# taz.de -- Street Parade in Zürich: Einer bleibt immer nüchtern | |
> Das Strömen der Massen ist bei der Street Parade in Zürich erprobt. | |
> 650.000 Teilnehmer, Gedenkminute für Duisburg und ein ordentlich | |
> geregelter Exzess. | |
Bild: Gut drauf: Teilnehmerinnen der Street Parade. | |
ZÜRICH taz | Auf dem Weg zur Roten Fabrik bleibt Leo plötzlich stehen, | |
schaut in den Himmel und wundert sich lautstark. Eine Formation grauer | |
Schemen schwebt durch die wolkenlose Nacht über dem Zürichsee. Mitten drin | |
ein flackerndes kleines Licht. Es ist ein schöner, mysteriöser Anblick, bis | |
ein Mädchen Leo fragt: "Kennst du das nicht?" Es sind indische | |
Papierballons, die von einer brennenden Kerze nach oben getragen werden. | |
Dabei ist Indien Leo nicht fremd. In Goa hat er eine Zeit lang gelebt. | |
Jetzt ist Leo wie jedes Jahr auf dem Weg zur Lethargy, dem | |
Alternativprogramm zur Street Parade. Sie haben Lampions aufgehängt im Hof | |
der Roten Fabrik, dem traditionsreichen Zentrum Züricher Gegenkultur. Die | |
roten Klinkergebäude und die Bäume am Ufer sind mit psychedelischen Mustern | |
angestrahlt. Es ist die Nacht von Freitag auf Samstag. Langsam strömen die | |
Leute herein. Entspannt sehen sie aus. Sie freuen sich auf eine lange | |
Party. Eine junge Frau geht mit einem Tablett herum und verteilt Obst. In | |
der Luft hängt der Geruch von Haschisch. | |
Anfänge der Freaks | |
Lethargy ist ein zwei Tage dauerndes Festival, auf dem DJs Musik machen und | |
Bands spielen, in der Nacht. Und es ist Teil eines jahrzehntealten | |
Gegenprogramms zur protestantisch strengen Betriebsamkeit des Züricher | |
Bürgertums. Die Schweizer sind ein Volk, das die Freiheit und die Ordnung | |
liebt. Die Widersprüche, die sich daraus ergeben, sind vielleicht das | |
eigentlich Schweizerische an der Eidgenossenschaft. | |
Leo ist demnach ein typischer Schweizer. Er fällt nicht auf mit seinen | |
schwarzen Klamotten, den kleinen Steckern im Ohr und den sehr kurz | |
geschnittenen weißen Haaren. Auf eine abenteuerliche Weise akkurat sieht er | |
aus. Wie ein alter, drahtiger Raver. Aber er kommt von weiter her. | |
Seine 71 Jahre sieht man Leo nicht an. Er war schon dabei, als die Freaks | |
vor über dreißig Jahren anfingen, zu Pfingsten das Allmendfest zu | |
organisieren. Das Allmendfest ist die Mutter der Street Parade. Die | |
Nachrichtenkanäle der Freaks arbeiteten damals gut. Von überallher kamen | |
die Leute. Sie stellten ihre Zelte auf, machten Musik, brachten Essen und | |
natürlich Drogen aller Art. "Einmal hab ich dort LSD verkauft", erzählt | |
Leo. "Ein Typ hat mir gesagt: Wenn das nicht gut ist, tunk ich dich in den | |
See. Später hab ich ihn wiedergesehen. Er hat mich nicht mehr erkannt." | |
Stefan Epli ist ein alter Raver. Er war schon bei den frühen Paraden in | |
Zürich dabei. Die erste fand 1992 statt. Seit ein paar Jahren ist er | |
Pressesprecher der Street Parade. Nach Duisburg wollten alle von ihm | |
wissen, was man zu tun gedenke, damit es kein zweites Duisburg am Zürichsee | |
gibt. Epli sagt, in Zürich habe man selbst in den Boomjahren nie ein | |
Problem gehabt, als gut eine Million Leute um den See herum unterwegs | |
waren. "Das ist in Zürich eine ganz andere Konstellation vom Gelände her." | |
Das sehen auch die Raver so, die von den lokalen Medien vorab fleißig | |
interviewt werden. Wenns zu eng werde, könne man sich ja in die | |
Seitenstraßen zurückziehen. Oder in den See ausweichen. | |
Trotzdem schlägt am Abend vor der Parade die Stunde der neuen Priester der | |
Eventgesellschaft. Panikforscher von einem Münchner Institut namens Psytech | |
melden im Schweizer Fernsehen Zweifel an. Die dreißig Meter breite | |
Quai-Brücke könne bei einem unerwarteten Ereignis zur Falle werden. Doch | |
der Sprecher der Zürcher Stadtpolizei winkt nur ab. Wer so was sage, sei | |
wohl noch nie hier gewesen. | |
Das Strömen der Massen auf den Straßen und Promenaden um den Zürichsee ist | |
seit Jahren erprobt. Es wird mit Schweizer Ordnungssinn und Präzision | |
geplant. Etwaige Hindernisse werden abgebaut. Die Seitenstraßen sind für | |
den Verkehr gesperrt und leergeräumt. Am Ende der Quai-Brücke stehen große | |
Schilder mit der Aufschrift "Notausgang". Die Massen verteilen sich über | |
die gesamte Strecke. Auf sieben Bühnen spielen DJs, darunter Stars wie der | |
Berliner Paul Kalkbrenner oder DJ Hell aus München. | |
Am Samstag um eins werden die Soundsysteme hochgefahren. Die DJs legen | |
Platten auf. Die ersten Raver tanzen grinsend. Um zwei setzen sich die Love | |
