# taz.de -- Kriminologe zu Sicherungsverwahrung: "Die Gefahr wird extrem übers… | |
> Der Kriminologe Thomas Feltes erklärt, dass neun von zehn Insassen der | |
> Sicherungsverwahrung unnötig weggesperrt wurden. Angst vor Entlassenen | |
> hält er für "unangemessen" | |
Bild: Wann werden weggesperrte Täter zu Opfern? | |
taz: Herr Feltes, mehr als 80 rückfallgefährdete Straftäter sollen aus der | |
Sicherungsverwahrung freikommen. Die Justizminister der Länder und viele | |
Gerichte blockieren, wo sie nur können. Was empfehlen Sie als | |
Kriminologieprofessor? | |
Thomas Feltes: Die Betroffenen sind sofort aus der Haft zu entlassen. Das | |
Straßburger Urteil ist verbindlich. Wer veranlasst, dass diese Personen | |
weiter im Gefängnis bleiben müssen, begeht Rechtsbeugung. | |
Meinen Sie damit auch das Bundesverfassungsgericht, das mehrere Eilanträge | |
abgewiesen hat? | |
Ich bin mal gespannt, ob einer der abgewiesenen Antragssteller nach | |
Straßburg geht und dort Eilrechtsschutz beantragt. Das könnte für | |
Deutschland ziemlich peinlich werden. | |
Wenn Sie Justizminister wären, würden Sie also noch heute alle Betroffenen | |
aus der Verwahrung entlassen? | |
Natürlich. Ich verstehe die ganze Aufregung nicht. Das Urteil aus Straßburg | |
ist seit Dezember 2009 bekannt, seit Mai ist es rechtskräftig. Die | |
Haftanstalten hatten also genug Zeit, die Betroffenen auf die | |
Haftentlassung vorzubereiten und eine gute Betreuung nach der Entlassung zu | |
organisieren. Ich hoffe, dass die meisten Bundesländer das gemacht haben. | |
Viele der bereits Entlassenen werden jetzt rund um die Uhr überwacht, im | |
Schichtdienst von bis zu 24 Polizisten. | |
Für so etwas ist Geld da! Aber wenn man zwei Bewährungshelfer braucht, die | |
bei der Integration in den neuen Alltag helfen, da fehlen dann die Mittel. | |
Genügen Sozialarbeiter im Umgang mit gefährlichen Sexual- und | |
Gewaltstraftätern? | |
Die Gefährlichkeit dieser Leute wird extrem überschätzt. Viele von ihnen | |
sind inzwischen schon alt geworden. Außerdem ist die Vorstellung, dass in | |
der Sicherungsverwahrung nur Menschen sitzen, die sonst neue schwere | |
Straftaten begehen, nachweislich falsch. Von zehn Verwahrten sind neun | |
unnötig inhaftiert, weil sie gar nicht rückfällig geworden wären. | |
Woher wollen Sie das wissen? | |
An meinem Lehrstuhl haben wir im Vorjahr eine Untersuchung abgeschlossen, | |
die das belegt. Dabei wurde der Werdegang von 67 Straftätern untersucht, | |
bei denen Haftanstalten - gestützt auf Gutachten - eine fortdauernde | |
Gefährlichkeit prognostizierten und deshalb nachträglich | |
Sicherungsverwahrung beantragten. Aus rechtlichen Gründen lehnten die | |
Gerichte dies jeweils ab. Und wir konnten prüfen, ob die angeblich so | |
gefährlichen Täter tatsächlich neue Gewalttaten verübten. | |
Und? Wie viele der 67 Entlassenen wurden rückfällig? | |
Dreiundzwanzig begingen zwar neue Straftaten, aber meist handelte es sich | |
nur um kleine Diebstähle oder Drogendelikte, also nichts, was eine | |
vorsorgliche Inhaftierung gerechtfertigt hätte. Wegen neuer Gewalttaten | |
wurden nur drei Personen rechtskräftig verurteilt. Selbst wenn sich diese | |
Zahl in den folgenden Jahren verdoppelt, weil noch Fälle vor Gericht | |
anhängig sind, wären das nur zehn Prozent der Entlassenen. Die übrigen 90 | |
Prozent wären unnötig in Sicherungsverwahrung gesteckt worden. | |
Woran liegt es, dass so viele Personen unnötig in Sicherungsverwahrung | |
landen? | |
Das ist vor allem ein Problem der Sachverständigen. denen es oft an | |
Rückgrat fehlt. Manche freiberuflichen Psychologen leben von solchen | |
