# taz.de -- Debatte Roma-Abschiebung in Frankreich: Schuss aus der Hüfte | |
> Mit Hetzreden und Razzien bläst Sarkozy jetzt zur Jagd auf Roma. Der | |
> Grund dafür ist schlicht: Seine Präsidentschaft steckt in einer tiefen | |
> Krise. | |
Einen Tag bevor in Frankreich die großen Ferien begannen, kam in Grenoble | |
bei der Verfolgung durch die Polizei ein junger Mann ums Leben, | |
anschließend kam es zu Ausschreitungen vor der Polizeistation. Nur einen | |
Tag später, am 30. Juli, nahm Staatspräsident Nicolas Sarkozy den Vorfall | |
zum Anlass für eine Brandrede, in der er einen kausalen Zusammenhang | |
zwischen Einwanderung, Kriminalität und Unsicherheit beschwor, vom | |
"nationalen Krieg" gegen "Schurken" sprach und pauschal die Ausweisung des | |
"fahrenden Volks", also der Roma, forderte. | |
Vom Himmel fiel dieser Ausfall nicht, denn das "System Sarkozy" befindet | |
sich in einer schweren Krise. Die vielen Skandale und Affären, die Sarkozys | |
Amtszeit auszeichnen, ließen seine Popularität innerhalb eines Jahres um | |
die Hälfte schwinden, sie liegt jetzt unter 30 Prozent. | |
Das "System Sarkozy" verdankte seinen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen | |
vor drei Jahren dem Umstand, dass sich der Kandidat als legitimer Erbe von | |
Charles de Gaulles und dessen Werten (Nation, Ordnung, Fortschritt) und als | |
Integrationsfigur der Konservativen aller Flügel und Schattierungen in | |
Szene setzte. Zum Präsidenten gewählt, profilierte er sich schnell als | |
Hyperpräsident mit Omnipräsenz in allen Medien. Zu den alten Werten kamen | |
zwei weitere: die Sicherheitsdoktrin, die er schon als Innenminister | |
pflegte, und "der liberale Durchbruch" in der Wirtschafts- und | |
Sozialpolitik. | |
Aus dem "liberalen Durchbruch" wurde nichts, denn die Wirtschafts- und | |
Finanzkrise verlangte nicht nach Deregulierungen und Sparrunden bei den | |
Sozialausgaben, sondern nach staatlichen Interventionsprogrammen und einer | |
neuen Balance zwischen Staat, Markt und Finanzsektor. Auch die vielen | |
Initiativen für Reformen, die der Präsident permanent erfand, versandeten. | |
Zuletzt wollte er mit einer Kampagne über "nationale Identität" das rechte | |
Wählerpotenzial mit nationalistisch-rassistischen Parolen mobilisieren. | |
Doch das Unternehmen geriet zum Flop. | |
Unruhe auf der Regierungsbank | |
In der Regierungspartei UMP wurden die konkurrierenden Flügel bereits | |
unruhig, viele Abgeordnete fürchten um ihr Mandat. Und im Juni gründete | |
Sarkozys schärfster Feind, sein konservativer Rivale Dominique de Villepin, | |
eine eigene Partei. Doch immer, wenn Sarkozy mit dem Rücken zur Wand steht, | |
besinnt er sich auf ein bewährtes Hausmittelchen: Er geht auf rigorosen | |
Rechtskurs und fischt im Lager des rechten "Front National" von Jean-Marie | |
Le Pen. Sarkozy weiß, dass seine Tiraden gegen Ausländer und Roma bei | |
vielen Franzosen gut ankommen. | |
Um seine Chancen für die Wiederwahl in 18 Monaten zu wahren, kündigte | |
Sarkozy forsch an, die "fahrenden Leute" auszuweisen. Auch das ist reine | |
Demagogie. Denn erstens sind 95 Prozent der "Fahrenden" französische | |
Staatsbürger und können gar nicht ausgewiesen werden - das verbietet schon | |
der Artikel 15 der "Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte", wonach jedem | |
