| # taz.de -- Buch über das Nichtstun: Einfach mal Ruhe geben | |
| > Der Journalist Ulrich Schnabel hat ein Buch über das Nichtstun | |
| > geschrieben. Und erklärt während eines Besuchs bei herumlungernden | |
| > Zootieren, warum darin das Glück liegt. | |
| Bild: Tiere können sinnvoll entspannen. Menschen müssen die Muße erst noch l… | |
| Ra-ta-ta-ta, ra-ta-ta-ta macht der Rollkoffer von Ulrich Schnabel. | |
| Ausgerechnet ein Rollkoffer – das Symbol der Globalisierung, der Hektik, | |
| der Beschleunigung – rattert da über die gepflasterten Wege des | |
| Zoologischen Gartens in Berlin. Das Rattern ist Schnabel unangenehm, er | |
| versucht, den Koffer leiser rattern zu lassen. Wäre dieses ärgerliche | |
| Geräusch nicht, man könnte die Stille hören, die der Schnee gebracht hat, | |
| der das Gefiepe und Gebrumme der Stadt dämpft. Stille, die so herrlich dazu | |
| passen würde, worüber Schnabel gleich reden soll: Muße. | |
| Darüber nämlich hat Schnabel ein Buch geschrieben, „Muße. Vom Glück des | |
| Nichtstuns“ heißt es, eine Mischung aus Essay, Ratgeber und | |
| wissenschaftlicher Analyse. Schnabel ist Redakteur im Wissenschaftsressort | |
| der Zeit, sein erstes Buch, „Die Vermessung des Glaubens“, war ein großer | |
| Erfolg. Um das neue Buch zu schreiben, hatte er sich ein halbes Jahr | |
| freigenommen. Zuerst hatte er geschaut, wie er mit der eigenen Muße so | |
| umgeht. Wie das ist, wenn man sich als Journalist von dem Nachrichtenstrom | |
| abschneidet, der längst zu einer nicht hinterfragbaren Konstante geworden | |
| ist. | |
| Es funktioniert. Die Hälfte des Buches entwirft er beim Spazierengehen, in | |
| der „heißen Phase“ des Schreibens fährt er vier Wochen in Urlaub, verwirft | |
| einen Teil seiner Planung – und treibt damit den Lektor „in den Wahnsinn“. | |
| Die Existenzberechtigung dieses Buchs liegt im Gegensatz der Muße: im | |
| Stress. „Wie eine Seuche breitet sich das aus“, sagt Schnabel. Alle um ihn | |
| herum hatten das Gefühl, zu wenig Zeit zu haben, unter Druck zu stehen. | |
| Dieses Gefühl wird aber nicht nur von äußeren Faktoren erzeugt, sondern | |
| auch von uns selbst. „Sich von sich selbst hetzen lassen“ nennt Schnabel | |
| das. Er findet Studien, die belegen, dass unser Gehirn und unsere geistige | |
| Stabilität immer wieder Phasen des Nichtstuns brauchen. Er liest eine | |
| Warnung der Weltgesundheitsorganisation, dass berufsbedingter Stress durch | |
| permanente Überlastung eine der „größten Gesundheitsgefahren des 21. | |
| Jahrhunderts“ sei. Er spricht mit Wissenschaftlern, einer erzählt von dem | |
| „antrainierten“ Kick des Büromenschen: Alle elf Minuten erwartet das Gehirn | |
| mittlerweile eine Unterbrechung – durch E-Mails, SMS, Facebook-Nachrichten. | |
| Der Terror hört auch am Wochenende nicht auf. Wer soll sich da noch | |
| konzentrieren, gar entspannen? | |
| Jetzt, an dem Vormittag im Zoo, bleibt Schnabel an einem Teich stehen. Das | |
| Koffergeratter hört auf, endlich Stille. Er schaut sich die Pelikane an, | |
| die auf den toten Ästen über dem gefrorenen Teich sitzen, die Kraniche, die | |
| wie seltsame Früchte am Baum hängen, die Köpfe im Gefieder. Schnabel ist | |
| 48, ein freundlicher, unaufdringlicher Mann mit Jungenaugen und Zahnlücke. | |
| Die Muße ist ihm nicht fremd, seit zwanzig Jahren meditiert er. In der | |
| Schule hatten sie einmal aufschreiben sollen, was sie später mal werden | |
| wollten. Lebenskünstler, hatte er geschrieben. | |
| Das erste Jobangebot kam von der Zeit, sie wollten damals das | |
| Wissenschaftsressort aufbauen. „Ich kann mir das vorstellen“, hatte | |
| Schnabel gesagt. „Aber nur, wenn ich drei Monate Urlaub bekomme.“ Da war er | |
| Anfang dreißig. Ob er wahnsinnig sei, hatten die Freunde gefragt. Aber die | |
| Redaktion stellte ihn ein. Schnabel wollte immer die Herrschaft über seine | |
| Zeit. Er hat sie bekommen. | |
| Wer sich mit Muße beschäftigt, der trifft auf noch andere Begriffe. | |
| Müßiggang. Nichtstun. Faulheit. Trägheit. Das Wort „Muße“ stammt aus dem | |
| Griechenland der Antike, fast bedeutet es das genaue Gegenteil von | |
| Faulheit. Ein aktiver Zustand, der das Studieren von Dichtung, Musik und | |
| Literatur erst möglich macht. Muße, sagt Schnabel, das sind „Momente, die | |
| ihren Wert in sich selbst tragen und die nicht der modernen | |
| Verwertungslogik unterworfen sind“. Wie wenn ein Kind spielt. Dabei sein, | |
| egal, was man tut – und wenn es nichts ist. | |
| In der Logik der Puritaner war so etwas nicht vorgesehen. Benjamin | |
