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# taz.de -- Belgiens leiser Tod: Drei Beeskes zum Abschied
> Schmatzende Küsschen, Papp-Sandwiches mit Gouda, ein absurder
> Sprachenstreit und ein toter König als letzter Kitt der Gesellschaft –
> der leise Tod Belgiens. Eine Familiengeschichte.
Bild: Fahne auf dem Palast bedeutet: "Der König ist zu Hause". In Belgien gibt…
Belgien kann nicht sterben. Belgien ist schon gestorben. Es passierte
leise, ohne Leiden, an einem Morgen im April. Da starb meine Großmutter,
meine Bonnemaman, die bald 104 Jahre alt geworden wäre. Als sie 100 Jahre
alt geworden war, habe ich über sie in der taz geschrieben, als Kopf und
Sinnbild einer flämisch-belgischen Familie, in der sich die Geschichte des
kleinen, seltsamen Landes im Westen spiegelte. Und als wir Bonnemaman
kürzlich zu Grabe trugen, in einer kleinen Dorfkirche nahe Gent, schoss mir
der Gedanke durch den Kopf: Stirbt hier vielleicht die letzte Belgierin?
Witze über Belgien, über die ich lachen muss, kenne ich, solange ich denken
kann. Die bei "Asterix bei den Belgiern" von Uderzo und dem großen Goscinny
sind clever und fein - und doch fand ich auch sie ein klein bisschen fies.
Damals, in den siebziger und achtziger Jahren, machte man Witze über die
beleuchteten Autobahnen, die man angeblich vom Mond aus noch sehen kann,
über die besten Fritten der Welt aus belgischen Fritteusen und über den
absurden Sprachenstreit. Und schon damals hieß es: Diesen Staat wird es
nicht mehr lange geben.
Ich lachte darüber und dachte: Ihr habt doch keine Ahnung! Belgien, das ist
so real wie die schmatzenden Küsschen, die ich regelmäßig von meinen über
20 Cousins auf die Wangen bekam, wenn ich sie alle paar Monate mal bei
Familientreffen begrüßen konnte. So real wie die Papp-Sandwiches mit
köstlichem alten Gouda, die es dort gab. So real auch wie das Sprachgemisch
aus Französisch und Flämisch mit all dem Wortwitz und Reichtum, der sich
daraus ergeben konnte.
Ein Beispiel ist das sicherlich schönste und wichtigste belgische Wort, das
ich kenne. Es ist "Beeskes" - eine Kombination vom französischen "baisers"
(Küsse) und der allgegenwärtigen flämischen-niederländischen
Verniedlichungsform "-ke", also: Küsschen. Es gab und gibt immer viele
Beeskes in Belgien. (Pro Person drei übrigens, immer drei!) Hinreißend
gespielt mit dem belgischen Sprachmansch hat auch Jacques Brel, der seine
Heimat so geliebt wie gehasst hat. Sein wunderbares Lied "Marieke" hat die
Zeilen: "Zonder liefde warme liefde / Waait de wind c'est fini."
Kurz: Belgien lebte! Und das manchmal mehr als das kalte Deutschland, in
dem ich aufwuchs, weil meine belgische Mutter ihrem deutschen Ehemann an
den Main folgte. Belgien lebte, aber wie lange noch? Darüber grübelte ich
erstmals, als der kluge und bescheidene König Baudouin I. vor 17 Jahren
starb und zweisprachige Autoaufkleber in Belgien auftauchten, etwa mit der
Parole: "Belgier! Gedenkt eures toten Königs! Haltet zusammen!" Schon
damals hieß es in halb ernst gemeinten Witzen: Dies war der einzige und
letzte Belgier. Ein toter König als letzter Kitt einer Gesellschaft?
Komisch, dachte ich mir.
Und ich dachte natürlich auch an meine Bonnemaman, die königstreu auf dem
Kaminsims ihrer Wohnung über dem Kouter, dem Blumenmarkt von Gent, das Foto
des Königs mit seiner Gattin Fabiola stehen hatte. Gleichberechtigt mit den
Bildern ihrer toten Geschwister, Kinder und ihres Mannes, meines Bonpapas,
der für sie alles war.
In keiner anderen Wohnung in Belgien habe ich jemals das Bild des
Königspaares gesehen - und vielleicht war es ja ein schlechtes Omen für
sein Land, als Baudouins Bruder und Nachfolger Albert II. bei seiner
Krönung vor Rührung und Anspannung nur rumstottern konnte. (Übrigens war
Belgien mal eines der modernsten und demokratischsten Länder Europas -
zugegeben, das war vor etwa 160 Jahren, aber das sollten gerade linke
Belgien-Witzereißer doch mal gnädigerweise bedenken. Karl Marx floh vor der
preußischen Obrigkeit nach: Brüssel! So!)
Aber Geschichte ist offen, das wissen wir Deutschen, und dass das mit
Belgien vielleicht doch eines Tages böse enden könnte, ahnte ich vor allem
bei den Familienfesten zu den runden Geburtstagen Bonnemamans in Gent. Denn
da erlebte ich es immer häufiger, dass manche meiner flämischen Cousins
oder Cousinen kaum mehr einen französischen Satz herausbrachten, ja eine
ziemlich intelligente, sehr gut ausgebildete Cousine aus Flandern bat mich,
doch mit ihr Englisch statt Französisch zu reden, das fiele ihr leichter.
