# taz.de -- Immer weniger Arbeitslosigkeit: Jetzt wird wieder in die Hände ges… | |
> In diesem Jahr haben so viele Menschen wie noch nie einen Job in | |
> Deutschland. Ist das ein neues Wirtschftswunder? Erklärungsansätze. | |
Bild: Es wird wieder malocht in Deutschland. | |
## Arbeitslosigkeit erreicht Tiefstand | |
Das Jahr 2011 beginnt mit einer guten Nachricht für die Bundesbürger. Die | |
Zahl der Erwerbstätigen ist 2010 auf ihren Höchststand gestiegen, die | |
Erwerbslosigkeit entsprechend gesunken. Und es sieht so aus, als ob sich | |
diese Entwicklung fortsetzt. Der aktuelle Grund liegt im Wesentlichen in | |
der schnellen Erholung der deutschen Wirtschaft nach der Finanzkrise. Die | |
Chance für Arbeitslose, eine Arbeit zu finden, nimmt damit zu. | |
Im Jahr 2010 arbeiteten in Deutschland so viele Menschen wie nie zuvor im | |
vereinigten Deutschland, erklärte das Statistische Bundesamt am Montag. | |
40,37 Millionen Bürger verdienten Lohn oder Einkommen, wenn auch teilweise | |
mit sehr geringfügigen Tätigkeiten. 1991 waren es 38,6 Millionen, 2000 gut | |
39,1 Millionen Erwerbstätige. Ihre Zahl steigt im langen Trend an. | |
Das bedeutet gleichzeitig, dass die Erwerbslosigkeit abnimmt. Im | |
Durchschnitt des Jahres 2010 lag sie bei nur noch 2,93 Millionen | |
Erwerbslosen, was einer Quote von 6,8 Prozent entspricht. Diese Zahlen sind | |
etwas niedriger als die der Bundesagentur für Arbeit, weil das Statistische | |
Bundesamt auch noch sehr kleine Jobs als Arbeit zählt und deshalb die Zahl | |
der Arbeitslosen geringer ausfällt. | |
Parallel zu dieser Entwicklung ist 2010 die Zahl der in Deutschland | |
geleisteten Arbeitsstunden auf 57,4 Milliarden gewachsen. Trotz dieser | |
Zunahme verringert sich das Arbeitsvolumen allerdings langfristig. 1991 | |
leisteten die deutschen Beschäftigten noch fast 60 Milliarden Stunden. | |
Unter dem Strich heißt das: Durch geringe Wachstumsraten und steigende | |
Produktivität nimmt die Menge der Arbeit insgesamt ab, wird aber auf mehr | |
Personen verteilt - eine vernünftige Tendenz. Das Ziel der | |
Vollbeschäftigung zu erreichen, rückt zumindest näher. | |
## Warum Deutschland die Krise meisterte | |
Das Beschäftigungswunder in der Wirtschaftskrise 2008/2009 lässt sich durch | |
ein Stichwort zusammenfassen: interne Flexibilität. Darunter versteht man, | |
dass durch den Abbau von Überstunden, durch die Kurzarbeit und dem Abbau | |
von Guthaben auf Arbeitszeitkonten ein Anschnellen der Arbeitslosenrate | |
vermieden wurde. So nahm die Beschäftigung während des Abschwungs in | |
Deutschland sogar um 0,2 Prozent zu. In Spanien stieg die Arbeitslosenrate | |
um 10 Prozent an. Dort nutzt man vor allem die externe Flexibilität: | |
Geringe Hürden beim Kündigungsschutz und eine Vielzahl befristeter | |
Arbeitsverhältnisse ermöglichten es, Beschäftigte schnell zu feuern. | |
In Deutschland hätte 2009 der starke Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um | |
fünf Prozent eigentlich zu einem Verlust von rund 3,3 Millionen | |
Arbeitsplätzen führen müssen, haben Forscher des Instituts für | |
Makroökonomie und Konjunkturforschung errechnet. Die interne Flexibilität - | |
im Mai 2009 stieg beispielsweise die Anzahl der Kurzarbeiter auf den | |
höchsten Stand von 1,468 Millionen - hielt die Arbeitslosenzahlen niedrig. | |
So wurde auch der Binnenmarktkonsum nicht beeinträchtigt. | |
Deutlich wird, dass Deutschland in der Krise weniger von den | |
arbeitsrechtlichen Deregulierungen der Hartz-IV-Reformen profitierte als | |
von der starken Sozialpartnerschaft: Die Reduzierung der Wochenarbeitszeit | |
wurde durch Tarifverträge möglich. Auch die Existenz von Arbeitszeitkonten | |
geht auf Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen zwischen Gewerkschaften, | |
