# taz.de -- CHEMNITZ: Wo Karl Marx raucht | |
> Ein Besuch der einstigen Karl-Marx-Stadt ist ein Ausflug in den | |
> sozialistischen Städtebau, aber auch eine Begegnung mit Kriegszerstörung, | |
> der Industrialisierungsgeschichte Deutschlands und alten Luxuslimousinen. | |
Bild: Das Karl-Marx-Monument, auch Nischel genannt, in Chemnitz. | |
Der riesige Kopf von Karl Marx steht im Zentrum von Chemnitz. Er ist das | |
Wahrzeichen der Stadt. Und das ist gut so. Denn die einstige Industriestadt | |
wirkt heute wie das Modell einer sozialistischen Stadt. Die historische | |
Innenstadt wurde durch die Bombardierung gegen Ende des Zweiten Weltkriegs | |
beinahe vollständig zerstört. Auf den Trümmern entstand eine neue Stadt mit | |
großzügigem, zugigem Straßennetz, mit Plattenbauten und aufgelassenen | |
Industrieanlagen. Mittendrin thront himmelhoch das heutige Mercure-Hotel, | |
einstmals das Interhotel. | |
Heute ist Karl Marx Werbeträger dieser postsozialistischen Stadt. Immerhin | |
hieß Chemnitz bis vor zwanzig Jahren Karl-Marx-Stadt (1953 bis 1990). Karl- | |
Marx-Sticks, Karl-Marx-Schlüsselanhänger und eine Karl-Marx-Büste als | |
Räuchermännchen - eine Referenz ans Kunsthandwerk des nahe gelegen | |
Erzgebirges - können die Besucher heute als Souvenir erwerben. | |
"Die sogenannte Schädelstätte - eine sieben Meter hohe Plastik, die den | |
Kopf von Karl Marx stilisiert darstellt - soll die größte Porträtbüste der | |
Welt sein", sagt Susan Endler, unsere Stadtführerin. Auf dem Gebäude | |
dahinter - einst Sitz der SED Bezirksleitung - prangt der Schriftzug | |
"Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" auf Englisch, Französisch, | |
Deutsch, Spanisch, Russisch. | |
Ein Motto mit Zukunft? "Der Stimmenanteil der Linken liegt in Chemnitz bei | |
22 Prozent, damit haben sie mehr Wähler als alle anderen Parteien", weiß | |
Endler. Die Szenerie vor dem Bahnhof wirkt weniger proletarisch als prekär: | |
Die letzen Punks und Schnürstiefelträger trinken hier öffentlich grölend | |
Bier. Im neuen Zentrum trägt fast jede dritte vorbeiflanierende Frau | |
kräftige rote, lila oder blaue Strähnen in Pony oder Seitenhaar. Ein | |
generationsübergreifender Trend. Eine Referenz an die 80er Jahre? | |
Chemnitz - Stadt der Moderne? Zumindest wirbt das City Management damit. | |
Und macht den historischen Rundschlag vom sächsischen Manchester bis heute. | |
Chemnitz war eine der wichtigsten Industriestädte Deutschlands. | |
Ausgangspunkt der industriellen Revolution in Sachsen. Standort der | |
deutschen Kraftfahrzeugindustrie. Die Einwohnerzahl der Stadt überschritt | |
Anfang 1883 die Grenze von 100.000. 1930 hatte die Stadt bereits 360.000 | |
Einwohner. In Chemnitz saßen Firmen mit Weltruf wie die Wanderer Werke AG, | |
später Teil der Auto Union oder August Horch mit seinen Luxuslimousinen. | |
Hitlers Autobahn wurde dicht an der Stadt vorbeigeführt. | |
Dirk Schmerschneider zeigt uns wertvolle Oldtimer aus dieser Zeit im | |
Stern-Garagenhof. Diese Hochgarage wurde 1928 als eines der ersten | |
Parkhäuser in Deutschland errichtet. Heute ist dort im zweiten Stock ein | |
Möbelhaus, im Erdgeschoss stehen dicht gedrängt stattliche Oldtimer. | |
"Früher wurden hier die Luxuslimousinen von Horch und Wanderer, die | |
Mittelklassewagen und Motorräder von DKW mit Aufzügen auf die sechs | |
Stockwerke verteilt", erzählt Dirk Schmerschneider vor dem großen, alten | |
Aufzug. Er führt uns zu einem flotten silbergrauen Zweisitzer. "Das | |
Püppchen - so heißt der Wagen - wurde zur Uraufführung von ,Püppchen, du | |
bist mein Augenstern' auf die Bühne gefahren", weiß Schmerschneider. | |
Im Garagenhof stehen neben blitzenden Limousinen, Sportwagen und | |
Motorrädern mit Beiwagen auch die merkwürdigsten Fahrräder. "Ab 1886 hat | |
der Fahrradbau Tradition in und um Chemnitz", sagt Schmerschneider. Eine | |
Sonderausstellung zeigt Sportmodelle der Wanderer 5,7 PS, ein Motorrad, | |