Mobiles in Bewegung. Und um drei ist der Hauptbahnhof immer noch voller | |
Raver. Gemählich verlassen immer wieder ein paar von ihnen die Halle. Bald | |
sind sie Teil des Menschenstroms, der sich die Bahnhofstraße zum See | |
hinunter bewegt. | |
Mitten drin sind drei Mädchen aus Deutschland. Die drei tragen | |
Kombinationen, die nach Schwarz-Rot-Gold aussehen. Ist nur Zufall, lachen | |
sie. Teresa, Anna-Lena und Carina sind 18. Sie sind das erste Mal aus | |
Waldshut nahe der Schweizer Grenze mit dem Zug zur Street Parade gefahren. | |
Angst haben sie keine. "Dann könnten wir ja gleich zu Hause bleiben", sagt | |
Teresa. Komisch findet sie nur das Gerücht, im Moloch Zürich seien Leute | |
mit Aidsspritzen unterwegs, die sie unbemerkt in fremde Leute steckten, um | |
sie zu infizieren. | |
Das Schauermärchen ist eine Erzählung, die davon handelt, dass man bei | |
aller Vorsicht auf den guten Willen der anderen angewiesen ist. Es spricht | |
von der Angst, dass das Leben nicht planbar ist. Pressesprecher Stefan Epli | |
hat dafür den passenden Satz parat: "Ein Restrisiko bleibt immer." Ihn | |
bekümmert weniger die große Sicherheitslage. Sein Problem ist exzessiver | |
Drogenkonsum. "Auch in den Clubs wird aggressiver getrunken als früher", | |
sagt er. Die jungen Leute knallen sich weg. Auf der Parade wird deswegen | |
kein harter Alkohol verkauft. | |
Auf Flyern appellieren die Organisatoren an des Ravers | |
Verantwortungsbewusstsein: "Stadt sauber halten. Ohren schützen. Keine | |
Drogen, nicht dealen. Keine Kletterübungen. Trinkt genug Wasser. Schützt | |
die Grünflächen und Blumen. Kein Camping in Parks." Der Appell an | |
Drogenuser, keine Drogen zu nehmen, ist unrealistisch. Zeitungen berichten, | |
im letzten Jahr seien bei der Parade 330 Dosen Ecstasy, 30 Gramm Kokain, | |
160 Gramm Marihuana, 1,45 kg Speed und 100 Gramm flüssiges LSD | |
beschlagnahmt worden. Weitaus größere Mengen dürften wohl konsumiert worden | |
sein. | |
Wer auf eine Technoparade geht und kein Tourist ist, geht auf einen Trip. | |
Zu dieser Reise gehören für viele Drogen. Und sei es nur die Dose | |
Feldschlösschen, das billigste Bier aus dem Coop-Supermarkt. Auch die Jungs | |
Mitte zwanzig aus Lausanne haben sich mit Bierdosen und Cola eingedeckt. | |
Auf einer Mauer direkt am Seeufer haben sie es sich bequem gemacht. Ihre | |
Bewegungen sind etwas fahrig. Von ein paar Zürcher Jungs kaufen sie rote | |
Pillen. Der Lausanner mit dem Kapuzenpulli bricht eine entzwei. Eine Hälfte | |
gibt er seinem Kumpel, die andere wirft er selber ein. Wisst ihr was drin | |
ist? LSD, sagt einer der beiden. Quatsch, sagt der andere: Ecstasy und | |
Speed. | |
Rituale des Übergangs | |
Hätten die Jungs bei der Lethargy in der Roten Fabrik vorbeigeschaut, | |
hätten sie die Informationsblätter auf den Klos hängen sehen. Auf ihnen | |
wird vor roten Pillen gewarnt, die als Ecstasy verkauft werden, aber das | |
Meskalinderivat 2C-B enthalten. | |
Techno war immer eine anarchistische Kultur. Wer feiert, stellt die | |
gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf. Statt zu arbeiten, wird getanzt. | |
Statt sich im Büro gut zu verkaufen, verschwenden sich die Feiernden auf | |
der Straße. Das heißt aber nicht, dass alle Regeln der Vernunft aufgegeben | |
würden. Rituale ermöglichen den Übergang von einer Ordnung in die andere. | |
Selbstverantwortung und Selbstorganisation sind gefragt. Eine alte | |
Raver-Regel lautet: Einer bleibt immer nüchtern auf der Abfahrt. Der | |
findet, wenn es sein muss, den Weg nach draußen. | |
Die Street Parade ist ein großer Karneval - auch für die, die nur Wasser | |
oder Energydrinks zu sich nehmen. Da gibt es zwei muskulöse Holländer, die | |
plötzlich in orangefarbenen Badehosen aus dem See steigen. Im Laufschritt | |
verschwinden sie in der Menge. Da ist der bärtige Italiener, der sich eine | |
Pappschachtel vors Gemächt gebunden hat. Darauf steht: "Dick inna Box", | |
Schwanz in der Dose, und die Längenangabe: 20 cm. Matrosen in knappen | |
Höschen rotten sich zu Gruppen zusammen. Obszöne Witze, Exzesse in | |
Fantasieuniformen, das ist die Essenz des Karnevals. | |
Das Schönste am Karneval ist aber, dass alle mitmachen können. Nat und | |
Freda Kirschner aus Johannesburg sind wegen einer Hochzeit in der Stadt. | |
Dann hat sie die Street Parade auf die Straße gelockt. "Its fantastic!", | |
ruft Nat. Seine Augen strahlen. Nat ist 86, seine Frau 81. "Eben musste ich | |
mit jemand tanzen!", lacht Freda. Sie findet es wunderbar. | |
15 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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