# taz.de -- Prozessauftakt gegen Nadja Benaissa: Die Verhandelbarkeit des Körp… | |
> Der Kläger belastet das ehemalige No-Angels-Mitglied schwer. Benaissa | |
> soll ihn 2004 mit HIV angesteckt haben. Sie bedauert, anderen Leid | |
> zugefügt zu haben. Die Wahrheitsfindung wird schwer. | |
Bild: Der Prozess als Chance, mit sich ins Reine zu kommen? Die Angeklagte Nadj… | |
DARMSTADT taz | Nadja Benaissa, bis vor kurzem Sängerin der Castingband No | |
Angels, wirkt gefasst und aufgeräumt, als sie den Saal 3 im Amtsgericht | |
Darmstadt betritt. Ihre wallenden Haare hat sie nach hinten gebunden. Das | |
auberginefarbene Hemd, die Jeans, das ebenmäßige Gesicht - alles wirkt | |
klar. Die Scheinwerfer, die Kameras, die auf sie gerichtet sind, bevor der | |
Richter den Saal betritt, hält sie aus. Nachdem sie von der | |
Staatsanwaltschaft als HIV-positiv geoutet wurde, nachdem der Prozess | |
eröffnet wurde, in dem ihr vorgeworfen wird, einen Mann infiziert zu haben, | |
gibt es sowieso kein Zurück in die Anonymität. | |
In fünf Fällen soll Benaissa in den Jahren 2000 bis 2004 Sex mit Männern | |
gehabt haben, ohne ihnen von ihrer HIV-Infektion zu berichten. Dies geht | |
aus der Verlesung der Anklage hervor. Bei einem Ankläger soll es zu einer | |
Ansteckung gekommen sein. Wer HIV-positiv ist, ist verpflichtet, dies | |
seinem Sexualpartner mitzuteilen. Sonst gilt es als versuchte gefährliche | |
Körperverletzung. Kommt es zu einer Infizierung ist es gefährliche | |
Körperverletzung. | |
Zu Beginn des Prozesses lässt die heute 28-Jährige eine Erklärung durch | |
ihren Rechtsanwalt Oliver Wallasch verlesen. Er liest vor, wie sie 1999 | |
während ihrer Schwangerschaft erfährt, dass sie HIV-positiv ist. Kaum 17 | |
Jahre alt ist sie da. Sie sei von dem Ergebnis überrascht gewesen und weiß | |
auch nicht, wo sie sich infiziert hat. Seitdem sei sie in ärztlicher | |
Behandlung und die Ärzte hätten ihr versichert, dass das Ansteckungsrisiko | |
gering sei, wenn die Viruslast unter der Nachweisgrenze liegt. | |
Sie habe weitestgehend auf die Benutzung von Kondomen geachtet, aber auf | |
Parties, mit Alkohol sei das nicht immer eingehalten worden. Sie sei, gibt | |
sie zu, nicht sorgfältig genug mit ihrer Infektion umgegangen. Als sie dann | |
zur Band No Angels gehörte, wurde zusätzlich Druck auf sie ausgeübt, ihre | |
Infektion geheim zu halten, denn ein Outing, so sah es das Management, | |
hätte das Ende der Band bedeutet. Sie habe, meint sie, auf falsche | |
Ratschläge gehört und hätte verantwortungsvoller mit der Krankheit umgehen | |
müssen. Dass sie anderen Leid zugefügt habe, bedauert sie. | |
Den Prozess betrachtet sie als Chance, mit sich ins Reine zu kommen. In der | |
anschließenden Befragung durch den Richter wird deutlich, wie schwierig | |
Benaissas Jugend war. Sie geht aufs Gymnasium in Langen, gerät bereits als | |
13-Jährige "auf die schiefe Bahn", wie sie sagt. Alkohol, Marihuana, | |
vierzehnjährig auch Crack. Sie wird süchtig, lebt zwei Jahre auf der | |
Straße, wird schwanger, steigt aus, wird, weil sie es will, clean, ist | |