"von dem nur noch zwei Maschinen existieren sollen. Und mit dem W25K wird | |
ein Auto präsentiert, das der schönste Sportwagen der 30er Jahre sein | |
soll", steigert sich Dirk Schmerschneider, der selbst passionierter | |
Motorradfahrer ist. Für Technikfreaks und Oldtimer-Fans ist das Museum ein | |
Muss. "Auch wenn alles sehr eng gestellt ist und damit nicht so richtig zur | |
Wirkung kommt", bemängelt Schmerschneider. Für die, die Oldtimer und die | |
Geschichte der Autoindustrie "schön gestylt" sehen wollen, empfiehlt er das | |
Audi-Museum im nahen Zwickau. "Ein Genuss", sagt er völlig konkurrenzfrei. | |
Chemnitz war um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die reichste Stadt | |
Deutschlands. Hier entstand 1987 das deutsche Patentrecht: Aus Chemnitz | |
kamen zu dieser Zeit sechsmal mehr Patente als im deutschen Durchschnitt; | |
hier wurde der Grundstein des deutschen Maschinenbaus gelegt. | |
"Vor allem die modernen Chemnitzer Maschinen von Johann von Zimmermann | |
waren es, die zur Einführung des Gütezeichens ,Made in Germany' in England | |
führten", sagt Achim Dresler, der stellvertretende Direktor des aufwändig | |
restaurierten Industriemuseums von Chemnitz. Die großen Ausstellungshallen, | |
heute Industriedenkmale, waren einst Produktionsstätten für Gießerei und | |
Maschinenbau. Im Zusammenspiel mit multimedialen Bild- und | |
Textinformationen erzählt Dresler ein Stück Industriegeschichte: Wie | |
frästen die Arbeiter früher Zahnräder, und wie geht das heute? Wie kleidete | |
man sich im vergangenen Jahrhundert, und wie wurden die in den "Goldenen | |
Zwanzigern" beliebten fein gewirkten Damenhandschuhe hergestellt? Wer | |
erfand den Kaffeefilter, und wer das Dachzelt auf dem Trabant? | |
Viele Exponate werden in ihrer Funktion vorgeführt. Dazu gehören Werkzeug-, | |
Textil- und Büromaschinen ebenso wie Spiel- und Sportgeräte. An einzelnen | |
Stationen können die Besucher probieren. Auch hier nimmt die Tradition des | |
sächsischen Motoren- und Fahrzeugbaus großen Raum ein. Zu sehen sind neben | |
klassischen Verbrennungsmotoren Beispiele für alternative Antriebe und | |
Kraftstoffe. "In Chemnitz wurden damals die Motoren für die | |
Panzerkampfwagen VI Tiger gebaut", sagt Dresler. "Die Stadt wurde so zur | |
Zielscheibe: Die Alliierten warfen 7.360 Tonnen Bomben." | |
Industriearchitektur zieht sich wie ein roter Faden durch Chemnitz. Viele | |
der eindrucksvollen Fabrikbauten wurden revitalisiert: ob Schönherrfabrik, | |
Janssenfabrik, Strumpfwarenfabrik Esche, Weberei Cammann, Maschinenfabrik | |
Schubert & Salzer, Bernhardsche Spinnerei oder Tafelgerätefabrik | |
Sonnenschein - sie alle beherbergen nun Wohn- und Geschäftsräume, | |
Gastronomie, medizinische oder Freizeiteinrichtungen. | |
Die Altbausubstanz der Gründerzeit, die noch in den Vierteln Kaßberg, | |
Sonnenberg und Schloss Chemnitz besteht, wurde aus ideologischen Gründen zu | |
DDR-Zeiten vernachlässigt. Sie verfiel. Heute sind diese Gegenden wieder | |
als Wohnviertel beliebt, vor allem Kaßberg, eines der größten, noch | |
erhaltenen Jugendstil- und Gründerzeitviertel Europas. | |
Wo Industriekultur ist, darf auch das Großbürgertum nicht fehlen. Und das | |
hatte viel Klasse. Zumindest was die Villa Esche betrifft. Sie wurde vom | |
Türknauf über die Sitzecke bis zur Schürze der Hausdame vom belgischen | |
Künstler Henry van de Velde entworfen. Ein ästhetischer Genuss. | |
Speisezimmer und Musiksalon im Erdgeschoss sind fast original möbliert. | |
Eine Dauerausstellung im Obergeschoss zeigt Werke des Künstlers, der, wie | |
der alte Marx auf seinem Sockel, eine Epoche dieser Stadt repräsentiert. | |
Eine Stadt, die mit neu gestylten, alten Industriebauten, mit Chrom, Stahl, | |
Glas und den Stararchitekten des neuen Zentrums fast in der postmodernen | |
Dienstleistungsgesellschaft angekommen ist. | |
6 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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