# taz.de -- Debatte Extremismus: Blindes Staatsvertrauen | |
> Der Verfassungsschutz mischt sich in die Debatte um den Islam ein. Das | |
> ist offensichtlich von der Politik gewollt, widerspricht jedoch seinen | |
> Aufgaben. Viele Journalisten stört das nicht. | |
Der Verfassungsschutz (VS) bekämpft heute neben Rechts- und | |
Linksextremisten auch Islamisten. Das ist gut so, und deshalb haben viele | |
einstige Skeptiker inzwischen ihren Frieden mit der Behörde gemacht. Selbst | |
die Grünen fordern nicht mehr, den Nachrichtendienst einfach abzuschaffen. | |
Leider ist damit auch jede Kritik am Verfassungsschutz verstummt. Das ist | |
fatal. Denn tagtäglich überschreiten seine Mitarbeiter ihre Grenzen - in | |
den Schulen und im öffentlichen Diskurs. Und ganz offensichtlich wird das | |
von der Politik auch so gewollt. | |
Früher war der Verfassungsschutz ein Instrument im Kalten Krieg, nach dem | |
Fall der Mauer hat er sich zivilisiert. Doch seit ein paar Jahren gehen | |
Mitarbeiter der Verfassungsschutzämter wie selbstverständlich in Schulen, | |
in Jugendzentren und in der Lehrerfortbildung ein und aus. Nicht etwa um | |
über ihre Arbeit zu informieren. Sie kommen vor allem als Referenten, um | |
Kinder und Jugendliche sowie Lehrerinnen und Lehrer über Rechts- und | |
Linksextremismus wie über den Islamismus zu unterrichten. | |
Republikanisch betrachtet, ist das längst nicht mehr in Ordnung, sondern | |
ein Verstoß gegen geltendes Recht. Denn in Paragraf 3 des | |
Bundesverfassungsschutz-Gesetzes sind die Aufgaben des Verfassungsschutzes | |
klar geregelt. Sie lauten: "Sammlung, Auswertung von Informationen, | |
Nachrichten und Unterlagen über Bestrebungen, die sich gegen die | |
freiheitlich demokratische Grundordnung richten." Von politischer Bildung | |
ist da nicht die Rede. | |
Problematisch wird es, wenn zugleich klassische Träger der politischen | |
Bildung ihre Arbeit aufgrund von Mittelkürzungen nicht mehr wie gewohnt | |
leisten oder gar ganz einstellen müssen. In einer funktionierenden | |
Demokratie gibt es bewährte Institutionen und Träger der politischen | |
Bildung: Dies sind die Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung, | |
die Schulen und Universitäten, die Arbeiterbildungsvereine, kirchliche und | |
gewerkschaftliche Bildungseinrichtungen, parteinahe Stiftungen, | |
Jugendverbände und Vereine. Der Gesetzgeber hat klar zwischen | |
nachrichtendienstlichen und bildungspolitischen Aufgaben getrennt. Bei | |
dieser Aufgabenteilung sollte es bleiben. | |
Doch in der Debatte rund um die Themen Islam und Islamismus spielt der | |
Verfassungsschutz inzwischen eine mehr als dominante Rolle. Verwunderlich | |
ist dies nicht, schließlich arbeiten in Deutschland heute mehr | |
Islamwissenschaftler in den Nachrichtendiensten als in der Wissenschaft. | |
Diese Militarisierung der Islamwissenschaften hat fatale Folgen. Denn viele | |
Journalisten verzichten inzwischen gänzlich auf eigene Recherchen und | |
beschränken sich darauf, als willige Lautsprecher der Dienste zu dienen. An | |
die Stelle der kritischen Berichterstattung tritt die Kolportage: Wenn das | |
Innenministerium im soeben erschienenen Verfassungsschutzbericht 2009 | |
schreibt, "das islamistische Personenpotenzial" sei "mit 36 270 Mitgliedern | |
/ Anhängern leicht angestiegen", dann steht auf Zeit Online oder in der | |
