Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Flutkatastrophe in Pakistan: Der Islamist, dein Freund und Helfer
> Der Staat versagt bei der Fluthilfe. Fundamentalistische Gruppen springen
> in die Bresche, leisten effektive Hilfe. In Deutschland steigt
> unterdessen die Spendenbereitschaft.
Bild: Brot für die Opfer der Flutkatastrophe: Helfer der islamischen Stiftung …
PESHAWAR taz | Um den 12-jährigen Fazaz steht eine große Schar von
Flutvertriebenen. Es sind in der Not des Lagerlebens sorgfältig gekleidete
Paschtunen: einfache, aber bisher keine armen Leute. Alle wollen sie noch
einmal Fazaz Geschichte hören. Doch der Junge zieht seine blaue Schirmmütze
mit dem pakistanischen Stern- und Sichelsymbol noch ein Stück tiefer ins
Gesicht. Dem Teenager ist seine Rettungsgeschichte peinlich. Ausgerechnet
seinem Lehrer Eid Akbar, der jetzt neben ihm in einem Notzelt von Pakistans
größter fundamentalistischer Partei Jamaat-e-Islami steht und den Arm um
ihn legt, verdankt er sein Leben.
"Ich war mit zwei Freunden unterwegs, die Eltern waren zu Hause", beginnt
Fazaz endlich. Stockend berichtet er, wie er und seine Freunde von den
Fluten des Flusses Kabul erfasst wurden, zu schwimmen versuchten, bis sie
der Kioskbesitzer ihres Dorfes auf einem schwimmenden Bambusbett rettete.
Doch das Bett zerbrach. Wieder waren die Jungen in Lebensgefahr. Da konnte
sie ihr Lehrer Akbar mit einem Holzboot ein zweites Mal bergen. "Ja, wir
haben geweint", sagt Fazaz. Er gibt das nicht gerne zu. Aber die Zuhörer
sind gerührt.
Vier Tage, drei Nächte
Das ist der Stoff von Heldenlegenden, und er geht auf das politische Konto
von Jamaat-e-Islami. Die Partei ist im Nationalparlament und in mehreren
Regionalparlamenten vertreten; hier, im Nordwesten Pakistans, war sie mal
Teil einer Regierungskoalition der Provinz Khyber Pakhtunkhwa (KP).
Jamaat-e-Islami unterstützt seit Jahren den Aufstand der Taliban in
Afghanistan. Dorflehrer Eid Akbar träumte schon als Kind von
Freiwilligeneinsätzen für die Partei. Allerdings war für Akbar mit der
Rettung der Jungen noch lange nicht alles getan.
Vier Tage und drei Nächte, erzählt Akbar, warteten die 20.000 Bewohner
seines Dorfes Muhibbanda und der unmittelbaren Nachbardörfer am Kabul auf
ihren Hausdächern in Todesangst auf den Rückgang der Flut. Sechs Bewohner
von Muhibbanda ertranken in den Fluten. Der Rest aber hielt durch mit Hilfe
von Wasser und Fladenbrot, das die Freiwilligen der Partei auf kleinen
Schlauchbooten verteilten. Helfer der Regierung oder internationaler
Organisationen bekamen die Leute in der Stunde ihrer größten Not nicht zu
sehen. Hubschrauber der pakistanischen und US-Armee flogen einfach über sie
hinweg.
Das ist der bisher größte politische Skandal der Flut. Muhibbanda liegt in
dem dichtbevölkerten Distrikt Nowshera vor den Toren der Millionenstadt
Peshawar in Nordwestpakistan. Hier leben die Paschtunen, die auch den Süden
Afghanistans bevölkern. Über die sechsspurige Autobahn, die trotz der
Fluten nicht gesperrt werden musste, sind es nur eineinhalb Fahrstunden bis
zur Hauptstadt Islamabad. Der Fluss Kabul kommt von Osten aus der
afghanischen Hauptstadt Kabul und durchfließt die von US- und Nato-Truppen
umkämpften Gebiete der Paschtunen in Südafghanistan. Wie aber konnten an
seinen Ufern nahe Peshawar hunderttausende in Lebensgefahr schweben, ohne
dass die pakistanische Regierung, ihr Militär oder die verbündeten US- und
Nato-Truppen irgendwelche Rettungs- oder Hilfsversuche einleiteten?