Die Zweisprachigkeit Belgiens, dieser Schatz in einer globalisierten Welt,
schwindet nach und nach, gerade bei der jüngeren Generation. Wie tragisch!
Bonnemaman sprach beide Sprachen hervorragend. Obwohl ihre Muttersprache
Flämisch war, verbrachte sie mit Mann und Schwester Jahre ihres Lebens
damit, Scrabble auf Französisch zu spielen - übrigens mit etwa einer halben
Whiskey-Flasche pro Abend, aber das nur nebenbei.
Wie sehr der Sprachenstreit das Land zunehmend auseinanderriss, wurde mir
auch an einem anderen Detail deutlich: Meine Mutter war in den vierziger
und fünfziger Jahren auf einem katholischen Mädcheninternat von Nonnen in
Gent. Es war natürlich sehr streng und fromm, aber in gewissen Dingen auch
ziemlich fortschrittlich, ja fast elitär. So sollten alle Mädchen zum
Abitur geführt werden, was in diesen Tagen alles andere als
selbstverständlich war. Und die Nonnen beschlossen schon damals: Unsere
Schülerinnen sollen neben Französisch, das in der Öffentlichkeit als eine
Art Hochsprache galt, auch Flämisch im Unterricht lernen, obwohl es eher
als Bauernsprache verschrien war. Denn das französischsprachige Wallonien
war seinerzeit der blühende Teil Belgiens, Flandern dagegen eher die
rückständige Region.
Das aber hat sich in den vergangenen Jahrzehnten mit dem Niedergang nicht
zuletzt der Schwerindustrie in Wallonien komplett umgekehrt: Während
Flandern mit so reizvollen Städten wie Gent, Antwerpen und in gewisser
Weise auch dem Touristenmagnet Brügge der dynamischere, modernere
Landesteil wurde, stieg Wallonien ab. Es entstand so etwas wie eine
"flamish-pride"-Bewegung, deren hässlichste Seite der fremdenfeindliche
"Vlaams Belang" ist.
Mein Cousin Jean gehörte stets der aufstrebenden flämischen Elite an. Schon
mit 40 Jahren konnte er sich nach dem Verkauf seiner Computerfirma zur Ruhe
setzen, und natürlich sprach er immer Flämisch. Aber er ist klug und weiß,
was wichtig ist im Leben: Seine zweite Frau, eine bekannte Rechtsanwältin,
spricht möglichst nur Französisch, aber das stört ihn nicht groß. Übrigens
beschloss das frühere Internat meiner Mutter vor ein paar Jahren, seine
Entwicklung vom Kopf auf die Füße zu stellen: Nun fördert diese Schule das
Französische, da die Nonnen den Eindruck hatten, es gehe derzeit im Meer
des Flämischen unter. Auch das ist absurd wie so vieles in Belgien, dass
Nonnen in Flandern am fortschrittlichsten sind oder sein wollen.
Teilungsprozesse
Bonnemaman ist tot nach einem langen, schönen Leben, und mittlerweile bin
ich mir auch nicht mehr so sicher, ob nicht eine friedliche Teilung des
Landes nach dem Vorbild etwa der Tschechischen Republik und der Slowakei
die beste Lösung für Belgien wäre. Ich weiß nicht, wie realistisch das ist,
und sicherlich würde ein solcher Prozess lange dauern, nicht zuletzt weil
es ja noch das Königshaus gibt, das Bonnemaman so liebte.
Als ein gutes Argument für die Aufspaltung Belgiens erscheint mir die
organisierte Verantwortungslosigkeit, die sich in der Politik aus der Masse
an sprachlich getrennten Ebenen der Exekutive ergibt. Im Kleinen erlebte
ich die Überforderung des Staates schon vor 20 Jahren. Jahrelang wollte er
mich in seine ruhmreiche Armee einziehen, obwohl ich der Brüsseler
Bürokratie mehrmals brieflich nachwies, dass ich doch schon Zivildienst
beim Nato-Partner Deutschland gemacht hatte.
Mittlerweile glaube ich, dass das politische Chaos in Belgien, das im Kern
auf dem Sprachenstreit gründet, schwerwiegende Folgen für das tägliche
Leben aller Bürgerinnen und Bürger hat. Es ist kein Zufall, dass die
Kriminalität in Brüssel schon fast sizilianische Ausmaße angenommen hat.
Das ist ein Zustand, den die EU-Verwaltungsspitze auch ab und zu vor der
politischen Führung der belgischen Hauptstadt bemängelt, nicht zuletzt weil
man um die Sicherheit ihrer Beamten fürchtet. In einem Staat, der in seiner
Politik und Verwaltung wegen des Sprachenstreits so zersplittert ist, dass
niemand mehr wirklich Verantwortung trägt, kann die Kriminalität aufblühen.
Auch Bürgersinn wächst dort kaum.
Bei der Beerdigung von Bonnemaman im April sprach meine Schwester ein paar
Sätze am Sarg. Sie ist in Belgien geboren, in Deutschland aufgewachsen -
und eine deutsche EU-Beamtin in Brüssel geworden. Meine Schwester war in
der vielköpfigen Trauergemeinde die Einzige, die sich die Mühe machte, ihre
Ansprache sowohl in Französisch wie auf Flämisch (und ein wenig auf
Deutsch) zu halten. Ich bin sicher, unserer Bonnemaman hat das sehr gut
gefallen.
16 Jun 2010
## AUTOREN
Philipp Gessler
## TAGS
Obelix
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