# taz.de -- Schrumpfende Kleinstadt: Wittenberge stirbt | |
> Im Berliner Gorki Theater wurde das Mammutprojekt "Social Capital - Über | |
> Leben im Umbruch" bilanziert. Drei Jahre wurde die Brandenburger | |
> Kleinstadt Wittenberge beforscht. | |
Bild: Eine allerletzte Nutzung der Wittenberger Abrisshäuser. | |
BERLIN taz | "Mangel, Leere, Außen, Nichtigkeit." Um die Ergebnisse von | |
drei Jahren Forschungsarbeit zusammenzufassen, genügen Heinz Bude wenige | |
Worte. Der Hamburger Soziologe, der am Donnerstagabend auf der Bühne des | |
Berliner Maxim Gorki Theaters über das Langzeitprojekt "Social Capital - | |
Über Leben im Umbruch" Bilanz zieht, ist nicht gewillt, eine | |
Erfolgsgeschichte zu erzählen. | |
"Mit dem, was wir herausgefunden haben, ist buchstäblich nichts zu machen", | |
sagt der Forscher. "Wir haben nichts Seriöses oder Unterstützenswertes | |
gefunden." Es klingt wie: Ja, wir haben 1,7 Millionen Euro Fördergelder | |
bekommen und bei dem Projekt versagt. | |
Natürlich haben sie nicht versagt, die 28 Soziologen, Ethnologen und | |
Doktoranden verschiedener Forschungseinrichtungen, die unter Budes Leitung | |
das Leben in der brandenburgischen Kleinstadt Wittenberge untersuchten. | |
Budes trotzige Rede sollte vielmehr den Ergebnisdruck von dem Mammutprojekt | |
nehmen, das unter großem Interesse der Öffentlichkeit eine soziologische | |
Tiefenbohrung in einer schrumpfenden Stadt vorgenommen hat. | |
Genaue Bestandsaufnahme | |
Vor der Wende war Wittenberge ein bedeutender Industriestandort mit 40.000 | |
Einwohnern und einem Nähmaschinenwerk. Nach dem Wegfall von 8.000 | |
Arbeitsplätzen leben in der Stadt am Elbtal heute 19.000, Tendenz sinkend. | |
Wie werden die Menschen mit dem sozioökonomischen Umbruch fertig? Wie | |
strukturieren sie ihre sozialen Beziehungen, welche Ressourcen und | |
Strategien bringen sie zum Einsatz? Können sie neues soziales Kapital aus | |
ihrer Situation schlagen? | |
Um das herauszufinden, führten die WissenschaftlerInnen unzählige | |
Interviews und traten über Aufführungen am Projekt beteiligter | |
Theatermacher mit den Wittenbergern in Dialog. Die dreitägige Konferenz mit | |
Theaterspektakel lieferte keine großen Wahrheiten oder | |
Handlungsanweisungen. Dafür aber Interpretationen, aus der akribischen | |
Bestandsaufnahme des Wittenberger Lebens destilliert. | |
Ein Panel über internationale Befunde verortete Wittenberge in einer | |
Kartografie globaler Brüche. Einen Niedergang des Teilhabekapitalismus | |
konstatierte der Ökonom Rainer Land vom mecklenburgischen Thünen-Institut. | |
Mit den ökonomischen Ressourcen des Wohlfahrtsstaates schwinde auch die | |
Teilhabe; den Menschen bleibe nicht mehr als eine "entleerte | |
Individualitätsentwicklung". | |
Der Dessauer Bauhaus-Leiter Philipp Oswalt zeigte Beispiele seiner | |
"Shrinking-Cities"-Forschung: Communal Gardening in Detroit, | |
Reagrarisierung im russischen Iwanowo, Neuerfindung als Musikstadt in | |
Manchester und Liverpool. Vielleicht könne sich Wittenberge ja auch neu | |
erfinden, lautete die hoffnungsvolle Frage aus dem Publikum. Dafür mangele | |
es den Wittenbergern an Mythen, konterte Bude. Man habe dort eine | |
"metaphysische Wüste" vorgefunden. | |
Tote Hose in Wittenberge? Dass dem nicht so ist, wird spätestens bei den | |
Nachmittagsvorträgen deutlich, wo Wittenberger Einzelbefunde diskutiert | |
werden. Zum Beispiel das Vereinswesen. Wittenberge verfüge trotz sozialer | |
Fragmentierung über eine beachtliche Anzahl von Vereinen, konstatiert | |
Michael Thomas vom Berliner Institut für Sozialwissenschaftliche Studien | |
(BISS). | |
Diese identitätsstiftenden Institutionen seien meist Vor-Wende-Gründungen | |
und besäßen starken Beharrungscharakter. Im Line-Dance- oder | |
Kleingartenverein lege man Wert auf Kollektivität, Ordnung und tradiertes | |
Wissen. Die Jugend bleibe außen vor. Thomas Fazit: "Wittenberge stirbt mit | |
seinen Vereinen." | |
Ähnlich der Befund der Ethnologin Anna Eckert, die sich mit der regen | |
Schrebergartenkultur befasste. Die sei längst ausgehöhlt: Jüngere | |
Wittenberger kaufen beim Discounter ein, der Garten sei Ort für Freizeit | |
und Konsum - was der eisern hochgehaltenen Gartenordnung widerspreche. | |
Oasen des langsamen Lebens und "Orte sozialer Weitherzigkeit" fanden | |
immerhin die Forscher Ina Dietzsch und Dominik Scholl. Es gebe kleine | |
Freundschaftsnetzwerke, sozial orientierte Händler. Und viele Einzelne, die | |
sich mit Holzbrenneröfen, Gärten und Survival-Mentalität für den Untergang | |
der Gesellschaft rüsteten. "Wenn der Euro nichts mehr wert ist, mache ich | |
mir eben einen Salat aus Löwenzahn", so ein Mann. | |
Was könnte die Rettung sein für das Elbtalstädtchen? Die Verdörflichung, um | |
Tourismusziel zu werden? Das Werben um Industrie, um als "Wachstumskern" | |
Strukturgelder anzuwerben? Antworten geben die Soziologen nicht. Auch nicht | |
die im Brinkmann-Zimmer des Gorki Theaters zu hörenden Alltagsausschnitte | |
von Wittenbergern oder die Bilder von Leerstand und Verfall, die im | |
Theaterfoyer die Ratlosigkeit vertiefen. Einfach bleiben, wie man ist. | |
Und hoffen, dass sich dann doch einer findet. Das ist das Rezept der | |
einsamen Sabine in Juliane Kanns am Donnerstag uraufgeführtem Stück | |
"Fieber". Sabine findet entgegen aller Wahrscheinlichkeit ein bisschen | |
Glück in der Schrumpfstadt. Und seufzt im Blütenregen: "Ich wusste, dass | |
das hier ein magischer Ort ist. Es hat mir nur keiner geglaubt." | |
6 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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