# taz.de -- Propst Hinrich Claussen über Kirche ohne Arme: "Wir erleben eine M… | |
> Die evangelische Kirche ist fest in den Händen der Mittelschicht. Die | |
> Menschen von oben fehlen - aber auch die von unten. Letztere aus Scham, | |
> glaubt der Hamburger Propst Jan Hinrich Claussen. | |
Bild: "Es ist Teil des Problems, dass sich in Hamburg die Lebenswirklichkeit in… | |
taz: Kirchenleute beklagen, die Kirche rieche nach Mittelschicht. Stimmt | |
das, Herr Claussen? | |
Johann Hinrich Claussen: Die Kirche hat den Auftrag, sich insbesondere den | |
Armen und Ausgegrenzten zuzuwenden. Zugleich merken wir, dass in unserem | |
Gemeindeleben sozusagen Oben und Unten fehlt. Weder die besonders | |
Begüterten fühlen sich in großer Zahl aufgerufen, an unserem Gemeindeleben | |
teilzunehmen, noch die Menschen, die von Armut betroffen sind. | |
Warum nicht? | |
Das Gemeindeleben zieht bestimmte Menschen an und die gehören fast alle zur | |
Mittelschicht, selbst in schwierigeren Stadtteilen. Es ist gar nicht so | |
einfach, eine Atmosphäre herzustellen, in der Menschen, die von Armut | |
betroffen sind, sagen: Wir sind hier willkommen, wir fühlen uns nicht | |
beschämt. | |
Wenn überhaupt, scheint es zu gelingen, solange die Armen Objekt von | |
Zuwendungen sind. Nicht aber, wenn sie als Akteure auftauchen sollen. | |
In einigen Gemeinden gelingt es, Veranstaltungen zu machen, zu denen ganz | |
unterschiedliche Leute kommen. Ich kenne zum Beispiel eine Kirchengemeinde | |
auf der Veddel, die einmal wöchentlich ein Abendbrot organisiert. Da kommen | |
Leute, die einfach mal wieder warm und Fleisch essen wollen, und andere, | |
die nicht ihr Butterbrot alleine essen wollen, alleinerziehende Mütter, | |
Studenten. | |
Aber flächendeckend gelingt das nicht. | |
Gegenwärtig erleben wir eine Milieuverengung. Bei ganz vielen bürgerlichen | |
jungen Leuten kommt über das Thema Familie und Kindeserziehung eine | |
Rückbesinnung auf die christliche Tradition. Mir sagen Pastoren aus dem | |
Konfirmandenunterricht: Er ist einfacher geworden, weil nur noch die Kinder | |
aus den besseren Straßenzügen kommen. Sie sehen aber auch selbst, dass sie | |
an die anderen aufgrund der eigenen Art und Kapazitätsmangel nicht | |
herankommen. | |
Wo fehlen dann die Armen? Im Gottesdienst? | |
Es gibt natürlich auch viele Menschen, die wenig haben, die zum | |
Gottesdienst kommen. Aber wir merken - das klingt jetzt zynisch, ist aber | |
nicht so gemeint - dass in Deutschland die Armut kein religionsproduktiver | |
Zustand ist. Historisch betrachtet oder in vielen Ländern der südlichen | |
Halbkugel ist Armut ein Zustand, der dazu führt, dass man betet, dass man | |
den Gottesdienst als Kraftquelle nutzt. | |
Sind diese Länder nicht eher katholisch geprägt? | |
Traditionellerweise ja, neuerdings aber eher pfingstlerisch. Die | |
realisieren auf eine ganz eigene Weise, zum Teil sehr gut, zum Teil | |
problematisch, was die katholischen Befreiungstheologen in den 70er Jahren | |
gewollt haben: eine Kirche nicht nur für die Armen, sondern eine Kirche der | |
Armen, die sich in Basisgemeinschaften organisieren. | |
Setzen die Armen, nachdem man sie lange mit dem Himmelreich vertröstet hat, | |
ihre Hoffnung nicht inzwischen auf andere? | |
Wenn Menschen nichts von der Kirche wissen wollen, ist das zu respektieren. | |
Aber es ist unser Auftrag aus dem Evangelium, bereitzustehen, wenn Menschen | |
unsere Hilfe brauchen. Dass viele die Hilfe nicht annehmen, hat weniger | |
damit zu tun, dass die Armen vor vielen Jahrhunderten dumm und still | |
gehalten wurden, das passiert ja seit vielen Jahren nicht mehr. Ich glaube, | |
dass es etwas mit Scham zu tun hat. Wir Pastoren sind ja immer Akademiker, | |
bürgerlich geprägt, und die Kirche hat es dadurch schwerer, auf Menschen | |
anderer Schichten zuzugehen. Zudem haben wir nicht mehr die Mittel für die | |
Mitarbeiter, die das früher gemacht haben, vor allem die Diakone. Damit | |
können wir uns aber nicht begnügen. | |
Und was tut die Kirche? | |
Wir haben gerade in Zusammenarbeit mit der Arbeitsstelle Kirche und Stadt | |
an der Universität Hamburg einen Forschungsauftrag vergeben. Ein Kollege | |
sieht sich unterschiedliche Gemeinden an und untersucht, wo Menschen, die | |
von Armut betroffen sind, gerne sind. Er erlebt, dass in einer Gemeinde in | |
Jenfeld, die evangelikal geprägt ist, ganz viel passiert. | |
Die berühmte Arche. | |
