# taz.de -- 20 Jahre Deutsche Einheit: "Merkel irritiert" | |
> Der Kampf zwischen Ossis und Wessis ist vorbei. Der Soziologe Wolfgang | |
> Engler erklärt, warum alte Bilder nicht mehr stimmen und sich der Osten | |
> trotzdem sozial selbst aufspaltet. | |
Bild: 20 Jahre Deutsche Einheit: Die Mauer verläuft nicht mehr zwischen Ost un… | |
taz: Herr Engler, 20 Jahre nach 1990 ist der lange fiebrig ausgetragene | |
Kampf Jammerossis gegen Besserwessis offenbar vorbei. Es herrscht | |
freundliche Indifferenz. Warum? | |
Wolfgang Engler: Die naheliegendste Antwort ist: Erschöpfung. Es gibt in | |
der Debatte einfach nichts Neues. Von Karl Valentin stammt der Satz "Es ist | |
schon alles gesagt, nur noch nicht von allen". Das stimmt in diesem Fall | |
nicht. Es haben alle etwas gesagt. | |
Ist die soziale Differenz zwischen Ost und West deutlich geschrumpft? | |
Nein, das nicht. Es gibt noch immer massive Abwanderung aus dem Osten in | |
den Westen, es gibt dort mehr Hartz-IV-Empfänger, mehr Arbeitslose. Aber | |
das drängende Gefühl, dass dies ein Ost-West-Problem ist, ist weg. | |
Warum, wenn die Probleme doch im Grunde ähnlich sind? | |
Das liegt auch am Biografischen. Die Ostler, die nach 1990 beruflich | |
abgestiegen sind, protestieren nicht mehr. Sie sind weniger geworden, älter | |
und haben sich auch arrangiert. Außerdem haben sie ihr politisches | |
Sprachrohr, die PDS, verloren. Die PDS hat ja den Ost-West-Gegensatz | |
skandalisiert, als gesamtdeutsche Linkspartei geht das nur noch bedingt. | |
Die Eliten sind 2010 durchweg westdeutsch. Auch das wird kaum mehr | |
öffentlich problematisiert. Warum? | |
Da spielt Angela Merkel eine Rolle. Unter Rot-Grün deckte sich der | |
Generalbefund, dass die Ostler in den Eliten nicht vorkommen, mit dem Bild | |
des politischen Personals. Dieses Bild stimmt nun nicht mehr. Merkel als | |
Kanzlerin symbolisiert ja: Auch Ostdeutsche können etablierte Westdeutsche | |
aus dem Feld schlagen, wenn sie es clever anstellen. Merkel irritiert das | |
Bild, dass Ostler keine Aufstiegschance haben. | |
Welche Rolle hat die globale Finanzkrise gespielt? 2009 schien sogar im | |
prosperierenden Südwesten kurz der Boden zu wanken. | |
Die Krise im Süden war eher gefühlt als real, aber es gab plötzlich die | |
Vorstellung: Alles kann wegbrechen. Das ist ein Gefühl, das Ostler kennen. | |
Auch das hat die Ost-West-Differenz als Grundorientierung abgeschwächt. | |
Ein anderer Faktor, der das Bild "reicher Westen, armer Osten" ausbleicht, | |
sind die Städte. Görlitz ist schön und aufwändig restauriert, im Ruhrgebiet | |
blättert der Putz von der Wand. | |
Man muss auch fragen, was hinter den schönen Fassaden ist, nämlich oft | |
Leerstand. Da pulsiert das Leben nicht. Aber es ist richtig, dass dies | |
sinnlicher Anschauungsunterricht ist, der zeigt, dass viel Geld vom Westen | |
gen Osten geflossen ist. Das Bild ist also differenziert. Das widerspricht | |
augenscheinlich der Idee, dass "der Westen" "der Täter" ist. Auch das hat | |
den Dauerprotest im Osten zum Erliegen gebracht. | |
Gibt es "den Osten" eigentlich noch? Oder hat er sich aufgespalten in | |
Verliererregionen im Norden und relativ stabile Areale wie Leipzig und | |
Jena? | |
Die forcierte Aufspaltung in reiche und arme Gegenden in den | |
Nationalstaaten ist ein globales Phänomen. Das zeigt sich eben auch im | |
Osten. Es gibt eine interessante Langzeitstudie über Wittenberge, eine | |
extrem deindustrialisierte Stadt, die stark unter Abwanderung leidet. Heinz | |
Bude hat das Ergebnis auf eine strittige, aber auch einleuchtende Formel | |
gebracht: 1990 gab es eine Phase der Erwartung, dass es nun bergauf geht. | |
Daraus wurde nichts. Es folgte einen lange Phase quälenden Wartens auf die | |
Erlösung von außen, den Investor, der nicht kam. Die dritte Phase ist das | |
Sein, also anzuerkennen, was ist, und irgendetwas daraus zu machen. Das | |
bedeutet auch zu erkennen: Es bringt nichts, sich als Opferkollektiv zu | |
fühlen. | |
Damit löst sich der Osten als kollektive Erinnerungsgemeinschaft auf? | |
Es bröckelt. Man erinnert sich nach 20 Jahren zumindest ja sehr | |
verschieden. Die Studie zeigt auch: Wem es in Wittenberge etwas besser | |
geht, der macht einen Bogen um die Innenstadt, um das Elend dort nicht zu | |
sehen. | |
Also überall Differenzierungsprozesse, die das ostdeutsche Wir-Gefühl | |
verringern? | |
Offenbar ja. Mir hat kürzlich jemand in Senftenberg erzählt, dass man das | |
auch in Kneipen beobachten kann. Früher saß man kollektiv am Tisch, heute | |
setzten sich automatisch jene zusammen, die es sozial geschafft haben, und | |
jene, die es nicht geschafft haben. | |
1 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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