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# taz.de -- Ethnologie des Alltags: Feldforscher unterwegs in eigener Sache
> Beim Projekt "Sieben Felder" untersuchen Ethnologie-StudentInnen und
> KünstlerInnen mit SchülerInnen, wie Kulturelles deren Alltag prägt.
> Fazit: Die Jugend vermischt "Deutsches" und "Migrantisches", Erlebtes und
> Erträumtes, Erfahrung und Klischee auf das Schönste.
Bild: Kulturübergreifend populär: weiße Brautkleider.
Wenn Dschihan seine Augen schließt, ist er an seinem Lieblingsort. Es ist
der Balkon am Haus seines Großvaters im türkischen Dorf Ikizdere. Alle sind
da: Eltern, Geschwister, Cousins, Großeltern. Mit Opas Luftgewehr darf der
13-Jährige in die Bäume schießen. Eigentlich verboten, aber "Papa steht
daneben und passt auf". Dschihans Traum, gesprochen von ihm selbst, zum
Bild seines schlafenden Gesichts in Großaufnahme, dauert knapp eine Minute.
Dann endet der Videoclip, die Mitschüler applaudieren und der Künstler
Zarko Jovasevic hält kurz den Rechner an. "Klasse Arbeit", lobt Jovasevic.
"Besonders wenn man bedenkt, dass die Träume in der Bettenabteilung eines
Kaufhauses entstanden sind."
Vor-sich-Hinträumen bei Karstadt am Hermannplatz ist für die Siebtklässler
der Ferdinand-Freiligrath-Schule in Kreuzberg Alltag. Mit Hilfe einer
Videokamera, künstlerischer Begleitung und einer Gruppe
Ethnologie-Studenten der Humboldt-Universität wird aus ihrem Erleben eine
ästhetische Feldforschung. Der Videospaziergang ist Teil des
künstlerisch-wissenschaftlichen Großprojekts "Sieben Felder", das unter der
Federführung des Kreuzberger Jugendkunsthauses "Schlesische 27"
durchgeführt wird.
"Sieben Felder" hat sich vorgenommen, das kulturelle Selbstverständnis von
Schülern mit den Mitteln der Ethnologie zu ergründen. Von Mitte November
bis Mitte Dezember besuchte ein Team aus KünstlerInnen der Initiative
"Ästhetische Feldforschung" und Studierenden des HU-Seminars "Ethnologie
und Schule" für je eine Woche eine Schule in Wilmersdorf, Wedding und
Kreuzberg. Das Ziel: herausfinden, wer wie weshalb zusammen gehört.
Fernab von Hautfarben
"Ständig ist von kulturellen Unterschieden die Rede, besonders wenn es um
so genannte Integrationsfragen geht", sagt Stefanie Meyer von der
"Schlesische 27". "Wir wollen wissen: Könnte man Lüste, Gewohnheiten und
Verwandtschaften nicht auch mal ganz neu bündeln, fernab von Hautfarben,
Dialekten und Reisepässen?" Am Ende des Projekts wird eine Ausstellung im
Haus der Kulturen der Welt stehen. Am Anfang aber stehen erst einmal Mental
Maps, Wahrnehmungsspaziergänge und Befragungen.
"Diese Instrumente dienen dazu, die Sinne zu schärfen und Gewohnheiten zu
hinterfragen. Wir wollen erreichen, dass die Jugendlichen ihr Verhalten
reflektieren", erklärt die Ethnologiestudentin Viktoria Gabrysch. Die
28-Jährige muss gegen den Lärm im Klassenzimmer anschreien, trotzdem wirkt
sie entspannt. "Von denen kommt richtig viel", sagt sie über die Schüler,
die gerade dabei sind, Szenen aus ihrem Leben in dreidimensionale
Guckkästen aus Pappe zu überführen. Am vierten Tag der Projektwoche ist
schon viel Arbeit getan: Vier Gruppen haben sich gebildet: Aufgeteilt in
Ton, Bild, Text und Film erkunden die SchülerInnen die sieben Felder
Sammeln und Besitzen, Teilen und Tauschen, Schaffen und Gestalten, Erben
und Bewahren, Lieben und Begehren, Glauben und Hoffen und - ganz
jugendgemäß - Feiern und Chillen.