"Wir haben keine Regierung", gibt Dorflehrer Akbar seine Antwort. Der
frisch graduierte Arzt Farman Ullah stimmt ihm zu: "Die Leute wissen jetzt
ganz genau, wie sehr der Staat ihr Leben missachtet", sagt Farman, der
ebenfalls als Freiwilliger für Jamaat-e-Islami arbeitet. Der Arzt trägt
einen weißen Kittel und ein Hörgerät um den Hals. Mit zehn Uni-Kollegen von
der medizinischen Hochschule in Abbottabad hat er an diesem Tag 1.500
Flutbetroffene in den Lagern von Jamaat-e-Islami medizinisch versorgt.
Farman - mit dünnem Vollbart, eindringlichem Blick und brillantem Englisch
- strahlt geistige wie politische Energie aus. Er erinnert an die Che-Figur
in der Verfilmung von Steven Soderbergh. "Ich mag eure Demokratie nicht,
aber ich weiß, dass bei euch, wenn Not herrscht, der Staat hilft", sagt
Farman. Diese Mindestleistung erbringe der pakistanische Staat nicht mehr.
Farman steht dozierend inmitten der Flutopfer, die sein Englisch nicht
verstehen, aber ihn fasziniert anstarren. Er spricht von einer
revolutionären Lage im Land. "Die Menschen haben nichts mehr zu verlieren",
sagt er. Farmans junge Kollegen nicken, die älteren Parteikader im Lager
lächeln milde.
Die politischen Folgen der Flut sind auch in der Hauptstadt Islamabad hoch
umstritten. Die Fluten bedecken inzwischen ein Fünftel der Landesfläche, 20
Millionen Menschen sind betroffen, 8 Millionen schweben in Lebensgefahr,
wenn ihnen nicht schnell geholfen wird, darunter 3,5 Millionen Kinder. Doch
so richtig merkt man der hohen Politik des Landes das Drama nicht an.
Präsident Asif Ali Zardari weilte diese Woche in Russland, schon sein
zweiter Auslandsbesuch während der Flut. Premierminister Yusuf Raza Gilani
gab der Presse Interviews im Hubschrauber. Das schmeckte nach Aktivismus.
Schon häufen sich Berichte von plündernden Flutopfern. Die Opposition
kritisiert das Nichtzustandekommen einer parteiübergreifenden
Flutkommission. Von einer systematischen, breitflächig koordinierten
Lebensmittelvergabe kann immer noch keine Rede sein.
Inkompetente Regierung
Auch ein sonst eher zurückhaltender Beobachter wie der Sicherheitsexperte
Rifad Hussain, Professor an der Quaid-i-Azam Universität in Islamabad,
reagiert daher aufgeschreckt: "Unverantwortlich, unsensibel gegenüber dem
Leid der Bevölkerung, inkompetent" lautet Hussains Urteil über die Politik
der Regierung. Diese hätte längst den nationalen Notstand ausrufen und die
Armee voll einbinden müssen. "Das Volk ist enttäuscht", sagt Hussain. "Es
hätte seine demokratischen Vertreter in der Not an seiner Seite erwartet.
Doch die haben sich versteckt."
In die Lücke stoßen auch kleine, radikale islamische Organisationen, die
bislang im Untergrund operierten. Eine von ihnen hat ihre neue
Kommandozentrale für den Nordwesten des Landes, versteckt hinter einer
alten Autowerkstatt, in einem Vorort von Peshawar eingerichtet. Über einer
verrosteten Eisentür ist mit Nägeln ein neuer Deckname angebracht:
Al-Sufa-Stiftung. Hinter der Tür öffnet sich eine dunkle Halle, in der 30
Aktivisten mit Computern und Mobiltelefonen wirbeln, um die Hilfseinsätze
ihrer 700 Freiwilligen zu koordinieren. Über ihnen hängen handgemalte
Parolen vom heiligen islamischen Krieg: "Dschihad bedeutet, bis in den Tod
zu rennen", steht da. Genau das sind Szenekenner in Peshawar von dieser
Gruppe bisher gewöhnt: Dass ihre Leute als Selbstmordattentäter in den Tod
rennen.