infiziert, bringt 1999 eine Tochter zur Welt. Per Kaiserschnitt, damit das | |
Kind nicht angesteckt wird. | |
Sie redet auch über den Kontakt zu ihren Eltern. Der ist schwierig. Sie | |
hält es da nicht lange aus. Das bikulturelle Milieu - man müsse sich das | |
vorstellen, über Sexualität werde da nicht geredet. Benaissa ist | |
marokkanischer Herkunft. Trotzdem kommt sie nach der Geburt wieder ins | |
Gleichgewicht, geht auf die Abendrealschule, ist Klassenbeste und gerät | |
2000 vor dem Schulabschluss ins Casting. Innerhalb von wenigen Wochen ist | |
sie Mitglied einer Girl-Group. "Dann war das Leben nicht mehr wie vorher." | |
Natürlich will sie Sängerin werden, ihrer Tochter was bieten - sagt sie. | |
Die Infektion versucht sie auszublenden. Ganz einfach ist das allerdings | |
nicht. Das Gerücht kursiert. Schon 2001 stellt ihr "eine große deutsche | |
Zeitung" ein Ultimatum. Sie soll ein Attest ihrer Tochter vorlegen, oder | |
ihre eigene Infektion werde öffentlich gemacht. Sie lässt sich nicht | |
erpressen. Im Verlauf der Befragung stockt Benaissa die Stimme. | |
Irgendwann 2004 kommt es zum Geschlechtsverkehr mit einem Künstlerbetreuer. | |
Eine Gelegenheitsnummer. Dabei kommt auch ihre Tante Salima Benaissa ins | |
Spiel, die im Prozess gegen sie aussagen wird. Für diese Zeugenaussage wird | |
die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Nicht so bei der Aussage des | |
34-Jährigen. Der erfährt 2007, dass er HIV-positiv ist. Für ihn ist klar: | |
Sie war's. Er nennt sie bei der Befragung nur: "die junge Dame". | |
Der Kläger, mit gegeltem zurück gekämmten Haar und Kapuzenpulli, ist außer | |
sich. Er will das Leid, das ihm angetan wurde "da rüber schieben". Er zeigt | |
auf Benaissa. "Mit dem Brocken muss sie dann rumlaufen." Wieso er so sicher | |
ist, dass sie ihn infiziert hat, bleibt an diesem ersten Prozesstag unklar. | |
Dass er kein Abstinenzler ist, was Sex angeht, allerdings nicht. "Man | |
trinkt was, man trifft sich." Wie oft? Strichlisten führe er nicht. | |
Kondome? Teils, teils. Wenn Verhütung ein Thema ist, von wem geht das aus. | |
"Ein Mann macht das schneller", sagt er. Da lacht das Publikum, das den | |
Prozess hinter einer Glaswand verfolgen darf, auf. | |
Der Versuch, sich mit dem Kläger außergerichtlich zu einigen, ist | |
misslungen, sagen die Rechtsanwälte. Der Kläger hätte 2007 bereits | |
verlangt, dass sie sich outet und 100.000 Euro an die Aidshilfe bezahlt. Zu | |
einem Zeitpunkt, als Benaissa, die heute ohne Schulabschlus dasteht und | |
deren Beruf "freischaffende Künstlerin" ist, schon insolvent war. Soweit | |
der Prozess, der gerade erst angefangen hat. Die Wahrheitsfindung wird | |
schwierig. Ob es am Ende überhaupt eine Wahrheit gibt, ist unklar. | |
Erkenntnisse allerdings wird es geben. Darüber, wie schwierig ein Leben für | |
ein junges Mädchen aus multikultrellem Milieu sein kann, wie gnadenlos die | |
Musikindustrie ist und wie verhandelbar der Körper. | |
16 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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