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# taz.de -- Interview zur rechten Stimmung in Ungarn: "Orbán ist von der Macht…
> Gesetze vom Fließband, keine Opposition: Premierminister Orbán und die
> ungarische Regierung müssen sich um bürgerliche Denker nicht scheren,
> meint Paul Lendvai.
Bild: Er kann auch beschwichtigende Gesten: Viktor Orbán.
taz: Herr Lendvai, Sie haben gerade ein Buch veröffentlicht, in dem Sie
auch mit dem System Orbán abrechnen. Viktor Orbán ist jetzt ein halbes Jahr
an der Macht. Haben sich Ihre Befürchtungen bewahrheitet?
Paul Lendvai: Leider haben sich meine Befürchtungen sogar übererfüllt. Ich
hatte nicht gedacht, dass diese Regierung so schnell so viel Abbau
demokratischer Sicherungen und verfassungsmäßiger Bremsen in Richtung
totale Machtausübung schaffen wird. Orbán hat ein unglaublich schnelles
Tempo eingeschlagen. Noch nie hat eine Regierung in so kurzer Zeit so viele
Gesetze - 43 neue Gesetze und 107 Gesetzesänderungen, einschließlich sechs
Verfassungsänderungen, außerdem 111 Resolutionen und zwei politische
Erklärungen - vom Parlament beschließen lassen, noch dazu ohne massive
Proteste der Opposition.
Die linke Opposition ist in einen selbstmörderischen Fraktionskampf
verstrickt. Die alternative LMP (Politik kann anders sein) besteht aus
jungen Leuten, die mehr oder weniger harmlos sind. Und die rechtsradikale
Jobbik ist zumindest bisher isoliert worden, sodass das Tempo nur von
Fidesz und Viktor Orbán diktiert wird.
Es gibt also eigentlich keine Opposition?
Es gibt keine wirkliche Opposition, die man in Betracht ziehen muss. Die
Sozialisten und Liberalen haben in acht Jahren abgewirtschaftet und ihr
Selbstbewusstsein verloren. Sie greifen zwar die Regierung an, aber
momentan gibt es eine klare rechte und extrem rechte Hegemonie im Presse-
und Medienwesen - sogar noch vor Anwendung des neuen Mediengesetzes.
Deshalb muss Orbán bisher keine effiziente Gegenwehr fürchten.
Wer waren die Leute, die letzte Woche gegen das Mediengesetz demonstriert
haben?
Junge Studierende, etwa 1.000 bis 1.500 Leute, die friedlich protestiert
haben. Das ist in den großen Medien mit Ausnahme der linken und
linksliberalen Tageszeitungen nicht wirklich wahrgenommen worden.
Haben Sie den Eindruck, dass die Bevölkerung mit dem autoritären
Durchmarsch einverstanden ist?
Das ist schwierig zu bestimmen. Die letzten Umfragen geben zwar noch keinen
Anlass zum Optimismus, aber immerhin zu einer Neubewertung der Lage: Laut
allen Meinungsumfragen hat die Regierung zwar an Popularität eingebüßt,
rund 300.000 bis 600.000 Orbán-Wähler sind weg, aber interessant ist, dass
die Sozialisten kaum davon profitiert haben. Die Unzufriedenen gehen weder
zu den Sozialisten noch zu Jobbik, sondern zu den Nichtwählern. Ich meine,
dass die Mehrheit derer, die zu den Urnen gegangen sind, nach wie vor Orbán
unterstützen, auch weil die wirtschaftlichen Folgen noch nicht spürbar
sind.
Was will Orbán mit seiner Machtfülle anfangen?
Orbán hat ein Drehbuch gehabt für die Eroberung der Macht. Das Versagen der
linksliberalen Regierungen hat den Boden für ihn bereitet. Was er mit der
Macht machen wird, ist schwer vorauszusagen. Er wird sie sicher nützen, um
die Dauer der Machtausübung abzusichern. Vor anderthalb Jahren hat er bei
einer Veranstaltung von einem zentralen Kräftefeld gesprochen, das für 15
bis 20 Jahre den Parteienhader ablösen soll.
Am 15. März wird wahrscheinlich die neue Verfassung verabschiedet. Orbán
ist von der Macht geblendet. Jetzt kümmert er sich überhaupt nicht um die
Vorbehalte der bürgerlichen Denker, geschweige der Sozialisten. Alle
Positionen werden mit seinen Leuten besetzt. Er sagt, er hat eine
Zweidrittelmehrheit, das ist eine Revolution, obwohl 64 Prozent der Ungarn
nicht zu den Wahlen gegangen sind. Mit 52 Prozent der Stimmen hat er 68
Prozent der Mandate.