Dem Schaffen und zugleich dem Bewahren widmet sich Esra aus der
Text-Gruppe. Die 18-Jährige fand heraus, dass es nur in türkischen Familien
wie ihrer die "Patik" genannten Strickhausschuhe gibt, die von
Familienmitgliedern und Gästen getragen werden. Sie befragte Mutter,
Großmutter und Frauen aus dem Bekanntenkreis nach Stricktechniken und
regional verbreiteten Mustern. Ein Heft mit selbstgeschossenen Fotos und
Text soll aus der Recherche werden.
Während Esra noch schreibt, drängt ihre Freundin Duaa zum Aufbruch: In
Begleitung einer Ethnologin wollen die Mädchen in einem türkischen
Hochzeitsladen in Neukölln Fotos machen und im Interview "alles über das
Heiraten" erfahren. "Interessant wäre, wie der Weg vom Kennenlernen bis zum
Heiraten abläuft", regt die Künstlerin Antonia Weisz an, die die Textgruppe
betreut. "Wie lernt man sich kennen, ab wann sind die Eltern dabei, wer
muss wann einverstanden sein, bevor die Hochzeit stattfinden kann." Duaa
und Esra nicken. Heiraten wollen sie beide einmal. "Aber erst nach der
Schule, am besten erst nach der Ausbildung", sagt Duaa. Darin sei sie mit
ihren Eltern einig.
Bei ihnen zu Hause überlagerten sich türkische Hochzeitsrituale längst mit
deutschen, erzählt Esra. Ihre Mutter habe die Tradition, die Brautschuhe
mit angesparten Münzen zu bezahlen, so schön gefunden, dass sie bis zur
Hochzeit der Schwester eine riesige Dose aufgestellt habe. Bei der Trauung
habe die Braut nach deutscher Sitte etwas Altes, etwas Neues, etwas
Geborgtes getragen - und drunter ein blaues Strumpfband. Antonia Weisz
strahlt. Die Reflexion über kulturelle Traditionen und Identität geschieht
bei den Schülerinnen ganz bewusst.
Eine Projektwoche pro Schule sei viel zu kurz, sagt Weisz. Allein für das
gegenseitige Kennenlernen und die methodische Einführung brauche man schon
fast zwei Tage. In den verbleibenden zweieinhalb Tagen bleibt Zeit für
Inhalte. Am fünften soll bereits eine kleine Präsentation stehen, in der
sich die Gruppen gegenseitig ihre Arbeit vorführten. "Das ist mager, aber
zum Glück sind die Schüler Projektarbeit gewöhnt", sagt Weisz.
Nennenswerte Unterschiede zwischen der Wilmersdorfer und der Kreuzberger
Schule konnte sie nicht feststellen. "Es gibt überall Jugendliche mit
verschiedenen Persönlichkeiten und Familiengeschichten." Motiviert seien
sie alle, allerdings sei es nur schwer gelungen, Schüler für die Textgruppe
zu finden. "Schreiben klingt zu sehr nach Schularbeit."
Die Schreibgruppe besteht nun ausschließlich aus Mädchen, während in der
Video-Gruppe nur Jungs sind. Während sich die Mädchen für Heirat, Liebe und
Freundschaft interessierten, wollten ihre männlichen Klassenkameraden vor
allem coole Filme drehen und rappen. Eigentlich ärgerlich, aber binnen
einer Woche nicht zu ändern, sagt Weisz, die sich auf die künstlerische
Zusammenarbeit mit Schulen und Bildungseinrichtungen spezialisiert hat. Das
wichtigste sei, dass die Motivation stimmt.
