessen jugendlich-größenwahnsinnige Allüre, einfach | |
mal zu gucken, ob das mit dem Starwerden klappen könnte, hat die Gutachter | |
über diesen Urauftritt bei der Produktionsfirma Brainpool flachgelegt. Es | |
muss "wunderschönst" gewesen sein. | |
Lena Meyer-Landrut sagt gern solche Worte. Die stehen nicht im Wörterbuch, | |
sind aus der Sekunde geboren und bilden insofern ein individuelles | |
Lena-Vokabular. Alles über sie ist gesagt worden, seit Stefan Raab Anfang | |
Februar, zum Auftakt des deutschen Eurovisionscastings "Unser Star für | |
Oslo" bemerkte, er sei von ihr "geflasht", vom Blitz getroffen worden. Und | |
das genießt sie, in keiner Sekunde wirkt sie in Oslo, soweit man das | |
beurteilen kann, gestresst, genervt, zickig, verzweifelt, scheinruhig. Es | |
ist wohl das, was sie wollte: ein Star, der Star des Jahres 2010 in | |
Deutschland schon jetzt, zu werden. | |
Im Omnibus, der sie und ihre Entourage zum Rathaus von Oslo fährt, direkt | |
auf den pinkfarbenen Teppich, über den sie schreiten soll, verteilt sie | |
kleine Hütchen, bunt und kindergeburtstagsniedlich. Sie hat Geburtstag, 19 | |
Jahre wird sie heute alt. Ihre Angehörigen sind angereist, aber das ist | |
privat und kein Gegenstand von Fragen und Antworten. Was macht so ein | |
Papphütchen auf dem Kopf? Lena sagt: "Dann bist du gleich gut drauf." | |
Im Rathaussaal lässt sie sich mühelos durch Kameraleute in Ecken drängen, | |
gibt Interviews, sagt Sätze wie "Es gefällt mir alles, wirklich alles hier" | |
und könnte wahrscheinlich auch die chemische Zutatenliste einer Fertigpizza | |
vorlesen und erntete dafür immer noch die Zufriedenheit der Journalisten. | |
Lena, Hauptsache Lena Meyer-Landrut, die heißeste Popware der deutschen | |
Öffentlichkeit, die Helene Hegemann ohne Volksbühnenverschwurbeltheit, | |
dafür aber mit magischer Begabung zur Performance. | |
Irgendwas muss doch an ihr Schmutziges sein. Auch diese Frage stellt man | |
sich in Oslo, die Bild am Sonntag übernimmt den Job an der Heimatfront. | |
Aber an Lena Meyer-Landrut perlt erstaunlicherweise alles ab. | |
Schulangehörige, Verwandte, Nachbarn, Supermarktbekanntschaften aus | |
Hannover - man schweigt, kaum dass ein Reporter des Boulevards auftaucht. | |
Lena Meyer-Landrut, diese Übereinkunft gibt es nun auch in Oslo, soll rein | |
bleiben, nicht auf das pornografoide Muster eines Dieter-Bohlen-Schützlings | |
angepasst werden. Lena Meyer-Landrut ist das Alternativmodell für alle | |
jungen Frauen, die sich den Bildern von Boxenludern und Promischlampen | |
verweigern wollen. Schließlich kommt sie, Kind einer alleinerziehenden | |
Mutter, aus mittelschichtigem Stall, hat Manieren, weiß sich zu benehmen. | |
Mediale Lumpenjäger | |
Nur die Bild-Zeitung musste neulich ihren Vater ausgraben, der seit Jahren | |
keinen Kontakt mehr zu ihr hat. Doch auch diese trübselige Recherche perlte | |
offenbar an der Performerin ab. Kein Kommentar jedenfalls. Schließlich geht | |
es nicht darum zu fragen, was ohnehin nicht Sinn der Sache ist. Und so ist | |
ihre größte Leistung schon jetzt, sich die Lumpenjäger des Medienbetriebs | |
vom Leib gehalten - und sich dennoch nicht aus der Welt zurückgezogen zu | |
haben. | |
Der Sinn der Sache aber ist, Lena Meyer-Landrut weiter zu bestaunen. Dass | |
sie in Oslo im Grunde ihre Abi-bestanden-Reise macht, dass sie die Gunst | |
nutzen darf, nun nicht nur per Interrail unterwegs zu sein, dass sie so ein | |
schönes, irgendwie gefaktes Englisch spricht. Dass sie als Sängerin über | |
magere Oktavspielräume verfügt und doch jeden Ton trifft, dass sie eine | |
junge Frau ist, die als Deutsche nicht diesen "typical German weltschmerzy | |
sound" bedient, über den sich einst Hildegard Knef so ermüdet erregte. Dass | |
Lena Meyer-Landrut, kurzum, irgendwie den Anschein von ungeschminkter | |
Natürlichkeit verbreitet - ohne wie ein gezähmtes Bambi daherzukommen. | |
Depressive Finnen | |
Ihr, die Alice im Wunderland des Unterhaltungsgewerbes, geht sogar die | |
Neigung ab, instinktiv das Niederlagenhafte von sich fernzuhalten. Als sie | |
im Eurovisionhotel am Osloer Hauptbahnhof eintrifft, muss sie durch das | |
Foyer. Dort schleicht gerade ein Rudel Finnen auf dem Weg nach Hause, am | |
Abend zuvor im ersten Halbfinale der Vorrunde des Grand Prix Eurovision | |
ausgeschieden. Finnland - mal wieder an den Rand des Kontinents gedrängt, | |
so kommentierte es die Delegationsleitung auf dem Rückweg gen Helsinki. Man | |
sieht in depressive Gesichter, in verweinte Augen. Lena Meyer-Landrut sieht | |
das nicht, hat keine Augen für das, was kommen mag. | |
Vielleicht nämlich gewinnt das Wesen mit der Nummer 22 am Samstag - gegen | |
22.37 Uhr am Start - gar nicht, wie das alle deutsche Welt von ihr | |
erwartet. Vielleicht wird ihr erst am Samstag auf der Bühne klar, dass | |
gerade 120 Millionen Leute in Europa und Israel live zusehen. Wird ihr | |
"Satellite" abstürzen? Wird sie sich genießen können? Dächte sie dann | |
daran, dass nach jedem High ein Kater kommen wird, ein leichter oder ein | |
schwerer, würde sie womöglich nervös werden. | |
In Oslo ist alles grün geworden, ein Frühling im höheren Norden. Die | |
Temperaturen sind eher frisch bis kühl, verlässlich regnet es einmal am | |
Tag. Vorjahressieger Alexander Rybak schätzt sie als Favoritin ein, sagt, | |
wie er werde sie sich nicht verbiegen lassen und bleiben, was sie sein | |
möchte. Das ist, alles in allem, das fetteste Lob, das sie sich verdienen | |
konnte hier in Norwegens Hauptstadt, wo sie Deutschland von der Last | |
befreien soll, dass eine Saarländerin namens Nicole Hohloch 1982 als | |
bislang einzige Deutsche den Eurovision Song Contest gewinnen konnte - ihr | |
"Ein bisschen Frieden" war damals der schlimmste Hochverrat an der Idee der | |
Friedensbewegung. Lena Meyer-Landrut kann da was richtigstellen: So | |
bekennend provinziell ist ihr Land längst nicht mehr. | |
28 May 2010 | |
## AUTOREN | |
Jan Feddersen | |
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