# taz.de -- Deutscher Buchpreis: Texte zwischen den Kulturen | |
> Die Auszeichnung der Autorin Melinda Nadj Abnonji zeigt, dass ein | |
> frischer Wind durch den Literaturbetrieb weht: Es besteht vermehrt | |
> Interesse an europäischen Erfahrungen. | |
Bild: Schweizer Autorin mit serbischen Wurzeln: Melinda Nadj Abonji. | |
Herzlichen Glückwunsch, Thomas Geiger! Zumindest ein klein wenig wird man | |
nämlich auch dem Mitarbeiter des Literarischen Colloquiums Berlin zum | |
Deutschen Buchpreis gratulieren können. Thomas Geiger ist ein Anwalt neuer | |
Erzählstimmen, ein Kämpfer gegen Provinzialisierung des Literaturbetriebs | |
und jemand, der sich immer wieder für die Überzeugungstäter in unseren | |
Kleinverlagen einsetzt. | |
Dieses Jahr war Thomas Geiger Mitglied der Jury für den Buchpreis. Bekommen | |
hat ihn Melinda Nadj Abonji, die eine neue Erzählstimme ist, bei der man | |
den Preis ganz bestimmt nicht als provinziell bezeichnen kann und deren | |
Roman "Tauben fliegen auf" bei dem Klein-aber-fein-Verlag Jung und Jung | |
herauskommt. | |
Sagen wir so: Thomas Geiger wird nicht das Gefühl haben, umsonst in der | |
Jury gewesen zu sein. Bevor nun alle das Buch der 42-jährigen Melinda Nadj | |
Abonji lesen, ist es schon interessant, noch einmal einen Schritt | |
zurückzutreten, um zu sehen, was bei diesem Buchpreis eigentlich passiert | |
ist. | |
Aus der Kritikenlage war vorab eher hervorgegangen, dass zwei ganz andere | |
Autoren als Favoriten gehandelt werden müssen: Thomas Lehr und Peter | |
Wawerzinek. Thomas Lehrs Roman "September" ist ein kunstsprachlich | |
hochgetuntes, zutiefst literarisches Werk rund um den Kampf der Kulturen. | |
Peter Wawerzineks Roman "Rabenliebe" ist ein sprachlich hochgetriebener, | |
die eigene Betroffenheit literarisch läuternder Anklagegesang gegen das | |
Schicksal, als Kleinkind von der Mutter verlassen worden zu sein. | |
Beide Bücher haben emphatische Verehrer in der Literaturkritik gefunden - | |
aber hätte es zu sehr nach Kunstwille und Literaturbetrieb gerochen, eines | |
von ihnen auszuzeichnen? Oder konnte man sich schlicht nicht auf eines von | |
ihnen einigen? Ach, in dieser Jury hätte man gern Mäuschen gespielt! | |
Fleißer und Jandl | |
Während die 1968 in der serbischen Vojvodina geborene und als Kind mit | |
ihren Eltern in die Schweiz gezogene Melinda Nadj Abonji, die ihre | |
literaturwissenschaftliche Abschlussarbeit über die zutiefst deutsche | |
Marieluise Fleißer schrieb und den nirgendwo anders als in der Sprache | |
selbst beheimateten Ernst Jandl zu ihren Einflüssen zählt, offensichtlich | |
eine Erzählerin ist, auf die man sich derzeit sehr gut verständigen kann. | |
Haben sich damit die sogenannten migrantischen Erzählmodelle - die in den | |
vergangenen Jahren etwa anhand von Feridun Zaimoglu und Terézia Mora | |
diskutiert wurden - als Konsensmodell durchgesetzt? Es wäre zu billig, das | |
so literaturbetriebstaktisch zu sehen. Interessanter ist es, diesem Gefühl | |
von Frische und Fensteraufreißen, das mit diesem Buchpreis verbunden ist, | |
weiter nachzugehen. Was sich durchgesetzt hat, ist doch offenbar ein | |
Interesse an europäischen Erfahrungen und Erzählungen, zu denen oft das | |
Bewusstsein gehört, zwischen den Kulturen beheimatet zu sein. | |
Schlimme Familienerinnerungen auf dem Balkan, tragikomische Erlebnisse als | |
Fremde in der Schweiz, ein Zu-sich-Kommen im Schreiben - von solchen | |
Erfahrungen berichtet Melinda Nadj Abonjis Roman. Mal sehen, wie viele | |
Leserinnen und Leser sich nun nach dem Buchpreis davon in ihrer | |
rhythmischen, an Spoken-Word-Einflüssen entlanggebauten Sprache erzählen | |
lassen werden. | |
Es lohnt sich. Solche Romane wie "Tauben fliegen auf" werden derzeit gern | |
als Bereicherung der deutschsprachigen Literatur propagiert. Klar, das sind | |
sie. Aber im Kern sind sie noch etwas anderes: eine Erinnerung daran, worum | |
es in der Literatur insgesamt wirklich geht - um ein Einwandern ins eigene | |
Leben. Und das müssen selbst diejenigen, die nie aus ihren Geburtsstädten | |
herausgekommen sind. | |
5 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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