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# taz.de -- STÄDTE-TOURISMUS: Die Touristenflüsterer
> 110.000 Merian-Hefte können nicht irren: Bremen ist einen Besuch wert,
> auch wenn nicht alles stimmt, was Deutschlands berühmtestes Reisemagazin
> in seiner Dezemberausgabe über die Wesermetropole schreibt.
Bild: Merian bleibt bei der Wahrheit: Die Böttcherstraße ist nicht romantisch…
Wenn im Hamburger Jahreszeiten-Verlag der Globus rotiert, ist das ein
bisschen wie beim Roulette: An welcher Stelle bleibt die Kugel stehen,
welcher Weltfleck wird mit einem neuen Merian-Heft geadelt - und somit Ziel
des kaufkräftigen Kulturtourismus? Im Dezember 2010 ist es Bremen. Und die
Stadt ist aus dem Häuschen. Bild jubelt: "Dieses Heft ist eine
Liebeserklärung!"
Dabei hat Merians vierter Band über Bremen den mit Abstand schlechtesten
Titel. Während 1982, 1965 und 1953 der steinerne "Roland" als gut
inszenierter Titelboy posierte, sind es diesmal die völlig überbelichteten
Stadtmusikanten - auf einem mit Licht und Schrift ohnehin überbepacktem
Hochglanztitel im Stil der HB-Magazine. Ein Glück also, dass ein Drittel
der 110.000 Hefte mit einer Ansicht der neuen Bremerhavener Skyline
erscheint - den "Havenwelten" mit ihren auch im Inneren gut gemachten
Attraktionen Klima- und Auswandererhaus.
Überhaupt, Bremerhaven: Die Seestadt wird von Merian geradezu als
ökonomische Lokomotive des Zweistädtestaats präsentiert, was sich aus
Stadt-bremischer Sicht nicht immer nachvollziehen lässt. Bremerhavens
Entwicklung erinnere "an die Aufstiegsgeschichte asiatischer Boomtowns",
schreibt Chefredakteur Andreas Hallaschka ungerührt im Editorial - um den
Bremerhaven-Text im Heft dann aber doch mit "Dubai an der Waterkant" zu
betiteln. Arabisch, asiatisch, egal: Hauptsache, die Message knallt.
Nun ist das, was Bremerhaven mit seinem Anteil an den Sanierungs-Millionen
anstellte, die das Bundesverfassungsgericht 1994 dem Bundesland Bremen
zusprach, tatsächlich deutlich erfolgreicher als die Bremer Variante. Die
hieß beispielsweise "Spacepark", ein schon bald nach seiner Eröffnung im
ökonomischen Orkus verschwundenes Weltraumabenteuerland. Dessen in
Bremerhaven geplante Entsprechung war ein Mega-Aquarium namens "Ocean
Park", doch die Projektskizzen wurden gerade noch rechtzeitig dem Reißwolf
der kalkulatorischen Vernunft übergeben. Solche Planungsdesaster auch dem
geneigten Städtetouristen nicht vorzuenthalten, ist ein Verdienst des
aktuellen Merian.
Zu denen gehört auch der offensive Umgang mit der Böttcherstraße. Die
expressionistisch angehauchte Backsteingasse am Markt zählt zu Bremens
touristischen Kronjuwelen, wurde unter Beteiligung des "SS-Ahnenerbes" aber
explizit als "Versuch, deutsch zu denken" konzipiert, um "völkisches Erbe"
modern zu präsentieren. Das wiederum passt kaum in die Konzepte von
Stadtführern und Tourismusagenturen, die das Ensemble lieber als
romantische Märchenstraße vermarkten. Merian hat sich für die Wahrheit
entschieden.
Die traditionelle Qualität von Merian-Heften besteht sowohl in
literarischen Anleihen als auch in lokaler Detailtiefe. Anders gesagt: Wenn
selbst Einheimische Neues über ihr Quartier erfahren, ist Merian seinem Ruf
gerecht geworden. Michael Augustins Ausführungen übers "Viertel" locken
auch einheimische LeserInnen zu den drei Kratzern, die der
Theaterprovokateur Hans Kresnik auf dem Tresen der Kneipe "Beim
Paulskloster" hinterließ und führen zum äußerst zurückgezogen arbeitenden
Sachensuchkünstler Hannes Golda im Friesenstraßen-Hinterhof. Und dass die
Herrentoilette in der - Freunden der Arbeiterimbisskultur durchaus
bekannten - "Anbiet"-Halle am Hafen mal Arrestzelle war, wer hätte das
gewusst? Solche Details sind kalkuliert, sie transportieren den Ruch von
Authentizität.
Das ist wohl auch die Aufgabe von Altbürgermeister Henning Scherf. Im
Rahmen einer fiktiven Stadtführung rund ums Rathaus, das "wir Bremer vor
exakt 600 Jahren gebaut haben", pflegt er den einen oder anderen
großkoalitionär genährten Mythos. Etwa: "Bremens Rathaus- und Hansepolitik
lebt von der Einstimmigkeit". Zum Glück wird dieser Hanseharmoniewolke noch
im Heft die Luft abgelassen: durch den schlichten Verweis auf die
wiederholten Rausschmisse Bremens aus dem Städtebündnis wegen äußerst
eigennütziger Aktivitäten.
Rüdiger Hoffmann wiederum darf als Vorsitzender des "Clubs zu Bremen"
seinen eigenen Verein porträtieren: Ein Honoratiorenclub, der offenbar
derart exklusiv ist, dass ihn kein Reporter je angemessen ergründen könnte.
Ein kritischer Report hätte allerdings auch der "Überseestadt" gut getan,
der von Merian als "fast doppelt so groß als die Hamburger Hafencity und
viel spannender" gepriesenen Überbauung der Hafenbrachen. Sie wird etwas
gutgläubig zur unwiderstehlich expandierenden Boomtown stilisiert. Deren
bisherige Bilanz sei "beängstigend positiv", lässt Merian den obersten
Wirtschaftsförderer der Stadt sagen - ohne dies mit einer einzigen Zahl
belegen zu können.
Selbst bei durchaus übersichtlichen Gelegenheiten verzichtet Merian aufs
Nachzählen, etwa, wenn von den "Türmen von St. Stephani" die Rede ist,
einer markanten Einturm-Silhouette. "Mein lieber Freund und Kupferstecher",
möchte man dem seligen Matthäus Merian zurufen: Können deine Nachkommen
keine Kirchtürme mehr zählen? Immerhin können sie vieles andere. Zum
Beispiel: Alle zehn oder 20 Jahre eine Stadt glücklich machen.
30 Nov 2010
## AUTOREN
Henning Bleyl
## TAGS
Redaktion
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