Betriebsräten und Arbeitgebern zurück. Experten fordern nun, die | |
Zeitkontensysteme - jeder zweite Beschäftigte hat ein solches Konto - zu | |
reformieren und Extrakonten für Krisenzeiten einzuführen. | |
## Die Arbeitswelt hat sich gewandelt | |
Die modernen Beschäftigten arbeiten anders als früher. Industrie und | |
Gewerbe bieten zunehmend weniger Jobs. Dafür wächst der | |
Dienstleistungssektor. Dort arbeiteten 2010 durchschnittlich 330.000 | |
Beschäftigte mehr als 2009. Beratungsleistungen aller Art, Gesundheit, | |
Pflege, Kultur und Hilfsdienste nehmen zu. Diese Tätigkeiten sind oft | |
personalintensiv und können schlecht rationalisiert werden. | |
Im produzierenden Gewerbe waren dagegen 136.000 Personen weniger | |
beschäftigt. Branchen wie Metallverarbeitung oder Elektroindustrie kommen | |
mit weniger Leuten aus. Durch höheren Kapitaleinsatz, mehr Maschinen und | |
Datenverarbeitung wachsen die produzierten Stückzahlen trotzdem. | |
Dieser Strukturwandel, der in anderen Industrieländern ähnlich abläuft, | |
beruht auf einer langfristigen Entwicklung. 1991 waren knapp 60 Prozent der | |
Arbeitnehmer als Dienstleister tätig, heute sind es 73,5 Prozent. Parallel | |
dazu sank der Anteil der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe von 29 | |
Prozent 1991 auf 19 Prozent 2010. Gegenüber diesen beiden Sektoren spielt | |
die Land- und Forstwirtschaft kaum noch eine Rolle. Dort arbeiteten 2010 | |
nur noch 2,1 Prozent der Beschäftigten. Vor zehn Jahren waren es noch 3,9 | |
Prozent. | |
Mit der Verschiebung zu den Dienstleistungen geht einher, dass mehr Frauen | |
arbeiten. Ihr Anteil an der Gesamtzahl der Beschäftigten ist gestiegen - | |
von 1991 bis 2009 von 16,7 auf 19,2 Millionen. Der Anteil der Männer nahm | |
hingegen ab - von 22 Millionen auf 21 Millionen. Frauen wiederum arbeiten | |
anders als Männer: Mehr als die Hälfte der weiblichen Arbeitnehmerinnen war | |
2009 in Teilzeit beschäftigt. Die männlichen Kollegen arbeiteten zu 83 | |
Prozent auf vollen Stellen. | |
## Ungeregelt, geliehen und in Teilzeit | |
Durch die Umverteilung der Arbeit auf mehr Personen und die wachsende | |
Bedeutung der Dienstleistungen nehmen moderne Tätigkeitsformen zu, die im | |
Vergleich zur traditionellen Arbeit ungeregelter sind. Das hat verschiedene | |
Gründe: Zum einen haben viele Beschäftigte keine Lust mehr auf die | |
traditionellen Vollzeitjobs. Auch hochqualifizierte Frauen streben häufig | |
danach, Familie und Beruf besser zu vereinbaren. | |
Zweitens können Unternehmen höhere Gewinne erzielen, wenn sie ihre | |
Arbeitskräfte flexibel und nicht fest einsetzen. Aus diesem Grund nimmt | |
beispielsweise die Leiharbeit zu. Und drittens erfordern viele | |
Hilfstätigkeiten in Pflegeheimen, Gebäudereinigungen und anderen | |
Unternehmen nur geringe Qualifikationen, weshalb diese Jobs schlecht | |
bezahlt sind. Die Beschäftigten können häufig mit einer dieser Stellen | |
alleine ihren Lebensunterhalt nicht finanzieren, sie müssen mehrere | |
Kleinjobs parallel abwickeln. | |
Hinzu kommen politische Reformen. Besonders die Politik der rot-grünen | |
Regierung seit 1998 hat dazu beigetragen, dass irreguläre | |
Beschäftigungsverhältnisse zunahmen. Ein Beispiel dafür sind die | |
sogenannten Mini- und Ein-Euro-Jobs. Die geringfügige Beschäftigung spielt | |
eine zunehmende Rolle. Während nach Angaben der Bundesagentur 2003 rund 4,1 | |
Millionen Arbeitnehmer solche Jobs hatten, waren es 2010 etwa 4,8 | |
Millionen. Auch Niedriglohnjobs, Teilzeittätigkeiten und Leiharbeit werden | |
wichtiger. | |
Durch diese Entwicklung sind viele Arbeitnehmer einerseits freier in ihren | |
Entscheidungen, wann sie wo wie viel arbeiten wollen. Andererseits steigt | |