Die elfjährige Fatma muss die Künstlerin sogar ein wenig in ihrem Eifer
bremsen. Die Schülerin hat sich eine Geschichte über eine Künstlerin
ausgedacht, die mit einem verzauberten Stift Gemaltes wahr machen kann. Den
Science-Fiction-haften Stoff über Weltbeherrschung und Liebe möchte Fatma
am liebsten als 90-Minüter verfilmen. Weisz konnte sie jedoch überreden,
die Geschichte in einen 3-D-Guckkasten zu gießen. Etwas enttäuscht, aber
geduldig schneidet Fatma nun Frauenfiguren und Planeten aus Illustrierten
aus und ergänzt sie mit selbst ausgedachten Sätzen wie "Farben reden in
Form der Gefühle" oder "Das Leben formt sich nicht immer angenehm".
Einen Guckkasten hat auch der 13-jährige Dschihan aus der Videogruppe
gebaut. Der zeigt allerdings keine Fantasiewelten, sondern die Realität.
Oder was Dschihan dafür hält. Sein Papp-Panorama des nächtlichen Kottbusser
Tors zeigt gelbe Straßenlaternen und Hochhäuser, an deren Fassade
"A.C.A.B." gesprüht ist. Was das bedeutet, weiß Dschihan, der in der
Nachbarschaft des Kotti wohnt, selbstverständlich: "All Cops are Bastards".
Und was passiert in seinem Film, wenn er mittels eines Schaschlikspießchens
seine gemalten Autos und Pappfiguren für die Videokamera bewegt? Die
Antwort kommt mit einem breiten Grinsen: "Da kommen dann alle Penner auf
die Straße und schießen sich gegenseitig ab."
Marius Mailänder lacht. "Ist doch interessant, wie mediale Klischees und
Abenteuererzählungen in das eigene Erleben einwirken", sagt der 29-jährige
HU-Student. Immerhin habe jeder der Jungs am Ende aus dem eigenen Leben
geschöpft und nicht einfach South-Park-Episoden nachempfunden. Ganz
rauskriegen aus den Köpfen könne man die omnipräsenten Medienvorbilder aber
nicht.
Liebeslied an die Mutter
Bei der Präsentation am letzten Projekttag zeigt sich Dschihan von seiner
sanfteren Seite. Den Beteiligten der anderen Projektgruppen, seinem
Klassenlehrer und der Schulleiterin, die sich im Klassenzimmer versammelt
haben, zeigt er seine Traumsequenz. Die kommt gut an - ebenso wie der
Gesang Gülfens aus der Tongruppe, deren in türkischem Arabesk-Stil
vorgetragenes Liebeslied an die Mutter alle verblüfft. Auch Omur überlebt
trotz großer Scham die öffentliche Abspielung seines ersten auf Tonband
gebannten Raps. Der etwas holprige Text handelt von dem Frust, als Kind
türkischer Eltern "nur auf dem Papier Deutscher" zu sein.
Der Präsentationsform ist es geschuldet, dass Bild und Ton spektakulärer
wirken als die Ergebnisse der Textgruppe. Fatmas Guckkasten wird kaum zur
Kenntnis genommen, auch Esras liebevoll gestaltetes Pantoffelbüchlein geht
etwas unter.
Im Februar wird das vermutlich anders werden - das umfangreiche, in allen
drei Schulen gewonnene Material wird dann neu sortiert, nochmals in
Workshops bearbeitet und für die Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt
für ein kritisches Museumspublikum aufbereitet. Vorher muss sich Antonia
Weisz aber noch etwas hinlegen. Nach drei Schulen, unzähligen
Wahrnehmungsspaziergängen, Bastelstunden und Interviews weiß sie:
"Ästhetische Feldforschung mit Jugendlichen ist großartig, aber danach ist
man platt."
10 Jan 2011
## AUTOREN
Nina Apin
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