| # taz.de -- Deutschland vor dem Viertelfinale: Da geht was! | |
| > Kein Scheißfußball mehr. Inzwischen befriedigt das DFB-Team | |
| > fußballerische Sehnsüchte und ist eine romantische Metapher für die | |
| > Möglichkeit einer Gesellschaft, die sich nicht über Blut definiert. | |
| Bild: Wird von seinen Stuttgarter Kollegen "Helmut" genannt: Cacau. | |
| Die deutsche Nationalmannschaft: Das klang viele Jahre seltsam. Bedrohlich. | |
| Auf keinen Fall gut. Während das englische Verbandsteam immer "England" | |
| genannt wird, Brasilianer ihr Team "Seleçao" nennen und Spanier ihres | |
| "Selección", bestanden wir auf dem "National". Die Welt ignoriert das und | |
| nennt die Fußballer der Bundesrepublik Deutschland (die DDR spielte in der | |
| Fußballwelt keine Rolle) seit vielen Jahren nur die "Mannschaft". | |
| Auch das hatte keinen guten Klang. In die internationale Konnotation des | |
| Begriffs waren die alten Teutonenklischees eingeprägt, die deutsche | |
| Geschichte des 20. Jahrhunderts und der ästhetische Widerwille gegen den | |
| Spielstil. Die Mannschaft, das bedeutete: Scheißfußball der Deutschen, der | |
| sich durchsetzte, leider. | |
| Die Mannschaft, das waren: das desillusionierte Kriegsheimkehrergesicht des | |
| Luftwaffengefreiten Fritz Walter, der (un)menschliche Rasenmäher Berti | |
| Vogts, die gnadenlosen Grätschen der Förster-Brüder, die Dumpfheit Toni | |
| Schumachers, die erbitterte Dynamik eines Matthäus. Die Mannschaft blieb | |
| sehr lange in den stilistischen und geistigen Grenzen von 1954. Hautfarbe: | |
| weiß. Name: Müller oder Maier. Grätsch- und Kampfqualität: über das Blut | |
| vererbt seit dem 16. Jahrhundert, was im Einzelfall sogar mittels geerbtem | |
| Ariernachweis zu belegen gewesen wäre. | |
| Wenn man heute "die deutsche Mannschaft" sagt, klingt er anders. Fast | |
| angenehm. Weil es andere Signale aussendet. Auf und neben dem Spielfeld. | |
| Man braucht das nicht mehr multikulturell zu nennen wie in grünen | |
| Pädagogikworkshops. Es ist Deutschland im 21. Jahrhundert. Wir haben einen | |
| Stuttgarter im Team namens Sami Khedira, dem die Leidenschaft für die | |
| Kehrwoche anzusehen ist, ohne dass er sie durch schwäbische Gene | |
| aufgezwungen bekommen hätte. Lukas Podolski ist Kölner, wie auch der | |
| ghanaische Nationalspieler Hans Sarpei ein Kölscher Junge ist. | |
| Wir haben zwei Gelsenkirchener im Team; einer heißt Manuel Neuer, der | |
| andere Mesut Özil. Die derzeitige Freundin von Özil, ein Fußballergroupie | |
| aus Delmenhorst, ist für ihn zum Islam übergetreten und nennt sich jetzt | |
| "Melek". Das bezeugt neben der Liebe und dem Respekt vor der anderen Kultur | |
| auch den Assimilationszwang, der von Religionen ausgeht. Aber es nimmt eine | |
| Art Normalität vorweg, die der Schritt zur Melek in einer | |
| Einwanderungsgesellschaft genauso haben wird wie der Übertritt zum | |
| Katholizismus beim Einheiraten in eine oberbayerische Familie. | |
| Wenn es einen Spieler gibt, der den Willen zur Assimilation betont und | |
| verkörpert, so ist es der hymnenmitsingende Cacau (nicht zufällig "Helmut" | |
| genannt) aus Korb bei Stuttgart mit seinem katholischen Favela-Hintergrund. | |
| Grundsätzlich belegt der Mix der Mannschaft aber, dass die Stärke des | |
| Anderen das Andere ist und die Kraft eines Einwanderungslandes nicht | |
| dadurch zunimmt, dass Menschen brav das Vereinslied mitsingen, sondern wenn | |
| sie ihre individuellen Qualitäten einbringen können - und dadurch die | |
| Möglichkeiten der Gemeinschaft zunehmen. | |
| Aber auch diese fachlichen Qualitäten eines Özil, Neuer, Müller, Khedira, | |
| Boateng oder Marin verdanken sich nicht ihrer Herkunft und Blutgruppe, | |
| sondern Talent, Leistungsbereitschaft und Förderung durch den Verband, der | |
| in diesem Fall die Gemeinschaft in der Breite und Spitze organisiert. Hinzu | |
| kommt das im Jahr 2000 reformierte Staatsbürgerrecht als verhaltenes, aber | |
| doch wahrgenommenes Signal des deutschen Staates: Onkel Sepp will dich. | |
| Die deutsche Mannschaft ist keine "große Mannschaft", wie die FAZ meinen | |