Süddeutschen Zeitung: "36 000 Personen stehen radikalen islamistischen | |
Gruppen nah." | |
Eine solche Meldung weckt Ängste - aber sie ist falsch. Denn von den 36.000 | |
"radikalen Islamisten", die der Verfassungsschutz gezählt hat, gehören | |
29.000 Mitglieder der "Islamischen Gemeinschaft Milli Görüs" (IGMG) an. Und | |
die ist nicht radikal, sondern gewaltfrei und "legalistisch", wie selbst im | |
Kleingedruckten des Verfassungsschutzberichtes zu lesen ist. | |
Tatsächlich konnte der Milli-Görüs-Bewegung in Deutschland trotz | |
jahrelanger Beobachtung bislang nicht nachgewiesen werden, dass sie zur | |
Gewalt aufruft oder je dazu aufgerufen hat. Deswegen wirft ihr der | |
Verfassungsschutz nur schwammig vor: "Ihre auf Stärkung der eigenen | |
religiösen und kulturellen Identität und Bewahrung vor einer Assimilation | |
an die deutsche Gesellschaft ausgerichteten Bestrebungen scheinen jedoch | |
geeignet, die Entstehung und Ausbreitung islamistischer Milieus in | |
Deutschland zu fördern." Diese Einschätzung mag richtig sein, sie ist aber | |
auch reichlich vage. Ähnliches ließe sich wohl auch über die ein oder | |
andere christlich-, hinduistisch- oder jüdisch-fundamentalistische Gruppe | |
sagen. Warum diese, anders als Milli Görüs, keinen Eingang in den | |
VS-Bericht finden, erschließt sich nicht so recht. | |
Politisch mehr als dumm | |
Man kann Milli Görüs für durch und durch unsympathisch, korrupt, moralisch | |
zweifelhaft, reaktionär oder gar tendenziell antisemitisch halten. Dennoch | |
bleibt festzuhalten: An diesem Umgang mit der Organisation stimmt etwas | |
nicht. "Verfassungsfeind!" - wem dieses Label angehängt wird, der trägt so | |
etwas wie ein gesellschaftliches Kainsmal. Tatsächlich werden | |
unbescholtenen Mitgliedern von Milli Görüs mit dem Verweis, ihr Verband | |
werde im Verfassungsschutzbericht erwähnt, der Dialog und ein respektvoller | |
Umgang, manchmal auch Arbeitsplätze und vieles mehr versagt. | |
Im März wurde der von Milli Görüs dominierte Islamrat sogar von der | |
Islamkonferenz ausgeschlossen. Innenminister Thomas de Maizière verweigerte | |
das Gespräch und berief sich dabei auf laufende Ermittlungsverfahren gegen | |
einzelne Funktionäre sowie die Nennung im aktuellen | |
Verfassungsschutzbericht. Solch eine Kontaktsperre ist nicht nur | |
demokratisch fragwürdig, sondern politisch mehr als dumm. Denn der Islamrat | |
ist nicht nur umstritten, sondern auch der vielleicht wichtigste | |
Dachverband der Muslime in Deutschland. Und ohne Milli Görüs wird es keine | |
Integration des Islam, schon gar keine Integration reaktionärer und | |
wertkonservativer Muslime geben. Deshalb gibt es keine Alternative zur | |
streitbaren gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit Milli Görüs, bei der | |
es um die unhinterfragbaren Grundlagen des Zusammenlebens in Deutschland | |
geht. | |
Es ist an der Zeit, dass sich die Öffentlichkeit wieder an ein paar | |
republikanische Grundsätze erinnert. Der eine lautet: Politische Bildung | |
ist keine Aufgabe von Nachrichtendiensten. Der zweite: Die Integration von | |
umstrittenen, aber gewaltfreien Organisationen kann nicht gelingen, indem | |
man sie durch die Geheimdienste stigmatisiert. | |
11 Jul 2010 | |
## AUTOREN | |
Eberhard Seidel | |
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