# taz.de -- Flanders textile Tradition: Frankreichs blaue Blume | |
> Zwischen Mitte Juni und Anfang Juli wippen tausende | |
> von lavendelfarbenen Blüten auf hohen Halmen: Es blüht der Flachs. | |
Bild: Flachsblüte | |
Der Wind, der von der Opalküste herweht, frischt auf. Drüben, bei | |
Zuydcoote, freuen sich jetzt die Strandsegler, die in ihren schnittigen | |
Gefährten über den feinkörnigen Sand sausen. 20 Kilometer weiter im | |
Landesinneren spielt der Wind den ungestümen Friseur. Mit Schwung fährt er | |
in das Feld vor uns. Tausende Granny-Smith-grüner Stengel, gekrönt von | |
zartblauen Blüten, verneigen sich vor ihm. Die Brise bürstet und kämmt das | |
Feld, legt es in grün-blaue Wellen. | |
Sie verwurschtelt, glättet und beginnt ihre Kunst von neuem. Eine | |
Augenweide. Arnaud van Robaeys ist ein paar Schritte in sein Feld gestakt | |
und steht nun da wie ein Leuchtturm in der Brandung. Der Landwirt, dessen | |
Großvater schon Flachs anbaute, will uns diese uralte Kulturpflanze | |
näherbringen. „Heute Abend ist das Spektakel vorbei“, sagt er und fährt m… | |
der Hand sacht über die Halme.“ Die Flachsblüte ist der Inbegriff des | |
Ephemeren. Geboren mit der Morgenröte, wirft sie ihre Blätter unter der | |
Wärme der Nachmittagssonne wieder ab, um Platz zu machen für ihre | |
unzähligen Geschwister des nächsten Tages. | |
Zwei, drei Wochen dauert das blaue Wunder an, und am schönsten erlebt man | |
es mit dem Fahrrad. Auf Teersträßchen, eingefasst von Weißdornhecken, | |
surren unsere Reifen an Flachsfeldern vorbei, die sich mit reifendem Weizen | |
und Hafer abwechseln. Auf fetten Wiesen stehen Kühe, weiß-blauschwarz | |
gefleckt, und fressen sich kolossale Hinterbacken an. Jedes Jahr, sobald | |
die Bauern gesät haben, legt das Tourismusbüro in der Kreisstadt | |
Hondschoote eine Rundtour, die rallye bleue, auf einer neuen Route an. | |
„Denn Flachs braucht zwar keinen Dünger und kaum Pflanzenschutzmittel, aber | |
er kann nur alle sieben Jahre auf demselben Acker wachsen“, erklärt Arnaud. | |
So schlängelt sich die knapp 40 Kilometer lange Radstrecke, die von Juni | |
bis September ausgeschildert ist, in immer anderen Varianten zwischen den | |
Ortschaften hindurch. Diese heißen Quaëdrypre, Rexpoëde, Oost-Cappel oder | |
eben Hondschoote. Ihre Namen erinnern daran, dass der Landstrich zur | |
Grafschaft Flandern gehörte, bevor er im 17. Jahrhundert an die | |
französische Krone ging. | |
Die mit braunroten Klinkersteinhäusern gesprenkelte Gegend südlich von | |
Dünkirchen, zwischen Nordseeküste und belgischer Grenze gelegen, ist die | |
französische Wiege des Faserleinens. Bis ins 19. Jahrhundert war der Flachs | |
neben Hanf und Wolle die einzige Textilfaser in Europa. Baumwolle wurde | |
noch nicht importiert. Aus dem wasser- und schmutzabweisenden Material | |
fertigten die Menschen nicht nur Kleidung, Bettwäsche und Säcke, sondern | |
auch Schiffssegel und sogar die Tragflügel der ersten Flugzeuge. Ab 1960 | |
verschwand das Blau immer weiter aus der Landschaft. Synthetik kam in Mode. | |
Doch in den vergangenen Jahren hat sich die Nachfrage nach Leinen | |
verdoppelt. Die natürliche, bei heißem Wetter so angenehme Faser liegt | |
wieder im Trend. Vor allem hängt es aber mit solchen Menschen wie Herrn Li | |
zusammen. Es ist die gewaltige Textilindustrie Chinas, die über 80 Prozent | |
des französischen Flachs aufkauft. In Form von Hosen, Hemden, Jacken, Laken | |
oder Tapeten schickt sie ihn nach Europa zurück. In Frankreich wird kaum | |
noch gesponnen. | |
Es ist Sonntag, aber Geschäft ist Geschäft. Deswegen geht Arnaud van | |
Robaeys jetzt auch mit Herrn Li in seine Lagerhalle. Zu Ballen verpackt | |
oder zu Knoten geschlungen, warten Tonnen von silbrig-grauem, seidig | |
gekämmtem Flachs des vergangenen Jahres darauf, gekauft und gesponnen zu | |
werden. Es sieht hier aus wie im Märchen vom Rumpelstilzchen, in dem die | |
unglückliche Königstochter ein Zimmer voller Flachs zu Gold spinnen soll. | |
Mit Kennerblick zieht der chinesische Händler Probefasern durch die Finger | |
und nickt anerkennend. | |
Natürlich ernten, brechen und kämmen heute Maschinen den Flachs. Trotzdem | |
ist er ein Produkt geblieben, dessen Qualität von Sonne, Wind und Regen | |
abhängt. Nach der Ernte im August bleiben die Garben bis zu acht Wochen | |
lang auf dem Feld liegen. Beim Verrottungsprozess lösen sich die holzigen | |
Innenteile von der fasrigen Außenschicht. Van Robaeys ist auf das flämische | |
Leinen stolz wie ein burgundischer Winzer auf seine Weinstöcke. „Unser | |
