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# taz.de -- Mehr Flüchtlinge in Hauptstadt: Die Herbergssuche zu Berlin
> Steigende Flüchtlingszahlen zwingen den Senat zum Improvisieren: Er
> bringt die Menschen in Hostels unter. Doch Initiativen fordern
> stattdessen Wohnungen.
Samir* steht im Foyer des Gästehauses, das gerade keines ist. Die Rezeption
ist verwaist, nur ein verlassener Plastikbecher steht auf dem Tresen.
Daneben ein Heißwasserbottich, Pfefferminztee und löslicher Kaffee. Aus dem
Treppenhaus dringt fremdes Stimmengewirr. Kleine Kinder wetzen durch die
langen, kahlen Flure mit den blauen Türen. Hinter einer wohnt Samir.
Gut sei es hier im Gästehaus, "sehr gut", sagt der 20-jährige Afghane.
Samir trägt einen blauen Pullover, Jogginghose, die dunklen Haare kurz. "In
Afghanistan ist Krieg, hier gibt es Hilfe." Samirs Zimmer ist wenig mehr
als zwei Meter lang. Rechts und links steht je ein Doppelstockbett vor
weißen Wänden, im linken, unten, ist helle Bettwäsche aufgezogen. Auf einem
kleinen Tisch liegt eine Schutzhülle, Samirs Papiere. Die Duldung für ein
Jahr. Und sein Kampfsportzertifikat. "Ich will als Kung-Fu-Lehrer
arbeiten", sagt er. Das Zertifikat sei international anerkannt.
Samirs jetziges Zuhause ist eigentlich ein Gästehaus in Mitte.
Normalerweise kehren hier Schulklassen und Jugendgruppen ein. Doch weil in
letzter Zeit mehr und mehr Flüchtlinge kommen, muss der Senat
improvisieren. Seit Herbst 2010 verteilt er die neu eintreffenden
Flüchtlinge über die Stadt: in leere Hostels und Jugendherbergen. Die
Erstaufnahmestelle, ein Heim in der Spandauer Motardstraße, ist schon seit
Langem überfüllt. Aktuell leben dort 606 Flüchtlinge - 56 Menschen mehr,
als Plätze vorhanden sind.
Fünf Ausweichunterkünfte hat der Senat angemietet - in Mitte, Pankow,
Tempelhof-Schöneberg und zwei in Marzahn-Hellersdorf. Doch was als
Übergangslösung gedacht war, scheint sich jetzt zu verstetigen. Kamen 2009
noch 1.350 Asylbewerber nach Berlin, waren es im letzten Jahr bereits
1.963. 2006 lag die Zahl bei 913 Flüchtlingen. "Die Flüchtlingszahlen
steigen auch 2011 weiter", prophezeit Karin Rietz, Sprecherin von
Sozialsenatorin Carola Bluhm (Linke).
Inzwischen sind die Behelfunterkünfte überfüllt. 2.426 Plätze stehen in
Berlin für Flüchtlinge bereit - sie werden aktuell von 2.505 Flüchtlingen
belegt. Und die Lage wird noch prekärer: Vor zwei Wochen musste der Senat
eine Behelfsunterkunft für 120 Flüchtlinge, ein Hostel der Stadtmission,
wieder schließen. Der Sozialträger will dort mit der beginnenden
Tourismussaison wieder junge Berlinbesucher unterbringen. Sozialsenatorin
Bluhm setzt das weiter unter Druck. "Wir befinden uns auf der Suche nach
Unterbringungsmöglichkeiten unterschiedlichster Art", so deren Sprecherin
Rietz. Ein Ende der steigenden Flüchtlingszahlen sei "nicht absehbar".
Als "hilf- und kopflos" kritisiert der Berliner Flüchtlingsrat die rot-rote
Flüchtlingspolitik. Viele Unterkünfte seien für längere Unterbringungen
nicht geeignet, so Sprecher Georg Classen. Teilweise mangele es an Küchen
oder beim Brandschutz. Allgemein gebe es zu wenige Sozialbetreuer. "In
einer Unterkunft gibt es bei 270 Bewohnern keine einzige Kinderbetreuung",
bemängelt Classen. "Viele Flüchtlingskinder können nicht zur Schule gehen."
Auch das "Bündnis gegen Lager" spricht von Mindeststandards, die teilweise
"in krasser Weise unterschritten" würden. Die Flüchtlingsinitiativen
fordern eine andere Antwort auf die Herbergsknappheit: Die Flüchtlinge
sollten verstärkt in Wohnungen untergebracht werden - so wie es der
rot-rote Senat 2003 als Ziel beschloss.