| muss. Viel besser: Joachim Löw hat eine richtig okaye Fußballmannschaft aus | |
| ihr gemacht. Sie arbeitet an einem internationalen Stil, der sich nicht an | |
| der Tradition, sondern an den Anforderungen der Gegenwart orientiert. Es | |
| ist ein flachhierarchischer Dominanz-, Tempo-, Kombinations- und | |
| Teamfußball, näher an Arsène Wengers One-Touch-Fußball als an Spaniens | |
| Kurzpassspiel. Seine Schönheit entfaltet sich in | |
| Lichtgeschwindigkeitskontern von drei, maximal vier Stationen. | |
| Es ist auch die wackligste deutsche Mannschaft, seit ich Fußball schaue; | |
| eine, die gegen England in drei Minuten hätte drei Tore kassieren können. | |
| Das ist okay, denn es ist die andere Seite ihrer neuen Qualität. No risk, | |
| no fun. Die Mannschaft schüttelt dich durch, sie hat brillante | |
| Möglichkeiten in einer strukturierten Offensive, und sie lebt in Momenten | |
| sogar ihre (und unsere) Spiellust aus. Sie befriedigt damit die Sehnsucht | |
| der Gesellschaft nach Gefühl. Die Sehnsucht, etwas zu spüren. | |
| Deutschland war 1982, 1986 und 2002 im WM-Finale. Aber was haben wir davon, | |
| wenn wir nichts spüren, weil der Fußball es nicht hergibt? | |
| Und nun die Mahnung: Selbstverständlich ist die Grenze zur Gefühlsduselei | |
| schnell überschritten. Und nicht jeder wird sich in einer modernen | |
| Gemeinschaft aufgehen fühlen, sondern mancher auch in der nationalen | |
| Fiktion, die seinem Bewusstsein oder Bildungsstand entspricht. Aber | |
| vielleicht sollte man sich ausnahmsweise mal nicht nur sorgen, dass die | |
| anderen es mal wieder nicht raffen, sondern die positiven | |
| Projektionsflächen besetzen, die die deutsche Mannschaft hergibt. | |
| Die Botschaft lautet: Wir sind auf hohem Niveau, und die Zukunft könnte | |
| noch besser werden. Aber: Diese Zukunft gibt es nicht mit dem Denken, nicht | |
| mit den Tugenden und nicht mit den Geschäftsmodellen der Vergangenheit. Man | |
| kann nicht einfach noch verbissener, noch härter, noch intensiver | |
| verteidigen. "Das haben wir immer so gemacht" ist die sichere Grundlage für | |
| individuelles und gemeinschaftliches, für unternehmerisches und globales | |
| Scheitern. Neues Denken, neue Allianzen, neue Fitnesstrainer, neue | |
| Spielzüge. Bum, bum, bum, drin. | |
| Macht viel mehr Spaß als früher. | |
| Manche bauen jetzt schon für eine WM-Viertelfinalniederlage gegen | |
| Argentinien vor mit dem Hinweis auf die Perspektiven der Mannschaft. Sie | |
| habe ja noch Zeit. Nichts da. Man sollte nichts auf die Zukunft | |
| verschieben: weder die Energiewende noch einen Weltmeistertitel. Kein | |
| Mensch weiß, was in vier Jahren ist. Wer die Gegenwart verschiebt, hat | |
| keine. Hic Kapstadt, hic salta! | |
| Das Ganze ist selbstverständlich nicht nur auf dem Spielfeld fragil, wie | |
| man an Schweinsteigers Rückfall in die Steinzeit der nationalen Ausgrenzung | |
| sah ("Das ist respektlos, aber Argentinier sind so"). Es hat indes auch | |
| keiner geglaubt, dass der neue Flow auf dem Fußballfeld alle Dumpfheit im | |
| Lande automatisch in libertäre Progressivität verwandelt. | |
| Trotzdem: Die deutsche Mannschaft verbreitet ein Gefühl der Hoffnung. Sie | |
| ist eine romantische Metapher für die Möglichkeit einer guten Zukunft | |
| unseres Gemeinwesens. Einer Gemeinschaft, die sich nicht über Blut | |
| definiert, sondern über gemeinsame Ziele. | |
| Wenn sogar ein netter Typ vom Land wie Joachim Löw inmitten von Blockade | |
| und Lähmung das Neue als das Schönere durchsetzen kann; wenn der noch | |
| nettere Lahm so niedrighierarchisch führt, dass alle viel besser sind und | |
| besser drauf, als wenn sie angeschrien würden; wenn auch Poldi trotz aller | |
| Schwächen mitmachen darf und dafür ab und zu seine Stärke einbringt; wenn | |
| der alte Klose nicht fallen gelassen wird und dann mit seinem Know-how die | |
| Jungen in die Zukunft führt; und wenn selbst aus dem vermeintlich | |
| hoffnungslosen Arne Friedrich noch ein halbwegs brauchbarer Kicker wird - | |
| was kann dann erst aus uns werden? | |
| 2 Jul 2010 | |
| ## AUTOREN | |
| Peter Unfried | |
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