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# taz.de -- 31 Jahre Mehringhof: Rucolapesto fürs Kollektiv
> Utopie Im Mehringhof arbeiten linke Initiativen seit 31 Jahren an der
> Revolutionierung der Verhältnisse. Während manche noch Stalin hochleben
> lassen, haben andere die Marktwirtschaft entdeckt.
Bild: Die Polizei ist öfter mal im Mehringhof - allerdings nicht willkommen.
Zur Mittagszeit herrscht im Clash Kantinenatmosphäre. Die Kneipe im
Kreuzberger Mehringhof, in der abends Punkbands auftreten, füllt sich mit
Werktätigen aus den umliegenden Büros, die am Tresen Penne mit Rucola-Pesto
oder Möhrencremesuppe mit Koriander-Chili-Schmand bestellen. "Das Essen hat
sich definitiv verbessert", sagt Ute Jaehn-Niesert und schiebt zufrieden
den leeren Teller von sich. Die 60-jährige Psychologin arbeitet seit 1980
im Mehringhof. Sie ist Mitgründerin des Alphabetisierungsprojekts AOB, eins
der ältesten linken Projekte, die sich ab 1979 in der ehemaligen
Schriftgießerei niederließen. Jaehn-Niesert erlebte sämtliche Häutungen des
Initiativenhauses: In den Anfangsjahren hieß die Kneipe "Specci", dort
diskutierte man abends beim Bier. Tagsüber wurde im Kollektiv gearbeitet
und gekocht. "Andere Zeiten", sagt die Psychologin und zahlt.
Auf den ersten Blick sind die alten Zeiten im Mehringhof sehr lebendig: Das
Interieur der, mittlerweile vierten, Kneipe ist mit Schädeln und gepiercten
Ratten bemalt. Die Ziegelwände sind mit Demoaufrufen bedeckt, das Hofschild
liest sich wie ein Who is Who der Alternativbewegungen. Die Zeitschrift
Lateinamerika Nachrichten hat hier ebenso ihren Sitz wie der
Ermittlungsausschuss gegen staatliche Verfolgung bei Demos oder die
Medizinische Flüchtlingshilfe. Das Mehringhof Theater zeigt Politkabarett,
beim Buchladen Schwarze Risse im Erdgeschoss decken sich Interessierte mit
Literatur zu linker Theorie und Praxis ein.
Regelmäßig kommt die Polizei und beschlagnahmt radikales Schriftgut von
Initiativen, die hier ihre Postadresse haben. Bei der letzten
Buchladenrazzia im April warfen Schüler der Schule der Erwachsenenbildung
(SFE) im dritten Stock Klopapier in den Hof - das anhaltende Misstrauen der
Staatsgewalt ist Indiz dafür, dass der Mehringhof noch immer Heimat und
Impulsgeber radikaler Strömungen ist und kein Museum.
Als solches wird das bunte Haus mit eigenem Blockheizkraftwerk und
Dachgarten freilich von vielen wahrgenommen. "Wir sind eine
Touri-Attraktion und stehen in Reiseführern", erzählt Axel Haug amüsiert.
Der drahtige Mann mit Schnäuzer und Arbeitsoverall, der gerade auf einer
Bierbank im Hof Pause macht, bezeichnet sich selbst als "geschäftsführender
Hausmeister". Haug war Teil des "Specci"-Kneipenkollektivs, 1999 wurde er
im Rahmen einer Großrazzia als Aktivist der Revolutionären Zellen (RZ)
verhaftet. Nach seinem Gefängnisaufenthalt kehrte er zurück in den
Mehringhof. Und befasst sich seither mit Reparaturen und einem sinkenden
Beteiligungsinteresse bei den Mietversammlungen.
"Die gesellschaftlichen Widersprüche haben sich nicht geändert, nur die
Herangehensweise", sagt der "Hausmeister" bedächtig. Viele Gruppen hätten
die Kollektivstruktur zugunsten einer hierarchischen Arbeitsteilung
aufgegeben, in letzter Zeit zögen vermehrt Bürogemeinschaften und Firmen
mit kommerziellem Schwerpunkt ein.
"Es ist im Moment realistischer, sein eigenes Ding zu machen,", sagt Haug.
