# taz.de -- Festivals in Frankreich: Kulturrausch in der Provence | |
> Die drei großen "A"-Festivals - Aix-en-Provence, Arles und Avignon - | |
> bieten ein vielseitiges und fesselndes Feuerwerk von Spektakeln. | |
Bild: Bunte Plakate bestimmen das Straßenbild in der Festivalstadt Avignon. | |
Ein Paar in schwarzem Existenzialisten-Outfit gerät mit gedämpften Stimmen | |
in Streit. Der Mann hat nicht bemerkt, dass eine gehbehinderte Person | |
hinter ihm vorbeiwollte. Seine Frau hat ihn deshalb am Ärmel zur Seite | |
gezogen und zurechtgewiesen. Das passt dem Mann nicht, er blafft zurück. | |
Die Person mit Krücke, da hat er Recht, wäre auch ohne das Ausweichmanöver | |
ganz gut an ihm vorbeigekommen. | |
Die Gattin quittiert den Trotz ihres Partners mit strafendem | |
Gouvernanten-Blick unter bis zum Anschlag hochgezogenen Brauen und | |
zusammengepresstem Mund. Jetzt erst realisiert ihr Zögling, dass Menschen | |
mit Handicap schon vorher eingelassen werden. Der distinguiert gekleidete | |
Herr simuliert augenblicklich ein steifes Bein und hinkt in Richtung eines | |
der Eingänge. Drum herum amüsiert man sich - na ja, bis auf eine | |
vielleicht. | |
Die Szene spielt sich gegen 22 Uhr am Rand einer weitläufigen Absperrung | |
ab, dahinter ziemlich genau zweitausend Menschen, die darauf warten, im | |
Cour dHonneur, dem Ehrenhof, ihre nummerierten Plätze einzunehmen. | |
Wir befinden uns mitten auf dem riesigen Platz vor dem Papstpalast in | |
Avignon, wo das Theaterfestival offensichtlich sogar das Publikum zum | |
spontanen Schauspiel animiert. Überall auf den Straßen, Plätzen und Bühnen | |
der ehemaligen Papstresidenz an der südlichen Rhône wird gespielt, | |
gesungen, getanzt, gelacht, gefeiert. | |
Zu den rund vierzig offiziell eingeladenen europäischen Ensembles, die ihre | |
Stücke - vielfach Uraufführungen - hier präsentieren, gesellen sich rund | |
dreitausend weitere freie ArtistInnen, die niemand eingeladen hat, die aber | |
alle hochwillkommen sind. Traditionell eröffnen sie das Festival mit ihrer | |
Parade durch die Innenstadt. | |
Seit 1947 lockt Avignon alljährlich mit diesem Gegenentwurf zur teils | |
versnobten und verstaubten Theaterwelt der Metropolen. Die Philosophie der | |
provenzalischen Uni-Stadt: Das Theater soll zum Volk kommen. | |
Und das tut es auch. Selbst, wenn man einfach nur essen geht, sich irgendwo | |
hinter dem Palais du Pape einen kleinen, gedeckten Tisch im Schatten eines | |
mächtigen Baumes sucht. Die GauklerInnen begegnen einem auf Schritt und | |
Tritt, sie durchdringen jeden Winkel mit ihren Klängen, positionieren sich | |
vor jedem noch so kleinen Restaurant, um ihre künstlerischen Kostproben | |
darzubieten. | |
Bevor sie weiterziehen durch die alten Gassen, um von dem nächsten | |
Trüppchen abgelöst zu werden, huscht schnell noch einer durch die Reihen | |
und verteilt dezent Kärtchen, wo und wann das jeweilige Stück in Gänze | |
verfolgt werden kann. | |
Carine, die den kleinen Place de la Principale zwischen den hohen | |
Hausfassaden gerade kraftvoll mit Liedern "de la Môme", der großen Piaf, | |
erfüllt hat, tritt also im kleinen Théâtre du Tremplin auf. Und Yves Noels | |
Variation des Shakespeareschen "Venus und Adonis" findet man in der 13, rue | |
de la croix - "Entrée gratuite, sortie payant", Eintritt frei - wer geht, | |
löhnt. | |
Gut dreißig Kilometer südlich von Avignon liegt Arles, wo sich der breite | |
Fluss in die Kleine und die Große Rhône teilt, und wo 1970 das Fotofestival | |
"Rencontres dArles" gegründet wurde. | |
"Arles ist eine Stadt mit unabhängigem Geist, von ungeheurer Schönheit, | |
eine verrückte Stadt", schwärmt François Hebel. Seit 2001 leitet er das | |
Festival und verwandelt die Hauptstadt der Camargue in eine Galerie mit | |
Fenstern in die Welt. | |
Hebel entscheidet allein - weil so etwas eben nur allein gehe - und der | |
Erfolg gibt ihm Recht. Der Pariser Art-Director hat die Besucherzahlen seit | |
seiner Übernahme von 9.000 auf inzwischen 72.000 gesteigert. Und viele der | |
Foto-Fans nehmen auch an den überall in der Altstadt verteilten | |
Diskussionen und Workshops teil. Hebel sagt: "Die Leute mögen es zu | |
lernen." | |
