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# taz.de -- Debatte Demokratie: Die Arroganz der Macht
> In Gorleben und Stuttgart erfüllen Bürger ihre Bürgerpflicht: Sie legen
> offen, wie sehr der moralische Bürger von der Politik enteignet wird.
Bild: Die Polizei drängt am 30.09. Bürger, die gegen die Baumfällung für "S…
Revolutionen, hieß es einst bei den Marxisten, sind die Lokomotiven der
Geschichte. Oh nein, antwortete Walter Benjamin, Revolutionen sind die
Notbremsen. Da geht es darum, nicht in den Abgrund zu rasen, und wehe dem
Volk, das den richtigen Zeitpunkt verpasst, diese Notbremse zu ziehen.
Hat mans in kleinerer Münze als Revolte, als Einspruch, als Demonstration,
als zivilen Widerstand, als öffentliche Kritik, dann sind die beiden
Grundpositionen auch nicht viel anders: Geht es darum, die Demokratie
demokratischer zu machen und den Kapitalismus menschlicher? Oder geht es
darum, zur Notbremse zu greifen, da unser Staat - aber die Staaten in der
Nachbarschaft scheinen da ganz ähnlich nicht mehr zu funktionieren - dazu
übergegangen ist, seine Bürger zu enteignen und zu entmündigen?
Zeit für die Notbremse
Was in den letzten Monaten geschieht, in Frankreich, in Deutschland, in
England - auch in Griechenland gibt es neue Allianzen des Widerstands -,
ist in den Formen sehr unterschiedlich und in den Ursachen sehr ähnlich. Es
ist offensichtlich ein Aufstand der Bürgerinnen und Bürger aus der Mitte
gegen eine politische Klasse, die das Volk mit einer Fernsehkamera
verwechselt. Das entspricht viel eher der Benjaminschen Notbremse als dem
optimistischen Lokomotiven-Bild.
Mit "Klassenkampf" hat das höchstens auf Umwegen zu tun, und noch weniger
mit Ideologie. Utopie, Dogma, Geschichtsbild, Parteilichkeit, Begriffe und
Theorien - all das hat seinen Führungsanspruch verloren. Für die
Demonstranten in Stuttgart, in Gorleben und demnächst in Ihrer Stadt, geht
es um keine historische Transzendenz. Vielmehr geht es um zwei Dinge
gleichzeitig: Um "die Sache", also um einen konkreten Raum, seine
Veränderung und Enteignung. Und es geht darum, die politische Entmündigung
nicht auf sich beruhen zu lassen. Offensichtlich ist die Entmündigung -
siehe Stuttgart - derzeit der Aspekt, der am meisten Energie und "Masse"
erzeugt. Aber jeweils zeigt sich eine gar nicht so kleine persönliche
Tapferkeit.
Und vielleicht ist es gerade diese Tapferkeit, die die Politiker
augenblicklich so tief kränkt. Und daher greifen sie zu den ältesten und
dümmsten, aber leider immer noch nicht ungefährlichen Mitteln: Sie
versuchen, aus den Verteidigern Angreifer zu machen. Sie behaupten, der
Griff nach der Notbremse sei das Gefährliche und nicht die Gefahr, vor der
es zu bremsen gälte. Manche von ihnen würden am liebsten die Notbremsen
abschaffen, wie unser Innenminister de Maizière mit einem sehr, sehr
eigenwilligen Demokratieverständnis.
Nach wie vor spielt die Gewalt bei der Einschüchterung der Bürger und
Bürgerinnen eine Schlüsselrolle. Provoziere Gewalt, und du kannst die
Bewegung spalten und gibst deinen Lieblingsmedien das Futter für die
Diskriminierungsarbeit. Es ist nur allzu deutlich, dass der Polizei-Einsatz
in Stuttgart in diese Richtung zielte. Es hat hier nicht mehr geklappt, und
in Gorleben schon gar nicht. Stattdessen wird die Gewalt des Staates gegen
seine Bürger sichtbar, die immer wieder über das Maß hinaus geht, was eine
humanistische Demokratie verträgt.