Gutachten, die gut bezahlt werden - mit 100 Euro pro Stunde und mehr. Da | |
gehen viele lieber kein Risiko ein, aus Angst, sie könnten keine Aufträge | |
mehr bekommen. | |
Sie meinen das Risiko, dass es entgegen der Prognose doch zu einem Rückfall | |
kommt? | |
Nicht nur. Es genügt ja schon, dass mehrfach die Erwartung des Gerichts | |
enttäuscht wird und deshalb die Aufträge ausbleiben. Bei Tätern, die | |
bereits eine lange Kriminalitätskarriere haben, spricht auf dem Papier ja | |
zunächst vieles dafür, eine Rückfallgefahr und einen Hang zu gefährlichen | |
Straftaten anzunehmen. Da ist es doch bequem und entspricht der Erwartung, | |
wenn man einfach die alten Gutachten abschreibt. Wer jedoch gegen den Strom | |
schwimmt und sich ganz neu mit der Situation eines Straftäters | |
auseinandersetzt, muss viel mehr Kraft investieren und auch noch die | |
Richter überzeugen. | |
Also sind nicht nur die Gutachter, sondern auch die Richter schuld? | |
Ja. Richter, die voreingenommen sind oder nicht kritisch nachfragen, sind | |
ebenfalls ein Problem. Und da Richter einen sicheren Arbeitsplatz haben, | |
ist ihnen sogar der größere Vorwurf zu machen. | |
Könnte die Qualität der Prognosen so gesteigert werden, dass tendenziell | |
nur noch Straftäter in der Sicherungsverwahrung landen, die wirklich | |
anhaltend gefährlich sind? | |
Das halte ich mittelfristig für machbar. Die Gutachter müssten dann aber | |
speziell für gerichtliche Zwecke ausgebildet werden und in | |
interdisziplinären Teams arbeiten. Noch besser fände ich es aber, die | |
Sicherungsverwahrung ganz abzuschaffen. | |
Dann würden aber auch die fortdauernd gefährlichen Täter entlassen. | |
Nein, vielmehr müsste dann endlich während der Haftzeit vernünftig mit den | |
Tätern gearbeitet werden. Statt dem bisherigen Verwahrvollzug müsste ein | |
therapeutisches Milieu geschaffen werden. Statt Schließern müsste es im | |
Gefängnis viel mehr Psychologen geben. Dann würden Rückfälle schon im | |
Ansatz verhindert und die Allgemeinheit würde nachhaltig geschützt. | |
Sie versprechen hundert Prozent Sicherheit? | |
Natürlich nicht. Niemand kann das versprechen. Aber statt Ängste zu | |
schüren, sollten Politik und Medien eher die Bereitschaft der Gesellschaft | |
fördern, auch mal eine Fehlprognose und ein gewisses Restrisiko zu | |
akzeptieren. Die meisten Gewaltdelikte werden ja ohnehin von Ersttätern und | |
nicht von Rückfälligen begangen. | |
Was halten Sie von den Reformvorschlägen der Justizministerin? Sie will die | |
nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung abschaffen und die | |
vorbehaltene Verwahrung ausbauen. | |
Das ist bei Weitem nicht so liberal wie es von der FDP verkauft und von der | |
Union befürchtet wird. Unter dem Strich könnte der Plan sogar dazu führen, | |
dass deutlich mehr Sicherungsverwahrung verhängt wird als bisher. Denn der | |
Strafrichter macht sich vermutlich weniger Gedanken, wenn er in seinem | |
Urteil die Verwahrung nur vorbehält und nicht endgültig anordnet. Später | |
könnte es dann einen gewissen Automatismus geben und die nur vorbehaltene | |
Verwahrung würde dann ohne großes weiteres Nachdenken tatsächlich | |
vollstreckt. | |
Anders als bisher soll die vorbehaltene Sicherungsverwahrung auch für | |
Ersttäter ermöglicht werden. | |
Damit könnte ich leben, wenn zugleich die Qualität der Gutachten steigen | |
würde. Schließlich kann ein Ersttäter nach der Haftentlassung genauso | |
gefährlich sein, wie ein Täter, der schon mehrfach rückfällig wurde. | |
8 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Christian Rath | |
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