Genau. Man kann zwar fragen, ob das alles theologisch angemessen ist - aber | |
er hat den Eindruck, dass dort das, was man neuerdings Empowerment nennt, | |
fast zwanglos geschieht. Dass die Armen gerne kommen, sich nicht beschämt | |
fühlen und die Angebote gerne wahrnehmen. | |
Ist die Kirche in Jenfeld fröhlicher? | |
Diese Gemeinde lebt aus einem großen Enthusiasmus, ist nicht | |
problemorientiert, sie hat nicht dieses Nöl-Protestantische. Das Klischee | |
des 70er Jahre Sozialprotestantismus ist etwas, was heute wohl eher | |
akademische Linksprotestanten anzieht, aber nicht die Menschen, um die es | |
geht. | |
Trotzdem sind Sie skeptisch. | |
Man muss schon auch fragen: Ist das nicht eine heimliche Entpolitisierung? | |
Der Linksprotestantismus hat in den 70er Jahren zurecht eingeklagt, dass | |
Sozialengagement für die Armen nur dann sinnvoll ist, wenn es auch | |
politische Strukturen mit diskutiert. Das hat etwas Dauerkritisches und | |
Negatives - aber es ist ein wichtiges Erbe, das man nicht einfach vergessen | |
sollte. | |
Was kann die Kirche denn heute den Armen anbieten? | |
Es gibt eine Untersuchung des Sozialethischen Instituts der Evangelischen | |
Kirche in Hannover, die Armut im ländlichen Raum beobachtet hat. Sie haben | |
Interviews dazu geführt und die Antwort ist fast unisono: Die Leute | |
erwarten keine sozialpolitischen Initiativen, auch nicht direkte Hilfe für | |
sich selbst, weil das beschämend wirkt. Sie wollen Hilfe für ihre Kinder: | |
gute Nachmittagsbetreuung, gute Ferienbetreuung. | |
In Ihrer Gemeinde im feinen Harvestehude begegnen Sie diesen Fragen nicht. | |
Es ist natürlich Teil des Problems, dass sich in Hamburg die | |
Lebenswirklichkeiten in den Stadtteilen so stark voneinander abkoppeln. Das | |
ist wirklich bedrohlich. Wir versuchen, da Berührungspunkte zu schaffen. | |
Zum Beispiel dadurch, dass wir Obdachlose im Winter bei uns zu Gast haben, | |
die in zwei Containern hinter dem Gemeindehaus leben. Wir haben Menschen | |
aus der Gerichtshilfe, die bei uns im Kindergarten arbeiten. Und man darf | |
nicht vergessen, dass es auch in einem derart reichen Stadtteil Formen | |
verschämter Armut gibt, vor allem Altersarmut. Witwen beispielsweise, die | |
seit vielen Jahren hier leben, noch mit der günstigen Miete von früher, | |
vielleicht noch alte Kleidung und Reste alter Bürgerlichkeit haben, die | |
aber richtig verarmt sind. Das ist, verglichen mit dem, was es in anderen | |
Stadtteilen gibt, wenig, aber es existieren Ecken, an denen man das auch | |
hier erleben kann. | |
War es Ihr Wunsch, gerade hier tätig zu sein? | |
Ich habe eine doppelte Funktion als Propst und Hauptpastor, diese | |
Kombination hat mich interessiert. Also eine mittlere kirchenleitende | |
Funktion zu übernehmen und gleichzeitig eine konkrete Gemeinde - und St. | |
Nikolai bietet viele Möglichkeiten: schöne Gottesdienste mit toller Musik, | |
ein wirklich aufgeschlossenes Publikum, Leute, die wirklich etwas wollen | |
und etwas auf die Füße bringen. | |
Damit trifft dann ein bildungsbürgerlicher Pastor auf eine | |
bildungsbürgerliche Gemeinde. | |
Ja, das stimmt. | |
Hatten Sie schon einmal engen Kontakt zu armen Menschen? | |
Ich bin sehr bürgerlich aufgewachsen, in Klein Flottbek, aber die | |
Grundschulen waren damals noch sehr viel gemischter als sie es heute sind. | |
Mein erster bester Freund war ein Arbeiterkind. Dann geht man seinen Weg | |
und der verengt sich - das erlebe ich schon bewusst. | |
Ein Kollege von Ihnen, der Theologe Friedrich Wilhelm Graf, merkte in der | |
FAZ an, dass der Theologennachwuchs in der evangelischen Kirche zunehmend | |
weiblich sei und aus nicht-akademischen Elternhäusern stamme. Damit verband | |
er die Befürchtung, dies zeige, dass der Berufsstand nicht mehr attraktiv | |
sei. | |
Was sich vor allem verändert hat, ist, dass es nicht mehr so stark die | |
Selbstrekrutierung aus Pfarrhäusern gibt. Der theologische Nachwuchs ist | |
vielfältiger geworden und das finde ich gut. Dass das kirchliche Amt auch | |
eine Form sein kann, einen sozialen Aufstieg hinzubekommen, ist erst einmal | |
großartig. Es ist darüber hinaus nicht ganz falsch, wenn es auch noch Leute | |
gibt, die die bürgerlichen Schichten ansprechen, damit die uns nicht auch | |
verloren gehen. Denn die brauchen wir, um einen Solidaritätszusammenhang zu | |
bilden. | |
29 Aug 2010 | |
## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
## ARTIKEL ZUM THEMA |