"das Recht auf eine Staatsangehörigkeit" zusteht und nicht entzogen werden | |
darf. Zweitens genießen Roma aus Rumänien und Bulgarien nach EU-Recht eine | |
temporär begrenzte Freizügigkeit: Sie dürfen sich für drei Monate im Land | |
aufhalten, erhalten aber zu 150 Berufen keinen Zugang. | |
Fernsehgerechte Räumungen | |
Drittens sollte der Schuss aus der Hüfte die Härte des Präsidenten | |
demonstrieren. Dabei verschwieg er, dass die Ausweisung von Roma in vielen | |
EU-Ländern gängig ist. Seit Jahresbeginn sind 8.340 Roma aus Frankreich | |
zurückgeschickt worden, weitere 979 seit dem 1. August. 848 von ihnen | |
konnten mit einer 300-Euro-Prämie zur "freiwilligen" Rückkehr überredet | |
werden. Das zeigt, dass es sich bei den demonstrativen Ausweisungen jetzt | |
um eine rein populistische Show handelt. | |
Es ehrt den Papst, die katholische Kirche Frankreichs, das Komitee gegen | |
Rassendiskriminierung der UNO, die EU-Kommission und das EU-Parlament, dass | |
sie dagegen protestierten, dass die französische Polizei 128 illegale | |
Campingplätze in fernsehgerecht inszenierten polizeilichen Nacht-und | |
Nebelaktionen räumte. Und erst am Wochenende demonstrierten in 140 | |
französischen Städten über 100.000 Menschen gegen "Hass und | |
Fremdenfeindlichkeit", wie sie Sarkozys mit seinen hetzerischen Reden | |
anheizt. Das ist ein gutes Zeichen. | |
Rechte nur auf dem Papier | |
Doch die Frage nach dem richtigen Umgang mit den Roma aus Osteuropa ist | |
kein rein französisches, sondern ein europäisches Problem. Man kann die | |
Folgen der seit 2004 bestehenden Personenfreizügigkeit innerhalb der EU | |
nicht einzelnen Ländern aufbürden. Im Osten und Südosten Europa leben | |
schätzungsweise 12 Millionen Roma in erbärmlichen Umständen, oft ohne | |
Zugang zu Bildung, Gesundheit, Arbeit und Wohnung. | |
Eine Lösung dieses Problems ist nur durch eine gemeinsame Anstrengung aller | |
EU-Staaten möglich. Sie müssen gemeinsame Integrationsprogramme auflegen | |
und finanzieren, mit denen für die Roma Lebens- und Überlebenschancen in | |
ihren Herkunftsländern realisiert werden. Dass dies nicht längst geschehen | |
ist, zeigt die neoliberale Schlagseite der EU insgesamt und des | |
Lissabon-Vertrages. Während die Freizügigkeit auf den Waren- und | |
Kapitalmärkten garantiert und ausgebaut wird, steht die Freizügigkeit für | |
Personen ebenso auf dem Papier wie die Forderung, menschenwürdige | |
Lebensbedingungen für alle EU-Bürger zu schaffen. | |
10 von 27 Mitgliedstaaten beschränken die Personenfreizügigkeit exklusiv | |
für Roma bis Ende 2013. Sie tun jedoch nichts, um deren Lage in den | |
Herkunftsländern zu verbessern, und verfolgen jene Roma, die dem Elend | |
entfliehen, mit Sippenhaft und Polizeirazzien. Den Roma für drei Monate die | |
Türe zu öffnen, sie dann aber mit Hetzreden, polizeilichen Razzien und | |
Sondergesetzen zu überziehen, ist eine gnadenlose Heuchelei. Der | |
französische Innenminister Brice Hortefeux plant für den Herbst sogar, ein | |
Sondergesetz gegen die Roma zu erlassen. Es bedroht diese mit Ausweisung | |
wegen des Delikts "aggressiver Bettelei", die er als "eine Gefahr für die | |
öffentliche Ordnung" eingestuft sehen will. Es wäre ein schändliches | |
Gesetz. | |
RUDOLF WALTHER | |
6 Sep 2010 | |
## AUTOREN | |
Rudolf Walther | |
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