Gaur Rehmann ist ihr Führer: ein kleiner, stämmiger Typ mit dunklem
Vollbart, gehüllt in eine schneeweiße Kurta. Er spricht ruhig und
eindringlich, manchmal hebt er den Zeigefinger. "Für uns Muslime ist die
Flut eine Prüfung vor Gott. Wenn wir uns gegenseitig helfen, werden wir sie
bestehen", sagt Rehman. Er hat noch eine andere Seite: Engagiert und
detailversessen - ganz in der Art von NGO-Helfern - beschreibt er
Trinkwasser- und Lebensmittelmangel der Flutbetroffenen. Die Regierung
vergebe jetzt zwar Hilfe auf den großen Straßen, aber sie gelange nicht in
die vielen abgelegenen Dörfer, die oft noch völlig durch die Fluten
abgeschnitten seien, sagt Rehman. Genau dorthin schicke er seine Leute.
"Sie tragen Frauen und Kinder auf Schultern durch die Fluten", sagt er. Der
freie Lokaljournalist Nasir Dawar hat Rehman zugehört und wundert sich:
"Ich kenne diese Leute schon lange. Ich hätte nie gedacht, dass sie auch
Leben retten", sagt Dawar.
Der Krieg geht weiter
Für die internationalen Hilfsorganisationen ist der erfolgreiche Einsatz
der fundamentalistischen Gruppen eine Blamage. 20.000 Freiwillige bietet
Asif Luqman Qazi, Koordinator der Hilfsaktionen von Jamaat-e-Islami in
Peshawar, den Vereinten Nationen an, wenn sie seiner Organisation die
dringend benötigten Lebensmittel, Medikamente und Zelte aushändigen würden.
Er macht das Angebot in perfektem Englisch, während er die Essensausgabe in
einem Lager inspiziert.
Doch die UN beliefert keine fundamentalistischen Gruppen, die im Krieg um
Afghanistan auf Seiten der Taliban stehen. Stattdessen versorgt sie im
Distrikt Charsadda östlich von Peshawar ein auf Privatinitiative eines
Mobilfunkvertreters in der Not gegründetes Mini-NGO, das jetzt in einer
Schule Mehlsäcke des Welternährungsprogramms auf Eselskarren verlädt.
Täglich von sieben bis drei Uhr. Die Bauern stehen mit ihren Karren lange
Zeit Schlange für das Mehl. Der Mobilfunkmann Baber Ali Khan weiß noch gar
nicht, wie er zu seinem neuen Job gekommen ist: "Die Leute verlangten
Hilfe, weil ich die Universität besucht habe", sagt Khan. Er ist ein
eifriger und gewissenhafter Typ. Aber effektiver wäre es, das
Welternährungsprogramm würde seine Mehlsäcke an Jamaat-e-Islami liefern.
Das ist eigentlich der noch größere Skandal: Der auch in Pakistan geführte
Afghanistankrieg geht inmitten der Fluten gnadenlos weiter. Gestern wollten
die USA in New York zwar erneut eine Erhöhung ihrer Fluthilfe für Pakistan
ankündigen, doch setzt Washington während der Flut auch die Bombardierung
paschtunischer Dörfer in Nordwestpakistan fort. "Dies ist nicht die Stunde
der Politik, sondern die Stunde von Aktion und Arbeit", sagt Asif Luqman
Qazi. Natürlich verfolgen auch der Fundamentalist Qazi und seine
Gesinnungsgenossen weiter ihre politischen Ziele im Krieg. Doch weil ihre
Taten derzeit für sie sprechen, klingen auch ihre Worte plötzlich
vernünftig.
19 Aug 2010
## AUTOREN
Georg Blume
## TAGS
Pakistan
## ARTIKEL ZUM THEMA
Pakistans politische Zukunft: Das Wasser und die Demokratie
Noch ringen die Helfer in Pakistan mit den Folgen der Überschwemmung. Doch
schon kämpfen demokratische Kräfte, Armee und Radikale um die politische
Hoheit.
Malteser-Blog aus Pakistan: "Kinder spielen im brackigen Wasser"
Der Hilfsdienst Malteser ist seit dem Erdbeben 2005 in Pakistan. Einer
ihrer Mitarbeiter beschreibt die Arbeit der Organisation in seinem Blog.
Das Wasser ist verschmutzt und macht krank.
Spenden für Pakistan: Kein Herz für Mullah Omar
In Pakistan kämpfen Millionen Menschen ums Überleben - dennoch ist die
Spendenbereitschaft hier bisher eher gering. Warum berührt uns dieses so
wenig?
Kommentar Hilfsgelder: Sichtbare und unsichtbare Opfer
Die deutsche Entwicklungspolitik funktioniert unter Schwarz-Gelb nach dem
Prinzip: private Mildtätigkeit ersetzt staatliche Nachhaltigkeit. Das ist
effektheischend.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.