Man sieht auch, wie er in der Politik reagiert. Da spricht er über "die
arme Angela", die nicht weiß, was ihr Pressesprecher gesagt hat. Es würde
ihm nicht im Traum einfallen, das Mediengesetz zu ändern. Es ist eine
zutiefst voluntaristische Politik, um die Macht zu sichern. Bisher hat sich
diese Linie wegen der Schwäche der Opposition ausgezahlt.
In ein paar Tagen übernimmt Ungarn den EU-Ratsvorsitz. Was erwarten Sie
davon?
Ungarn wird die protokollarischen und sonstigen Pflichten sehr gut
erfüllen. Es werden die Veranstaltungen ohne Probleme stattfinden: Man wird
sich rhetorisch für die Stabilisierung des Euro aussprechen, obwohl Ungarn
bekanntlich nicht in der Eurozone ist. Man ist für den Beitritt von
Kroatien und die Ausweitung der Schengenzone auf Bulgarien und Rumänien.
Orbán wird sich für die Donaustrategie starkmachen und will die EU
bürgerfreundlicher machen. Was die Außenpolitik betrifft, so werden sie
sich bezüglich der ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten
zurückhalten. Die sechsmonatige Präsidentschaft wird problemlos über die
Bühne gehen.
Innenpolitisch profiliert sich Orbán ja mit einer scharfen Anti-EU-Linie.
Das wird zurückgenommen. Da gibt es einen sehr routinierten Außenminister,
der sprachkundig ist. Ich glaube nicht, dass da eine schärfere Gangart
eingeschlagen wird. In Wirklichkeit kann diese Regierung machen, was sie
will, muss aber damit rechnen, dass alles aus der Nähe beobachtet wird,
wenn so viele Minister und Journalisten nach Ungarn kommen.
Ist es sinnvoll, Sanktionen zu erwägen gegen den autoritären Kurs, oder
zieht man aus dem Scheitern der Isolation der Rechtsregierung in Österreich
vor zehn Jahren den Schluss, dass Sanktionen kontraproduktiv sind?
Mit Sanktionen erreicht man momentan überhaupt nichts, weil die politischen
Verhältnisse so stark zugunsten von Fidesz gewichtet sind. Orbán würde sich
zu einem heroischen Widerständler stilisieren. Man sollte eher ideellen und
politischen Druck ausüben und klarstellen, dass sich Ungarn mit dieser
Politik in schlechte Gesellschaft begibt. Nicht nur mit dem Mediengesetz,
sondern überhaupt mit der Ablehnung von Kompromiss- und Dialogbereitschaft.
Die große Gefahr für die Demokratie kommt meiner Meinung nach erst nach der
Präsidentschaft. Man muss aber klarmachen, dass Ungarn unter Beobachtung
steht. Sanktionen könnten sich in dieser Phase als Bumerang erweisen, weil
diese Regierung immer die nationale Karte spielt. Die Isolierung Ungarns
wäre nicht nützlich. Das bedeutet aber keinesfalls, dass man schweigen
soll. Es muss offen gesagt werden: Es gibt gewisse Grenzen, die man nicht
überschreiten darf.
Glauben Sie, dass die Parteifreunde von der Europäischen Volkspartei EVP,
die Orbán in Schutz nehmen, die Gefahr unterschätzen?
Die meisten wissen nicht, was in Ungarn wirklich passiert, weil sie die
Sprache nicht sprechen. Zweitens herrscht parteipolitischer Opportunismus.
Seit Orbán mit den Liberalen und den Grünen gebrochen hat, pflegt er gute
Beziehungen zu den Konservativen. Er unterschätzt aber die demokratischen
Credits von Angela Merkel, die ja unter einem autoritären System
aufgewachsen ist. Ich denke, die Gefahr wird aus parteipolitischer
Solidarität unterschätzt. Aber in diesem Fall müsste man die
parteipolitische Etikette vergessen. Es fehlt in Ungarn eine Kraft der
Mitte, wie die von Donald Tusk in Polen oder Karel Schwarzenberg in
Tschechien.
Fühlen Sie sich in Ungarn bedroht?
Nein. Ich würde aber keine Rede am Heldenplatz in Budapest halten wollen.
28 Dec 2010
## AUTOREN
Ralf Leonhard
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