| Franklins „Früh schlafen gehn und früh aufstehn schafft Reichtum, Weisheit, | |
| Wohlergehn“ hat – wenn man das mal so betrachtet – eine Menge angerichtet. | |
| Mit der Industrialisierung kam das Ende des autonomen Lebens für viele. Bis | |
| dahin freie Handwerker mussten sich dem Rhythmus der Fabrikschichten | |
| beugen. Und: Sie waren beschäftigt, kamen nicht auf dumme Gedanken – zum | |
| Beispiel den, einen Aufruhr zu veranstalten. Die Muße wurde umgedeutet in | |
| den Müßiggang, eine missliche Sache, etwas, was mit Vagabunden oder im | |
| besten Falle mit Bohemiens zu tun hatte. Dass Trägheit als siebte Todsünde | |
| gilt, half auch nicht weiter. Und diese Grundwerte der westeuropäischen | |
| Kultur, sagt Schnabel, stecken noch immer in uns. | |
| Schnabel hat sich durch den Schnee gekämpft, er ist im Affenhaus | |
| angekommen. Er sucht die Faultiere, jene Wesen, die aus reiner | |
| Überlebensstrategie ihr Leben lang regungslos in Bäumen hängen. Zu sehen | |
| sind sie allerdings nicht, wahrscheinlich hängen sie irgendwo im Ficus | |
| benjamini, der den Käfig bewuchert. Aber Schnabel nimmt Fahrt auf. „Schon | |
| extrem, wie sehr wir uns über Arbeit und Besitz definieren, | |
| leistungsorientiert schon ab dem Kindergarten!“ Er ärgert sich über | |
| stereotype Bilder, die Werbung, Medien und Hollywoodfilme transportieren. | |
| Bilder, die uns erklären, dass der Lebensinhalt im Anhäufen von Besitz | |
| besteht. „Schleichende Gehirnwäsche“ nennt er das. Am liebsten will er | |
| rufen: „Leute, merkt ihr noch was?“ | |
| Im Gehege gegenüber den Faultieren hängt ein Orang-Utan am Seil, er | |
| schwingt hinunter, laust die Familie. Legt sich in die Hängematte, krault | |
| das Kind. Schnabel schaut. So richtig Muße sei das nicht, sagt er, Tiere | |
| seien ja vor allem von ihren Bedürfnissen gesteuert. Aber dafür könnten sie | |
| sich sinnvoll entspannen. Er beschreibt die Katze, die sich auf dem Sofa | |
| rekelt und dann im nächsten Moment hellwach ist, um vielleicht eine Maus zu | |
| fangen. Aber wie ist das, fühlen die auch Stress? Da erzählt Schnabel von | |
| den Pavianhorden, die ein Stressforscher untersucht hat. Von den | |
| rangniedrigsten Tieren, die der Willkür ihrer Anführer ausgeliefert sind | |
| und die mehr Stresshormone im Blut haben als die Alphatiere, häufiger krank | |
| werden, früher sterben. | |
| „Sozialstress“, sagt Schnabel. „Wer nicht selber über seine Handlungen | |
| bestimmen kann, hat Stress.“ Einer, den Schnabel bewundert, hat es | |
| geschafft, sich diesem Modell zu widersetzen: Yvon Chouinard, Gründer der | |
| Firma Patagonia und Autor des Buchs „Lass die Mitarbeiter surfen gehen“. | |
| Schnabel lobt dessen „müßiggängerische Grundhaltung in einem knallharten | |
| Business“. Chouinard gönnt seinen Mitarbeitern Freiheit – die er sich auch | |
| selber nimmt. Ein System, das auf Vertrauen und Selbstbestimmung basiert. | |
| „Keine theoretische Träumerei“, ruft Schnabel. „Es geht doch!“ | |
| Aber nicht alle Angestellten haben einen Chef wie Chouinard, die meisten | |
| stecken im „Hamsterrad der Geschäftigkeit“, wie Schnabel sagt. Selbst | |
| diejenigen, die keine Arbeit haben, die Erwerbslosen, die | |
| Zwangsentschleunigten. In einer Gesellschaft mit 3,4 Millionen Arbeitslosen | |
| scheitert das Grundeinkommen an der Grundeinstellung: Man kann doch nicht | |
| fürs Nichtstun bezahlt werden! Schnabel träumt von einer anderen | |
| Gesellschaft, in der nicht der Verwertungsgedanke in allem gesucht wird, in | |
| dem nicht alle „immer die Karotte vor der Nase haben“ – wenn Arbeit, dann | |
| Geld, dann Glück. | |
| „Um die Kraft für einen Richtungswandel zu finden“, schreibt Schnabel in | |
| seinem Buch, „benötigen wir ausgerechnet das, was uns am meisten fehlt: | |
| Muße und Zeit.“ Er meint damit nicht nur einen persönlichen Wellnesstrip, | |
| sondern einen gesellschaftlichen, einen politischen Wechsel. Und die Lösung | |
| ist denkbar einfach: Anfangen. Nichts tun. Jeder Einzelne. Nach Hause | |
| gehen, an die Decke gucken, in die Sterne, in den Mond, spazieren gehen, | |
| nachdenken, alles gratis. Ulrich Schnabel will, dass sich das ausbreitet. | |
| In zwanzig Jahren, so hofft er, reden nicht nur er und ein paar | |
| Wissenschaftler vom „Zeitwohlstand“. Eine Revolution könnte das dann | |
| werden. Sie finge damit an, dass man einfach mal Ruhe gibt. Und sagt: Ich | |
| hab jetzt keine Zeit, ich muss mich um meine Muße kümmern. | |
| 15 Jan 2011 | |
| ## AUTOREN | |
| Jana Petersen | |
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