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# taz.de -- Rudolf Steiners Vermächtnis: Kartoffeln fördern den Materialismus
> Vor 150 Jahren wurde Rudolf Steiner geboren. Zu seinem Erbe gehören
> Naturcremes, Demeter-Waren und die Waldorf-Schulen. Aber auch Astralleibe
> und geisterfüllte Erde.
Bild: Rudolf Steiner als Portrait im Stuttgarter Kunstmuseum.
BERLIN taz | Eines Morgens schaute sich mein Freund um und stellte fest:
"Die Anthros haben mich wieder." Schleichend hatte die Anthroposophie
unsere Wohnung erobert: Im Bad stapelten sich Cremes und Naturheilmittel
aus den Häusern Wala und Weleda, "unter Anwendung rhythmischer Prozesse"
hergestellt. In die rechten Winkel unseres Wohnzimmers schmiegte sich
waldorfpädagogisch gerundetes Holzspielzeug.
Unser Gemüse trug das Zeichen des biologisch-dynamisch landwirtschaftenden
Demeter-Bunds. Und der Ratgeber "Die Kindersprechstunde", den uns die Oma
überlassen hatte, informierte über den Astralleib und warnte vor den
negativen Eigenschaften der Kartoffel: Ihr Verzehr fördere die
materialistische Denkweise. "Wusstest du, dass Demeter-Bauern mit Mist
gefüllte Kuhhörner vergraben, um die Erde mit Geist zu erfüllen?", fragte
mein Freund.
Rhythmische Prozesse, Astralleib, geisterfüllte Erde - das klingt skurril
und nicht so solide wie Weleda, Waldorf und Demeter. Die drei
anthroposophischen Erfolgsmarken eroberten den Mainstream mit ihrem
Versprechen einer guten, nachhaltigen Lebensführung im Einklang mit der
Natur.
Klingt nach gesundem Menschenverstand. Doch die Anthroposophie ist alles
andere als bodenständig; ihr Fundament ist das Spirituelle, das Kosmische,
ja das Okkulte, wie mehrere, zu Steiners 150. Geburtstag erschienene Bücher
betonen.
Der Erziehungswissenschaftler Heiner Ullrich bekennt schon im Vorwort zu
"Rudolf Steiner. Leben und Werk" seine Schwierigkeiten mit der "oft
fremdartig-esoterisch anmutenden" anthroposophischen Terminologie, die eine
"wissenschaftliche Auseinandersetzung" erschwere.
Er leitet von Steiners intellektueller Biografie ab, wie dieser seine
Weltanschauung entwickelte: In bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen,
brach Rudolf Steiner (1861-1925) ein naturwissenschaftliches Studium ab und
wandte sich Philosophie und Erkenntnistheorie zu.
Im Wissenschaftsbetrieb reüssierte er nicht, auch die Edition der Schriften
Goethes vermochte ihn nicht zu fesseln. Nach Ullrichs Lesart fand der Mann,
der sein Brot als Hauslehrer oder Theaterredakteur verdiente, in der
Theosophie eine spirituelle Heimat.
Die Wichtigkeit dieses in Geheimzirkeln organisierten Milieus für Steiners
Werdegang betont auch Helmut Zander, der ein Drittel seiner voluminösen
Biografie der Theosophie und ihrer mystisch-okkulten Gedankenwelt widmet.
Zander zeichnet nach, wie der begnadete Redner Steiner sich mit
Reinkarnation und Freimaurertum beschäftigte, schließlich zum Leiter der
deutschen Theosophensektion aufstieg. 1912 spaltete er sich mit der
Anthroposophischen Gesellschaft ab.
Die neue Geisteswissenschaft umfasste eine Kunst und (christliche)
Metaphysik. Die Anthroposophie wurde zum kultischen Gesamtkunstwerk mit
Rezitationen und der Aufführung von Mysterienspielen, aus denen die
Eurythmie hervorging. Diese tänzerische Ausdrucksform, die den
übersinnlichen Urgrund der menschlichen Sprache sichtbar machen soll, ist
noch heute Unterrichtsfach an allen Waldorfschulen.