Trumpf ist unser ,terroir‘“, sagt er. „Unsere Lehmtonböden und das marit… | |
Klima bringen Fasern hervor, die sowohl fein als auch reißfest sind.“ Wie | |
beim Wein gibt es gute und schlechte Jahrgänge. So war 2008 ein | |
hervorragender, dessen Ergebnisse in diesem Sommer in den Modeläden hängen. | |
Aber selbst schlechte Jahrgänge finden Verwendung, zum Beispiel im Auto- | |
und Flugzeugbau und schlagen da noch die Qualitäten von Glasfaser. Aus den | |
Samen wird Öl gepresst. Sogar Bier kann mit den Leinsamen gemacht werden. | |
Wir probieren es im Hofladen von Landwirt Vantorre in Rexpoëde. Dazu reicht | |
er uns Wurst und Fleisch seiner Kühe. „Wir mischen ihrem Futter Leinsamen | |
bei“, erklärt uns Vantorre. | |
Wir treten weiter in die Pedale, überqueren die belgische Grenze und kommen | |
ins kleine Izenberge. In dem Museumsdorf „Bachten de Kupe“ zeigen | |
historische Geräte, wie schweißtreibend die Arbeiter vor der | |
Industrialisierung dem Flachs seine Bestandteile entreißen mussten. Die | |
„Flämische Mühle“ beispielsweise, die zum Flachsbrechen diente und mit | |
Pedalen angetrieben wurde, erinnert an einen Fitness-Stepper - allerdings | |
ohne Haltegriffe, denn mit den Händen mussten die Arbeiter die Halmbündel | |
unter die sich drehenden Messer halten. | |
Es ist ein vergnügliches Radeln, schließlich ist die Gegend so flach, als | |
habe der Schöpfer sie mit dem Nudelholz gewalzt. Immer wieder fahren wir an | |
blauen, wogenden Rechtecken vorbei. Am Schönwetterhimmel treiben | |
Wolkenungetüme, wie sie kein niederländischer Meister grandioser malen | |
könnte. Die höchste Erhebung weit und breit ist der 54 Meter hohe | |
Glockenturm von Bergues. Das von einer mittelalterlichen Wehrmauer umgebene | |
Städtchen lieferte die Kulisse für den Kinostreifen „Willkommen bei den | |
Schti!“. Mag sein, dass der Film alle Klischees strapaziert hat. Aber als | |
sich mittags die Stimmen von 50 Glocken zu einem Klangteppich verweben, | |
verstehen wir, warum der Filmemacher das Geläut für ein Liebeslied genutzt | |
hat. | |
Orte ohne den üblichen touristischen Lack | |
Unser abschließender Einkehrschwung führt in Killem ins Café „Au bon coin�… | |
„Zum Guten Eck“, gegenüber von van Robaeys Fabrik. Ein Aufkleber an der T�… | |
zeichnet es als „Café Rando“ aus, das heißt: Wie in einem Biergarten darf | |
man seine Brotzeit mitbringen, aber muss etwas zu Trinken bestellen. Es ist | |
ein Ort bar allen touristischen Lacks. Die Sonntagsmesse ist vorbei, und | |
nun werfen die Einheimischen knallend die Karten auf den Tisch. Zwei Alte | |
am Tresen rücken für uns die Ellbogen bereitwillig zur Seite. Miteinander | |
haben sie eben noch ein altmodisches Flämisch gesprochen, jetzt wechseln | |
sie in ein rollendes Französisch: „Aus Deutschland seid ihr? Von euch kommt | |
aber selten jemanden zu uns!“ Es dauert keine zwei Minuten, schon ist das | |
Thema Weltkrieg auf dem Tresen. Wohlgemerkt vom Ersten, dem Großen Krieg, | |
ist die Rede. Obwohl fast 100 Jahre her, ist er im kollektiven Gedächtnis | |
der Menschen lebendig geblieben. Aber keine Feindseligkeit liegt in der | |
Stimme der Alten. Eher Freude, dass wir den Weg ins Pays du Lin, ins Land | |
des Leinens, gefunden haben. „Der ist für uns, was für die Provence der | |
Lavendel ist!“ Und dann schiebt der Barmann einen giftgrünen Sirop à la | |
menthe über den Tresen. „Der geht aufs Haus!“ | |
Den alten Webstuhl aus einer Fabrik gerettet | |
Am Ende unserer Reise finden wir doch noch eine Weberin. Nicht auf dem | |
platten Land, sondern in der Hauptstadt des Departements. In Lille, in der | |
Rue de lHôpital Militaire Nr. 10, hat Valérie Maniglier hinter einer | |
unscheinbaren blassblauen Tür ihr Atelier. Jeder, der sie nicht allzu lange | |
stört, darf zu ihr hereinsehen. In dem niedrigen Raum schiebt und drückt | |
sie klappernd die Tasten und Pedale ihres Arbeitsgeräts wie eine energische | |
Organistin, lässt das Schiffchen hin- und hersausen. „Den Webstuhl hab ich | |
aus einer Fabrik gerettet, die abgerissen wurde“, erzählt sie. An ihm webt | |
sie prachtvolle schwere Stoffe. Wir staunen über die Spulen mit Fäden aller | |
Couleur, die in einem komplizierten System auf der einen Seite in den | |
Webstuhl hineinlaufen, um auf der anderen Seite sich zu einem bunten | |
Teppich zusammenzuschließen. Vor nicht allzu langer Zeit waren das Lila, | |
das Rot, das Gelb lauter blaue Blumen auf Granny-Smith-grünen Stengeln. | |
9 Jun 2010 | |
## AUTOREN | |
Margarete Moulin | |
## TAGS | |
Reiseland Frankreich | |
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