# taz.de -- Russische Brandkatastrophe: "Tod durch Hitzeschlag" amtlich verboten | |
> Neuer Hitzerekord und volle Leichenhäuser: Doch die russischen Politiker | |
> reagieren gelassen und teilnahmslos auf die Ereignisse. Die Bürger sind | |
> sich selbst überlassen. | |
Bild: Nur Kamine haben die Waldbrände übrig gelassen: das Dorf Peredeltsy, 18… | |
MOSKAU taz | Die Szene hatte etwas Alttestamentarisches. Menschen stürmten | |
auf die Straße, schrien vor Freude und reckten die Arme gen Himmel. 30 | |
Sekunden ging über dem Westen Moskaus ein kurzer, aber prasselnder Regen | |
nieder, gefolgt von einer wütenden Böe. Das war es dann aber auch, was der | |
Himmel an Erleichterung schickte. Auch am Dienstag stellte die russische | |
Hauptstadt mit 33 Grad wieder einen neuen Hitzerekord auf. Alle Hoffnungen | |
setzt Moskau jetzt ausnahmsweise auf den Westen. Ab Mitte der Woche sollen | |
Westwinde den Smog über der Stadt vertreiben. Nach offiziellen Angaben | |
wurden trotz Erleichterung aber auch gestern die Grenzwerte für | |
Kohlenmonoxid und Feinstaub um ein Vielfaches überschritten. | |
Die Wald- und Torfbrände im Osten Moskaus wüten unterdessen weiter. Noch | |
ist es nicht abzusehen, ob und wann es der Feuerwehr gelingt, die Brände zu | |
löschen. Auch in der Umgebung der Atomanlagen in Sneschinsk, Majak und | |
Sarow, brennen die Wälder noch. Das Zivilschutzministerium beteuert jedoch, | |
die Feuer seien unter Kontrolle und die Nuklearanlagen nicht bedroht. Die | |
Verhängung des Ausnahmezustands in der Wiederaufbereitungsanlage Majak bei | |
Tscheljabinsk im Ural am Montag hatte indes Misstrauen geschürt. | |
Die Atomanlage beherbergt Russlands größte Atommülldeponie. Niemand weiß | |
genau, wie der Abfall dort entsorgt wird. Majak ist überdies der Ort, an | |
dem sich 1957 der bislang schwerste atomare Unfall der Geschichte | |
ereignete. Damals explodierte eine Abfalldeponie, die mehr Radioaktivität | |
freisetzte als der GAU von Tschernobyl knapp dreißig Jahre später. Die | |
Umgebung ist nach wie vor hochgradig verseucht. Achtzig Tonnen Atommüll | |
flogen damals in die Luft. Feuer würden das radioaktive Material in die | |
Atmosphäre befördern. Die Sicherheitsmaßnahmen sind angebracht. Da die | |
russischen Behörden Unfälle und Katastrophen gewöhnlich widerwillig und | |
erst nach langem Zögern eingestehen, wächst bei früher Prophylaxe der | |
Argwohn. Haben sie es wirklich unter Kontrolle? | |
Auch ohne nukleare Katastrophe steht Russland bereits vor einem GAU. | |
Russische Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass der Schaden aus den | |
Waldbränden sich auf ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts von 2010 beläuft | |
und umgerechnet 11,5 Milliarden Euro ausmacht. In dieser Aufrechnung sind | |
aber laut der Wirtschaftszeitung Kommersant nur die Kosten und Verluste | |
eingerechnet, die die Brände direkt verursachten. Die langfristigen | |
Folgekosten dürften noch höher ausfallen, meinen die Experten. Für das | |
dritte Quartal 2010 lautet die Prognose: Produktionsrückgang und | |
wirtschaftliche Stagnation. Da Russland Umweltschäden bislang nicht | |
offiziell registriert, können Verluste, die durch Degradierung und Raubbau | |
der Umwelt entstehen, überdies nicht exakt beziffert werden. | |
Vor dem Hintergrund der gesundheitlichen und ökologischen Ausnahmesituation | |
mutet es befremdlich an, wie gelassen und teilnahmslos Politiker und | |
Bürokraten in Moskau auf die Ereignisse reagieren. Die Bürger sind sich | |
selbst überlassen. Wer halbwegs gesund ist, begegnet dem Notstand mit | |
Schicksalsergebenheit und Sarkasmus. | |
Gesundheitsministerin Tatjana Golowkina streitet sich unterdessen mit den | |
Moskauer Stadtbehörden über die Zahl der Todesfälle. Der Leiter des | |
Moskauer Gesundheitsdienstes, Andrej Seltsowski, sprach von einer | |
Verdoppelung der Todesrate durch Smog und Hitze. Die Leichenhäuser der | |
Stadt seien voll und von den 1.500 Plätzen mehr als 1.300 belegt. Die | |
Gesundheitsministerin echauffierte sich. Ihr Ministerium hätte für das | |
erste Halbjahr sogar einen Rückgang von neun Prozent verzeichnet, meinte | |
sie. Dass die Brände erst im Juli ausbrachen, schien ihr entgangen zu sein. | |
Russlands politische Klasse ist nervös, denn sie hat auf ganzer Linie | |
versagt. Daher dürfen Ärzte auf dem Totenschein auch nicht "Tod durch | |
Hitzschlag" vermerken. | |
Unterdessen drohen Russland andere Naturgewalten. Nach Abflauen der | |
Hitzewelle, sagten Meteorologen der Rossiskaja Gaseta, müsse sich das Land | |
auf lange und heftige Regengüsse, Stürme und Tornados einstellen. | |
10 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Klaus-Helge Donath | |
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