Bei der Miete gilt das Solidarprinzip nur sehr begrenzt - nach drei Monaten
Zahlungsrückstand müssen sich Mietsünder in der Vollversammlung erklären,
es gibt auch Rauswürfe. Die konsequente Selbstverantwortlichkeit ist mit
ein Grund dafür, dass der Mehringhof auch nach 31 Jahren nicht vor der
Pleite steht wie ähnliche Großprojekte. Ein anderer ist die
Organisationsstruktur als GmbH mit mehreren gemeinnützigen Anteilseignern,
die verhindert, dass Einzelne das Haus an sich reißen.
Eine Offenbarung ist der Mehringhof-Kosmos nach wie vor für alle, die es
aus der Enge der Provinz nach Berlin-Kreuzberg verschlagen hat. Wie den
20-Jährigen aus "irgendwo bei Nürnberg", der an der SFE sein Abi nachmacht
und sich nach Unterrichtsschluss zwischen Clash, Schwarze Risse und dem
türkischen Arbeiterverein im Hof sein neues Großstadtleben bastelt.
"Natürlich ist das hier eine Oase", sagt Jörg Sundermeier vom Verbrecher
Verlag, der Aufgang drei, erster Stock in einem kleinen Büro residiert. Mit
sechs Jahren Hauszugehörigkeit gehören die Verbrecher zur jüngeren
Mietergeneration, stricken aber munter an alten Legenden: Etwa, dass der
Transit-Verlag in Aufgang Eins mit einem Ulrich-Wickert-Buch so viel Geld
gemacht habe, dass sie sich schalldichte Fenster gegönnt hätten, um die
Bandproben nicht zu hören. Oder dass sich das Bezirksamt Kreuzberg 1979
vehemt gegen die Mehringhof GmbH als Käufer des Geländes wandte - aus
Angst, die Linken könnten sie vom Dach aus mit Raketen beschießen. Diese
Legende zumindest ist in der, im Transit Verlag erschienenen,
Mehringhof-Broschüre von 1988 nachzulesen.
Ein legendärer Ort ist die Förderation der Arbeiter aus der Türkei in
Deutschland, kurz ATIF. In der holzvertäfelten Remise hängen die Porträts
von Marx, Engels, Lenin, Stalin und Mao einträchtig an der Wand, in der
Küche wird jeden Tag türkische Hausmannskost zubereitet. Seit 1981 arbeitet
die ATIF am Sturz des Imperialismus und der Stärkung von Einwanderrechten.
Etwa 50 aktive Mitglieder veranstalten Vortragsabende, Folkloretanz und
mobilisieren zu Demos gegen Sozialabbau. "Die Menschen wehren sich zu
wenig, besonders die Einwanderer", findet Garip und bietet Tee an. Die ATIF
wird vom Verfassungsschutz beobachtet, deshalb will keiner der Aktivisten
seinen Nachnamen gedruckt sehen. Auch unter den Mehringhof-Bewohnern sehen
viele das Stalinbild und die radikal anti-israelischen Positionen der ATIF
kritisch. Zum Essen kommt man trotzdem vorbei. "Wir freuen uns über alle
Besucher, die antifaschistisch und antiimperialistisch denken", sagt Furat.
Arno Reinhard vom Werbebüro Graph Druckula kennt die ATIF-Leute seit 30
Jahren und tanzt mit einem von ihnen Salsa. "Nicht über Stalin sprechen,
dann ist alles gut", ist seine Devise. Reinhard und seine Mitstreiter haben
sich von einem "graphischen Kollektiv" zur Vier-Personen-Firma entwickelt.
Statt Flugblätter für Selbsthilfeorganisationen druckt man jetzt im
schneeweißen Großraumbüro Hochglanzbroschüren - allerdings auf blutroten
"Graphen"-Stühlen. "Mit dem Anspruch, mit dem wir damals angetreten sind,
hätten wir nicht überleben können", sagt der aufgeräumte Weißhaarige, der
einst an der Hochschule der Künste den ersten Kollektivabschluss in
Grafikdesign durchsetzte. Von Resignation will er trotzdem nicht sprechen.
"Wir sind immer noch da. Und das gern." Ein Spruch, der gut an den Eingang
des Mehringhofs passen würde.
25 Jun 2010
## AUTOREN
Nina Apin
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