Während mein Freund es zu seiner Schulzeit als Zumutung empfand, in
bodenlangem Gewand und Schläppchen symbolistische Bewegungen auszuführen,
war die Eurythmie bei Entstehen durchaus hip. Man staunte über die
Aufführungen im "Goetheanum", einem zweikuppeligen Prachtbau, den Steiner
in Dornach bei Basel errichten ließ.
Der 1922 abgebrannte "Mensch gewordene Bau", der mit organischen Formen und
dem Verzicht auf rechte Winkel leibliches und seelisches Befinden des
Menschen ansprechen sollte, gilt als Prototyp der anthroposophischen
Architektur.
Die kosmologische Theorie, die Steiner entwickelte, basiert - verkürzt
gesagt - auf der Idee, dass Weltall und Mensch einem gemeinsamen
göttlich-geistigen Urgrund entspringen, zu dem es wieder zurückzufinden
gilt. Dem Gang der Weltentwicklung zufolge befinden wir uns gegenwärtig in
der fünften Kulturepoche, einer Hochzeit der Individualisierung und des
Materialismus.
Dass es den "weißen Rassen" obliege, die Menschheit zum Höheren zu führen,
während "Neger" oder Juden auf historisch niedrigeren Stufen zurückbleiben,
gehört zu den heute viel kritisierten, von Steiners Biografen aber auch
zeitgeschichtlich eingeordneten, Aspekten. Von Schriften, in denen er die
deutsche Kultur als völkerpsychologisch höherwertig gegenüber anderen
"Volkscharakteren" einstuft, hat sich der Bund der Waldorfschulen in der
"Stuttgarter Erklärung" von 2007 distanziert.
Zurück zur Praxis: Steiners an Kopf, Herz und Hand des kindlichen
Individuums orientierte Pädagogik konnte er 1919 in der ersten, für die
Arbeiterkinder der Waldorf-Astoria-Zigarettenfabrik in Stuttgart
gegründeten Schule umsetzen. Heute gibt es 1.000 Waldorfschulen weltweit,
auch in Israel. Die Pädagogik bleibt, ebenso wie die "intuitive" Medizin,
das breitenwirksamste Vermächtnis Steiners.
In beiden Feldern war der Mann, der zwischen 1919 und 1925 als
Vortragsreisender unterwegs war und mit der Gründung der
"Christengemeinschaft" 1922 auch Religionsstifter wurde, Autodidakt. Und in
beiden Feldern ist es bis heute möglich, die praktische Anwendung
gutzuheißen, ohne sich ganz auf die Steinersche Gedankenwelt einzulassen.
Man muss nicht an die Heilsverwandtschaft der Mistel mit dem
Lichthaft-Geistigen glauben, um es mit einer Misteltherapie zu probieren.
Man muss nicht von den an Rhythmen des kosmischen Lebensstroms orientierten
Herstellungsverfahren überzeugt sein, um Dr.-Hauschka-Cremes zu mögen.
Vielleicht muss man auch nicht wissen, dass der Lebensgefährte Trompete
lernte und mit 16 ein Jahr auf einer US-amerikanischen Demeter-Farm
verbrachte, weil das seinem "sanguinischen" Temperament auf die Sprünge
half.
Man muss das alles nicht wissen. Aber es kann nicht schaden, im
alltäglichen Kontakt mit Weleda, Waldorf und Co. deren weltanschauliche
Grundlage im Kopf zu haben. Dass sich das spirituell-vormodern geprägte
Weltbild der Anthroposophie bisweilen in Dogmatismus äußert, kann ich zu
Hause ganz konkret studieren: Weil mein Lebensgefährte sich noch heute von
den "Anthros" mit ihren verwischten Konturen und warmen Erdtönen verfolgt
fühlt, dominieren bei uns nun klare Konturen und spitze Winkel - mit
kleinen anthroposophischen Akzenten. Die Dosis macht das Gift - mit diesem
Credo von Paracelsus ging auch Steiner ganz daccord.
Helmut Zander: "Rudolf Steiner. Die Biografie". Piper, 2011
Heiner Ullrich: "Rudolf Steiner. Leben und Lehre". C. H. Beck, 2010
26 Feb 2011
## AUTOREN
Nina Apin
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