In diesem Jahr führen sechs thematische Promenaden durch Ausstellungen rund | |
um die römische Arena, deren weiße Quader in der Sonne leuchten. Einer der | |
Spaziergänge heißt Promenade Rock. Der fetteste Fisch in diesem Fang von | |
Hebel sind zweifellos die Bilder von Mick Jagger, aufgenommen von superben | |
Profis und ausgestellt in großen Formaten. | |
Mick Jagger liebt es, in Pose zu gehen. Man darf ihm nahe kommen. Ihm in | |
die Augen schauen. So wie den Stieren, die bei den Courses Camarguaises mit | |
den jungen Männern der Stadt durch die Arena von Arles jagen. Lediglich | |
winzige angesteckte Trophäen werden den schlanken Camargue-Stieren vom | |
schwarzen Fell gezupft, danach gehts wieder auf die sumpfigen Weiden. | |
Um Konfrontation geht es auch Leon Ferrari, der mit einer Retrospektive aus | |
dem diesjährigen Gastland Argentinien nach Arles eingeladen wurde. | |
Mitgebracht hat er aufmüpfige Objekte - ein großes, verschraubtes | |
Einmachglas voller Präservative, außen aufgeklebt das lächelnde Gesicht von | |
Papst Johannes Paul II. Ein Kruzifix, bei dem das Kreuz ein Kampfjet ist. | |
Ein Schachbrett mit fünf lebensgroßen Rattenfiguren auf der einen Seite, | |
ihnen gegenüber sechzehn kleine ratlose Katzen. Ein anderes mit einem | |
riesigen roten Teufel, gegenüber eine Schar von winzigen Heiligenfigürchen. | |
Sowohl Mick Jaggers Porträts als auch Leon Ferraris Fotos, Collagen und | |
Objekte sind in ehemaligen Kirchen von Arles ausgestellt. | |
Aix, das dritte große A der Provence, etwa achtzig Kilometer östlich von | |
Arles, feiert mit seinem "Festival international dArt lyrique" seit 1948 | |
die Oper und klassische Musik. In diesem Jahr gehörten Mozarts Don Giovanni | |
und Glucks Alceste zu den wichtigsten Aufführungen, die im Hof des | |
erzbischöflichen Palais gezeigt wurden. Gigantisch schön die Darbietungen | |
von Stravinskys "Le Rossignol et autres fables", die im ausverkauften neuen | |
Grand Théâtre de Provence mit stehenden Ovationen beantwortet wurden. | |
Kazushi Ono dirigierte das Opernorchester von Lyon über der spiegelnden | |
Oberfläche des mit Wasser gefüllten Orchestergrabens - Aix, die Stadt des | |
Wassers und der Kunst! | |
Mit Low Tech arbeitet Robert Lepage aus Toronto, der das Publikum mit | |
seinem Konzept völlig in Bann schlägt. Stravinskys Musik zu "Renard" | |
illustriert Lepages Truppe mit uralter Theatertechnik. In nur mit Händen | |
gebildeten Schattenspielen jagt ein Pferd über die Bühne, bedroht ein Fuchs | |
den Harem eines Hahns, mischen ein Ziegenbock und eine Katze die Szene | |
vollends auf. Dann sind es die ganzen Körper, deren Silhouetten | |
weitererzählen. | |
Am unteren, hochgezogenen Rand der Leinwand sieht man die angestrahlten | |
Beine der AkrobatInnen, Drauf- und Einblick zugleich. | |
Auch für "Le Rossignol" greift der Kanadier auf eine traditionelle | |
asiatische Kunstform zurück - prachtvoll kostümierte Wassermarionetten, die | |
auf kleinen, von Laternen beleuchteten Booten über das Wasser ziehen, die | |
Spieler selbst stehen brusttief im Nass. Über ihnen fliegt le rossignol, | |
die Nachtigall, mit souveräner Leichtigkeit gesungen von Olga Peretyatko, | |
die dafür ebenfalls stürmisch gefeiert wird. | |
So ist man mehr als entschädigt, sollte man etwa in Avignon in das eigens | |
für das Festival zusammengemurkste "Papperlapapp" von Christoph Marthaler | |
geraten sein, der anscheinend nichts zu sagen hat. Ein Beichtstuhl voller | |
Pin-ups, spontanes Kopulieren auf Kirchenbänken. Reißt das noch jemand vom | |
Hocker? Ja! Viele haben sich während der zunächst vollbesetzten Aufführung | |
im Cour dHonneur polternd ins Freie geflüchtet, hinaus in die Straßencafés | |
und zu den kleinen GauklerInnen. | |
Wie mag wohl irgendwo auf den Rängen die Diskussion zwischen einer schwarz | |
gekleideten Frau und ihrem Mann im Partnerlook weitergegangen sein? Auch | |
das wäre sicher amüsant gewesen weiter zu verfolgen. Vielleicht begegnet | |
man sich wieder im Kulturrausch in der Provence. | |
5 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Gudrun Mangold | |
## TAGS | |
Reiseland Frankreich | |
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