aber auch der Anteil derjenigen, die kein Einkommen mehr erzielen können, | |
das ein halbwegs angenehmes Leben finanziert. | |
## Spaltung zwischen Ost und West | |
Deutschland ist nach wie vor ein geteiltes Land. So lag die | |
Arbeitslosenquote im November 2010 in Westdeutschland bei 6 Prozent, in | |
Ostdeutschland jedoch bei 10,7 Prozent. In einzelnen Bundesländern, wie in | |
Mecklenburg-Vorpommern, erreichte die Quote sogar 11,7 Prozent. In Bayern | |
oder Baden-Württemberg lag sie hingegen bei 3,8 respektive 4,3 Prozent. Nur | |
Bremen erreicht mit 11,5 Prozent ostdeutsche Werte. | |
Der Grund für die Ost-West-Kluft liegt nach wie vor in den Nachwehen des | |
Umbaus Ost nach der Wende: Wegen der Abwicklung und Schließung etlicher | |
Großbetriebe in Industrie und Landwirtschaft halbierte sich die | |
Erwerbstätigenbevölkerung in Ostdeutschland nach 1989. Bis heute ist der | |
Verlust an Arbeitsplätzen durch die Ansiedlung neue Industrien oder | |
Dienstleistungszentren nicht ausgeglichen worden. | |
Da Erwerbslosigkeit nach wie vor der häufigste Grund ist, warum Menschen in | |
Armut geraten, ist auch die Armutsquote in Ost und West unterschiedlich. Im | |
bundesweiten Durchschnitt betrug die Armutsgefährdungsquote laut | |
Statistischem Bundesamt 2007 14,3 Prozent. Sie besagt, dass 14,3 Prozent | |
der Bevölkerung weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der | |
Bevölkerung Deutschlands zur Verfügung haben. Derzeit sind das 870 Euro | |
monatlich für einen Alleinstehenden. Für die neuen Bundesländer lag die | |
Quote jedoch bei 19,5 Prozent, für die alten Bundesländer bei 12,9 Prozent. | |
Noch deutlicher fällt der Unterschied beispielsweise zwischen | |
Mecklenburg-Vorpommern und Baden-Württemberg aus: Im ostdeutschen | |
Bundesland war knapp ein Viertel der Bevölkerung armutsgefährdet, im | |
westdeutschen hingegen nur jeder Zehnte. | |
## Gering Qualifizierte verlieren | |
Als Verlierer auf dem deutschen Arbeitsmarkt gelten - neben Menschen mit | |
Migrationshintergrund - die Geringqualifizierten. Durch die Globalisierung | |
sind eine Anzahl einfacher Tätigkeiten in Produktion und Dienstleistung ins | |
Ausland verlagert worden. Zugleich sind die Anforderungen an manche | |
Tätigkeiten gewachsen, sodass es für Geringqualifizierte schwieriger wurde, | |
Arbeit zu finden. | |
Der Trend hält seit etlichen Jahren an: Von 1991 bis 2004 stieg die | |
Arbeitslosenquote von Frauen ohne Berufsabschluss von 15 auf 21,1 Prozent | |
an. Bis dahin liegt die neueste Datenreihe vom Institut für Arbeitsmarkt- | |
und Berufsforschung vor. Bei den Männern stieg die Quote im selben Zeitraum | |
von 15 auf 27,8 Prozent an. Auch die Bertelsmann-Stiftung stellt in ihrer | |
Studie "Soziale Gerechtigkeit in der OECD" fest, dass Geringqualifizierte | |
in Deutschland seltener eine reguläre Beschäftigung finden als in der | |
Mehrzahl der anderen OECD-Staaten. | |
Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der | |
Evangelischen Kirche Deutschland, regt daher an, große Betriebe dazu zu | |
verpflichten, eine gewisse Anzahl an Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte | |
vorzuhalten. Die Soziologen Johannes Giesecke und Jan Paul Heisig plädieren | |
zudem für den Ausbau der vorschulischen Bildung und ein längeres | |
gemeinsames Lernen aller Schüler, um die Bildungschancen von Kindern aus | |
bildungsfernen Familien langfristig zu erhöhen. Selbst wenn sie Arbeit | |
haben, stehen die Geringqualifizierten oft schlechter da als andere: So | |
haben bis zu 40 Prozent von ihnen nur einen 400-Euro-Job. Auch sind | |
Geringqualifizierte überdurchschnittlich häufig von Niedriglöhnen und Armut | |
betroffen. | |
3 Jan 2011 | |
## AUTOREN | |
E. Völpel | |
H. Koch | |
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