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# taz.de -- Kommentar Bürgerbeteiligung: Zu spät ist nicht zu spät
> Oft wehren sich Bürger erst, wenn alles beschlossen ist. Pech gehabt?
> Nein. Die Politik muss eine nachholende Bürgerbeteiligung anbieten.
Bild: Bei politischer Fehlentscheidung: Menschenkette.
"Stuttgart 21" ist kein Einzelfall. Immer wieder kommen Bürger und
Bürgerinnen mit ihrem Protest viel zu spät. Oft wacht die Masse erst auf,
wenn die Parlamente längst entschieden haben, die Verwaltung geplant hat
und vor Gericht bereits alles überprüft worden ist. Die Frist für Einwände
ist dann schon jahrelang verstrichen, Experten und Initiativen sind
angehört worden, oft sogar mehrfach. Es also legitim, dass es endlich
losgehen soll mit dem Bau des Projekts.
Wut ist nicht berechenbar
Doch trotzdem stehen da auf einmal diese wütenden Bürger da, sind nicht
einverstanden, hätten alles ganz anders gemacht und schimpfen auf die
Politiker. Richtig beeindruckend wird der Protest oft erst, wenn Zäune
aufgestellt, Bagger positioniert und Bäume gefällt werden. Manchmal
bekommen Umweltschützer so doch noch die breite Unterstützung, die sie sich
schon viel früher gewünscht hatten.
Als Gegenmittel empfehlen Politologen gerne mehr Teilhabe und Transparenz
im Vorfeld von Entscheidungen. Man müsse die Bürgerinnen rechtzeitig ernst
und mitnehmen. Je demokratischer das Verfahren von Beginn an, desto höher
am Ende die Akzeptanz.
Doch die Bürger wollen nicht ständig partizipieren. Die bereits heute
vielfältigen Möglichkeiten, sich einzubringen, werden ganz bewusst
ignoriert, nicht aus Unkenntnis. Sie überlassen das laufende Geschäft gerne
der Politik und den Interessenverbänden. Ob und wann sie selbst laut
werden, ist schwer vorherzusagen.
So gesehen könnte eine weitere Verbesserung der Vorfeld-Demokratie sogar
kontraproduktiv wirken. Denn natürlich werden auch in Zukunft viele
Massenproteste "zu spät" kommen. Sie müssten sich dann aber auch noch
vorhalten lassen, dass die Bedingungen für frühzeitige Einflussnahme nun
wirklich optimal waren. Es gäbe also kaum weniger verspätete Proteste, sie
könnten nur leichter abgebügelt werden.
Dabei sind verspätete Massenproteste vielleicht sogar die zwangsläufige
Folge unserer Art, besonders gründlich, arbeitsteilig und langfristig zu
planen. Die für kollektiven Aufruhr notwendige Alarmstimmung kommt eben
selten auf, wenn der Baubeginn noch sieben Jahre in der Zukunft liegt.
Um das Spät-Engagement der Bürger doch noch produktiv zu nutzen, brauchen
wir also Formen nachholender Bürgerbeteiligung. Wenn der Protest eine
gewisse Masse erreicht hat, sind offensichtlich noch dringende Fragen offen
und ist die Legitimation offenbar noch zu fragil.
Dabei sind zwei Konstellationen zu unterscheiden. Im einfacheren Fall wird
über das "Wie" des Projekts gestritten. Hier kann man sich noch einmal an
einen runden Tisch setzen, mit oder ohne Schlichter, und an den Plänen
feilen. Vielleicht gibt es tatsächlich bisher übersehene Aspekte, die
berücksichtigt werden können. Oder es wird ein neuer ausgewogener
Kompromiss gefunden, der der Konfrontation die Spitze nimmt.
Last Exit Volksentscheid
Solche Formen der Mediation machen aber wenig Sinn, wenn ein Projekt an
sich in Frage gestellt wird, wenn es also um das "Ob" des Vorhabens geht.
Ein Kompromiss ist dann kaum möglich. Entweder der Bahnhof wird unter die
Erde gelegt oder eben nicht. Neue Konsensgespräche kosten hier nur sinnlos
Zeit, die nach jahrelanger Planung eh schon knapp ist.
Noch schlimmer: Solche Gesprächsrunden nutzen zwingend der einen oder der
anderen Seite. Wenn Bautätigkeit und Auftragsvergabe ungebremst
weiterlaufen, hilft jeder verstreichende Monat dem Projektbetreiber, denn
dies schafft Fakten und treibt den Preis für einen Ausstieg in die Höhe.
Dagegen nützen Gespräche mit Bau- und Vergabestopp einseitig den Kritikern.
Der Stillstand bringt die Planungen durcheinander und erhöht damit die
Kosten.
Fair und effizient ist hier deshalb nur eine schnelle neue und legitimere
Entscheidung - typischerweise durch einen Volksentscheid, denn das
repräsentative System hat den Konflikt ja ersichtlich nicht lösen können.
Eine Volksabstimmung hat in dieser Situation ein zusätzliches
Legitimationspotenzial, weil sie die Kritiker als Akteure einbindet: Sie
können per Volksbegehren die Abstimmung erzwingen, sie können dann für ihre
Sicht werben und dürfen schließlich auch noch selbst mit abstimmen.
Abwehrreflexe abwehren
Um diesen Weg gehen zu können, ist allerdings ein entsprechender
rechtlicher Rahmen erforderlich. In Baden-Württemberg fehlt dieser Rahmen
noch, hier sind die Hürden für einen Volksentscheid unüberwindbar hoch,
während direkte Demokratie auf Bundesebene laut Grundgesetz bisher nicht
einmal vorgesehen ist.
Damit wird auch auf die Möglichkeit verzichtet, verspätete Massenproteste
demokratisch aufzufangen. Es besteht aber die Gefahr, dass eine
Protestbewegung ohne faires institutionelles Angebot resigniert und/oder
gewalttätig wird. Beides ist für die Demokratie nicht wünschenswert.
Die Union scheint damit keine Probleme zu haben. Von dort war jüngst eher
die Sorge zu hören, Deutschland werde unfähig zu ambitionierten Projekten,
wenn Bürgerproteste zu oft Erfolg haben. Doch das ist nur Theaterdonner im
Kampf um "Stuttgart 21". Schließlich gibt es nicht gegen jedes
Infrastrukturprojekt einen vergleichbaren Aufruhr. Und wenn es zu einer
Volksabstimmung käme, wäre ja keineswegs gesagt, dass die Regierung
verliert. Sie nimmt für sich schließlich in Anspruch, die besseren
Argumente zu haben, und sollte deshalb keine Angst vor der Abstimmung
haben.
Natürlich muss verhindert werden, dass nur nach lokalen Abwehr-Reflexen
entschieden wird. Doch dafür genügt es, die Abstimmungen auf der Ebene
abzuhalten, die das Projekt ursprünglich beschlossen und geplant hat. Dann
hat das Prinzip "Lieber St. Florian, zünde lieber das Haus meines Nachbarn
an" wenig Chancen.
Michail Gorbatschow sagte einst: "Wer zu spät kommt, den bestraft das
Leben". Da ist was dran: Wer sich rechtzeitig einmischt, hat immer größeren
Einfluss. Die Demokratie kann es sich aber nicht leisten, wütende
Nachzügler nur zu tadeln, ohne ihnen zugleich auch ein faires Angebot zu
machen.
9 Oct 2010
## AUTOREN
Christian Rath
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