# taz.de -- Kolumne Gerüchte: Die guten und die schlechten Armen | |
> Sozialbetrüger, Dauerkranke und Hartz IV - über dieses Thema kann mein | |
> eigentlich linker Bekanntenkreis heute heftig streiten. | |
Mit dem Sozialstaat ist es wie mit der Brötchenklappe im Supermarkt: Ich | |
hole mir die Schrippen meist mit der Hand heraus und nicht mit dieser | |
umständlichen Hygienezange, die an der Kette baumelt. Schließlich kaufe ich | |
die Brötchen, die ich zuvor angefasst habe. Aber kann ich mir sicher sein, | |
dass dies der Kunde vor mir mit seinen Riesenpranken auch tut? So ist es | |
auch mit der Sozialpolitik: Der Blick auf andere ist immer strenger. | |
"Gesellschaftliche Verantwortung", sagt Wolfhard, "heute glaube ich dran. | |
Ich bin mir ganz sicher, dass jede Menge Leute Hartz IV ausnutzen." | |
Wolfhard, eigentlich aus der Hausbesetzerszene stammend, hat heute ein | |
Transportunternehmen. Hohe Schulden, wenig Gewinn. Seinen Fahrern zahlt er | |
nicht besonders viel. | |
Als einer seiner Leute kündigte mit den Worten, er erhalte mit seiner Frau | |
fast genauso viel Hartz IV-Leistung wie Arbeitslohn und käme mit ein | |
bisschen Schwarzarbeit besser klar, bröckelten bei Wolfhard alte linke | |
Überzeugungen. "Und das war nicht mein erster Fall dieser Art", sagte er | |
uns. | |
Ich erwidere dann, dass Wolfhards Exfahrer eine Ausnahme ist. Dass von den | |
Hartz-IV-Empfängern nur knapp die Hälfte arbeitslos gemeldet ist. Die | |
andere Hälfte zieht Kinder auf oder pflegt alte Eltern, ist in einer | |
Maßnahme, macht eine Ausbildung, bekommt die Sozialleistung nur | |
aufstockend, fast die Hälfte der Hartz-IV-Empfänger sieht sich überdies als | |
gesundheitlich eingeschränkt … Aber meine Verteidigungsrede dringt kaum | |
durch. Da muss schon Britt ran und von Siggi erzählen. | |
Siggi ist heute 50 und sah sich eigentlich immer als Musiker, was | |
vielleicht ein Fehler war, vielleicht auch nicht. Sein Geld hat er mit | |
Taxifahren verdient, zeitweise einen eigenen Wagen gehabt. Heute ist Siggi | |
schwerst krank. Magenkrebs. Neulich beantragte er Grundsicherung wegen | |
Erwerbsunfähigkeit, was so hoch ist wie Hartz IV. Doch die Beamtin, die | |
unvermutet in seiner Wohnung aufkreuzte, erklärte mit Blick auf seine | |
Instrumente, er müsse erst mal die drei teuer aussehenden Gitarren und das | |
Mischpult verkaufen, dieses Vermögen hätte er gar nicht angegeben bei der | |
Behörde. | |
"So was ist natürlich eine Sauerei", räumt bei dieser Geschichte selbst | |
Natalie ein, unsere Nachbarin. Natalie, gut über 40, sitzt im Supermarkt an | |
der Kasse, Vollzeit. Natalie sagt, für sie gebe es "zwei Sorten" von | |
Hartz-IV-Empfängern. Die einen, die hasst sie, "die kreuzen morgens um 11 | |
Uhr auf mit einem Kasten leerer Bierflaschen, da könnte ich kotzen". Die | |
zweite Gruppe aber genießt Natalies Solidarität, "zwei | |
Bandscheibenvorfälle, über 55, die hat doch keine Chance mehr", sagt | |
Natalie über eine Exkollegin, die auf Hartz IV landete. Natalie findet | |
Mario Barth gut. Und Thilo Sarrazin. | |
Tja. Irgendwie sind wir unsere eigenen Sozialdetektive geworden. Britt | |
sammelt jetzt übrigens für Siggi. Der bekam jetzt auch noch eine | |
Energiekostennachforderung, 100 Euro will der Vermieter haben. Siggi weiß | |
nicht, wie er das zahlen soll. Ich könnte bei Siggi auch mal wieder | |
vorbeischauen. Vielleicht zum Frühstück, Brötchen mitbringen vom | |
Supermarkt. Ob mit oder ohne Zange gegriffen. | |
17 Oct 2010 | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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