Zivile Revolte, Kritik und persönliche Tapferkeit im Widerstand sind
zuförderst Symptome einer tiefen Entfremdung. Die Notbremse muss gezogen
werden, weil der Staat drauf und dran ist, sein politisches Subjekt, den
mündigen, freien und verantwortlichen Bürger, abzuschaffen. (Woran soll ein
Staat, der der Wirtschaft gehört, sparen, wenn nicht an seinen Untertanen?)
Der bürgerliche Demonstrant gegen den staatlich-ökonomischen Wahnsinn
kämpft nicht nur gegen etwas, sondern auch um etwas, nämlich um sich
selbst. Um seine Rechte, um seine Würde. Es ist diese Doppelstrategie von
Enteignung und Entmündigung, es ist die Arroganz der Macht im Verbund mit
kurzfristigen Profitinteressen, welche die Bürger auf die Straße treibt.
Das Schöne an der Demokratie ist, dass sie sich nicht als perfektes System
missversteht, sondern als ein stets verbesserungswürdiges und
verbesserungsfähiges. Letzteres aber ist nicht nur in der Praxis, sondern
auch schon in der Rhetorik abgeschafft. Die Hoffnungen der Bürger in der
Demokratie lagen auf den Selbstheilungskräften des Systems. Diese soziale
Kybernetik funktioniert aber nur (schlecht und recht, aber immerhin),
solange der Staat und seine Bürger sich nicht bloß formal und medial
verständigen können, solange sich Politik und Gesellschaft nicht
gegenseitig verachten.
Innenpolitische Kampfansage
Politiker, die das Wahl- und Steuervolk verachten und in Bürgerinnen und
Bürgern allenfalls die nützlichen Idioten sehen, führen die Lokomotive
zielsicher auf den Abgrund zu. Es ist Bürgerpflicht, sie zu bremsen.
Zugegeben: Ein Widerstand aus der Mitte der Bürger betrifft vor allem die
Dinge, die des Bürgers sind. Es fehlt das Fieber einer Revolution mit
offenem Ausgang. Es fehlt alle unvernünftige Hoffnung. Und es fehlt die
Möglichkeit des radikalen Bruchs. Bürgerliche Revolutionen, wenn es so
etwas gibt, haben indes stets auch allgemeinere Rechte verhandelt - bis
sie, saturiert oder eingeschüchtert, zusammengebrochen sind.
Dass zu Guttenberg nun öffentlich macht, dass in Afghanistan vor allem
deutsche Wirtschaftsinteressen (die Interessen der deutschen Wirtschaft)
"verteidigt" werden, bedeutet auch eine innenpolitische Kampfansage. Die
moralische Fraktion des Bürgertums wird von der anderen Seite, der Fraktion
des ökonomischen Zynismus, noch einmal verlacht und ausgegrenzt. Eure
Gutheit kotzt uns an, sagen sie und lassen die Polizei- und Medienhunde
los. Auch die FAZ verhöhnt den moralischen Teil des deutschen Bürgertums:
Da wehrt man sich im Feuilleton dagegen, dass alles zu Stuttgart 21 werde,
"nur weil man sich einmal etwas Großes ausgedacht hat".
Politiker à la Guttenberg und seine Wahlverwandten sind bereit, in
Afghanistan wie in Stuttgart Opfer für die Interessen der Wirtschaft zu
bringen. Der Aufstand der moralischen Bürger hat sie, das ist nicht zu
verachten, zuerst zu einer überraschenden Ehrlichkeit gezwungen. Daher:
Gleichgültig, wie sie "ausgehen", die bürgerlichen Revolten haben schon
jetzt für Aufklärung gesorgt: Kaum eine oder einer kann sagen, er oder sie
hätten von nichts gewusst.
15 Nov 2010
## AUTOREN
Georg Seesslen
## TAGS
Schwerpunkt Atomkraft
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