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# taz.de -- Am Indischen Ozean: Familie im globalen Dorf
> Seit Jahren in derselben Familien-Lodge am Indischen Ozean: Urlaub mit
> Anteilnahme, Anregung und Einblick in die Kultur der Tamilen.
Bild: Norbert Stolz in seiner Gastfamilie mit Chandra und deren Enkelin.
„Now your life will change“ waren Chandras Worte im Sommer 1992 am letzten
Abend meines Aufenthalts in ihrer Familie im südindischen Mamallapuram.
Dabei hängte sie mir eine üppige Blumenkette um, die zuvor die Göttin Sakti
im Haustempel trug. Die allwöchentliche öffentliche Freitags-Puja war
gerade zu Ende. Auch meine drei Wochen im Sakthi Family House gingen zu
Ende. Bereits am ersten Freitagabend faszinierte mich das
Sakti-Reinigungsritual, die endlosen monotonen Tamil-Gesänge versetzten
mich in eine Art Trancezustand. Die Gesänge der Frauen blieben mir schon
bei der ersten Puja wie Ohrwürmer im Kopf hängen. Ich war inspiriert. Als
Musikproduzent dachte ich dabei schon an Club-Remixe.
Chandra entging mein Interesse nicht, sie bat mich sogar, die Puja mit
meiner kleinen Videokamera aufzunehmen. Meine Idee, die Gesänge für eine
CD-Veröffentlichung musikalisch zu bearbeiten, fand sie grandios. 1994
erschien meine CD: „Genetic druGs- Karma Club“. Die Videos und
Audioaufnahmen wurden zur Installation. Meinen Sakti-Altar baute ich mit
TV-Monitoren, schmückte ihn mit Blumenketten und präsentierte ihn auf
Kulturveranstaltungen weltweit. Die indische Wahlfamilie war hocherfreut
über den Erfolg des Projekts, zumal ihre Haustempel-Puja jetzt in Brasilien
oder Tokio zu sehen war.
Chandra ist eine gute Seele mit geschärftem Sinn für soziale Kompetenz.
Über 40 Jahre lang leitete sie die örtliche Grundschule in Mamallapuram.
Bis heute betreibt sie das Sakthi Family Guest House, eine Lodge für
Low-Budget-Touristen. „We give cheap room to interesting people“, lautet
ihr Motto. Dabei ist jeder Reisende in ihrer Familie willkommen. Kleine
Gesten und Aufrichtigkeit sind ihr wichtiger als Verhandlungen über
Zimmerpreise. Chandra mit ihrem indischen Blickwinkel wurde mir zur
vertrauten Freundin mit der wunderbaren Gabe, in Zeiten von Glück, Erfolg
oder Trauer Anteil zu nehmen.
Im Laufe der Jahre haben wir ein stabiles Vertrauensverhältnis aufgebaut,
geprägt von Neugierde, Akzeptanz und Toleranz der Welt des jeweils anderen.
Jedes Mal, wenn ich das Flughafengebäude von Chennai verlasse, sehe ich
meine indische Freundin freudestrahlend mit einer Jasminblumenkette auf
mich wartend am Eingang.
Zusammen mit ihrem Mann Palani war sie inzwischen zweimal auf Gegenbesuch
bei den europäischen Lieblingsgästen ihrer Lodge. Arnaud, ein
Computerspezialist, der ihr in ihrer Lodge eine drahtlose
Internetverbindung installierte, beherbergte die beiden in Paris. Weitere
Freunde besuchten sie in Frankfurt, Köln, Speyer, Lyon und Bug sowie eine
Hühnerfarm im Schwarzwald. Klar, dass auch Berlin auf dem Reiseplan stand.
Hier spielte ich den Kulturführer. Mit den vielen Rolltreppen in der
Berliner U-Bahn kam die indische Frau weniger gut klar. Gäbe es so viele in
Chennai, so ihr Kommentar, würde man da bestimmt Warnhinweisschilder
aufstellen: Mind your saree!
Inzwischen ist meine indische Wurzel 18 Jahre alt geworden. Im Verlauf der
Jahre schloss ich Freundschaft mit vielen Dorfbewohnern aus Mamallapuram.
Ihre Geschichten berühren mich, geben mir Einblick in die Kultur der
indischen Tamilen und das Leben in dem Fischerdorf am Indischen Ozean.
Der fünfjährige Ramesh, den ich 1992 mit meinem Fahrrad regelmäßig zur
Schule brachte, hat sich trotz einer Behinderung zum Geschäftsmann
entwickelt, besitzt heute eine Steinmetzerei, wo er Götterfiguren aus
Speckstein herstellen lässt. „Rolling Stones“ heißt seine kleine
Manufaktur. Dem 50-jährigen Fischer Rajendran dagegen geht es heute
wesentlich schlechter als damals. Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich
ihn bei meinem ersten Besuch mit seinem alten Vater am Strand beim
Netzeflicken filmte. Der Vater starb 1999, und die Tsunami-Katastrophe im
Dezember 2004 zerstörte sein Haus und das Motorboot. Seit einigen Jahren
erlebe ich ihn immer wieder um neues Startkapital bettelnd auf der Straße.
Ein anderer Freund, Thani, besitzt einen alten PC und hat sich einige
Grundlagen von Photo-Shop selbst beigebracht. Sein Einkommen besorgt ihm
jedoch eine alte Druckmaschine, mit der er Quittungsblöcke und Kalender
herstellt. Am liebsten würde er jedoch als Grafiker arbeiten, wenn er
seinen Überlebenskampf unterbrechen könnte und Zeit und Geld für eine
Weiterbildung hätte.
Dezember 2010. Ich tanke meine jährliche Dosis frische Energie im Sakthi
Family House. Am Teestand gegenüber der Lodge winkt mir Kumar, der
Verkäufer, zu: „Arrived today? Welcome!“ Ein Kind auf dem Weg zur Schule
schreit mich an: „Which is your country?“ Ich lache, wackle mit dem Kopf
und entgegne: „India, I am local!“
Kontakt: Sakthi Family House [1][[email protected]]
22 Dec 2010
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[1] /[email protected]
## AUTOREN
Norbert Stolz
## TAGS
Reiseland Indien
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