Das, so Sozialsenatorin Carola Bluhm, sei auch weiterhin der Wunsch. Nur
werde dies mit den steigenden Flüchtlingszahlen und dem enger werdenden
Wohnungsmarkt immer schwieriger. Aber dass Standards in den
Ausweichunterkünften nicht eingehalten werden, weist Sprecherin Rietz
zurück. Alle Einrichtungen würden baurechtlich geprüft, eine
"bedarfsgerechte Kinder- und Sozialbetreuung" sei gewährleistet. Wo es
keine Küchen gebe, werde Vollverpflegung gestellt. "Beschwerden von den
Bewohnern sind mir nicht bekannt", so Rietz.
Auch im Gästehaus von Samir gibt es keine Küchen. Dafür wird dreimal
täglich Essen angeliefert. Die Kinder bekommen Unterricht von Hauslehrern.
Neben den Herbergszimmern gibt es nur einen Gemeinschaftsraum - der bis auf
einen Fernseher und einige Stühle leer steht. "Sagen wir mal so", bemerkt
ein Dolmetscher. "Es ist okay hier."
Rita Schnur vom "Bündnis gegen Lager" zieht einen Vergleich: 64.600
Menschen, Deutsche wie Nichtdeutsche, seien allein im ersten Halbjahr 2010
nach Berlin gezogen. "Sie alle haben eine Wohnung gefunden, aber für die im
Verhältnis lächerlich wenigen Flüchtlingen ist das nicht möglich?" Würde
der Senat die Obergrenze dessen, was er als Miete für Flüchtlinge zahlt, an
die "Marktrealitäten" anpassen, sei eine "menschenwürdige" Unterbringung in
Wohnungen auch möglich, so Schnur.
Flüchtlingsratsprecher Classen appelliert, dass der Senat Flüchtlingen auf
Wohnungssuche verbindlich die Übernahme von Mieten und Kautionen
bescheinigt. In Kreuzberg werde dies bereits erfolgreich praktiziert,
landesweit seien die Begleitschreiben aber unpräzise und wenig hilfreich
bei Gesprächen mit Vermietern. Auch Classen relativiert die aktuell
steigenden Flüchtlingszahlen. "In den Neunzigern, während des
Jugoslawienkrieges, waren in Berlin zehnmal so viele Flüchtlinge
untergebracht."
Derweil setzt der Senat bei der Herbergssuche auf die landeseigenen
Wohnungsunternehmen. Seit Wochen verhandelt Sozialsenatorin Bluhm mit den
dortigen Geschäftsführern und dem Bund Berlin Brandenburgischer
Wohnungsunternehmen (BBU) um ein geschütztes Marktsegment, ein festes
Wohnungskontingent für Flüchtlinge. Man befinde sich kurz vor Abschluss der
Gespräche, heißt es aus der Sozialverwaltung. Gleichzeitig sei aber auch
der Bund verpflichtet, mögliche Objekte in Berlin zur Verfügung zu stellen.
Als "Hängepartie auf dem Rücken der Flüchtlinge" bezeichnet die
flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen, Canan Bayram, die nicht enden
wollenden Gespräche mit den Wohnungsunternehmen. Der Senat bleibe hinter
seinen selbst gefassten Zielen weit zurück. "Stattdessen wird sich von
einer Übergangslösung zur nächsten gehangelt." Dabei würde sich die
Wohnungsvariante auch finanziell für Senat und Steuerzahler lohnen, betonen
die Grünen. Durchschnittlich 394 Euro kostet die Unterbringung eines
Flüchtlings in einem Heim in Berlin, heißt es aus der Sozialverwaltung auf
eine Anfrage. "Viele Wohnungsmieten sind da nicht viel teurer", so Bayram.
"Dafür wird den Menschen aber Privatsphäre ermöglicht und Lebensumstände,
von denen aus sie sich in unsere Gesellschaft einbringen können."
Im Gästehaus von Samir sitzt auf einem Tisch neben der Eingangstür Asan*
und lässt seine barfüßigen Beine baumeln. Seit zwei Monaten lebe er hier,
erzählt der 38-Jährige. Mit seiner Frau und den sechs Kindern. Zwei Zimmer
habe er für seine Familie bekommen. In seiner Heimat, Mazedonien, habe sein
Haus kein Wasser gehabt, habe er als Müllsammler gearbeitet. Seine Familie
sei überall diskriminiert worden. "Wir sind Roma, verstehst du?" Eine
Wohnung wäre nicht schlecht, sagt Asan, Arbeit aber besser. Hier im
Gästehaus könne er sich über nichts beschweren. "Alles ist besser als da,
wo wir herkommen." Wer hier im Haus etwas anderes behaupte, sagt Asan, der
lüge.
*Namen geändert
1 Mar 2011
## AUTOREN
Konrad Litschko
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