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# taz.de -- Philosophin Julia Kristeva in Berlin: Kultur des Fragezeichens
> Die Philosophin Julia Kristeva spürte im Rahmen der "Berliner Lektionen"
> einer europäischen Identität nach.
Bild: Die französische Philosophin, Psychoanalytikerin und Schriftstellerin Ju…
Europa ist ein Antidepressivum, erfüllt von der Liebe zum Fragezeichen. Die
französische Philosophin, Psychoanalytikerin und Linguistin Julia Kristeva
erwies sich am Sonntag in Berlin einmal mehr als sprach- und bildgewaltige
Anwältin eines Europas, dessen Stärke in der eigenen Unsicherheit liegt.
Kristeva gilt seit den 1970er Jahren als eine der wichtigsten Figuren der
intellektuellen französischen Linken. In der von ihrem Ehemann Philippe
Sollers mitgegründeten Zeitschrift Tel Quel veröffentlichte sie neben
Roland Barthes und Michel Foucault. Ihre Arbeiten zur Intertextualität und
ihre feministischen Studien bestimmen literatur- und
kulturwissenschaftliche Debatten bis heute.
Bereits in ihrem 1990 erschienenen Werk "Fremde sind wir uns selbst" spürte
Kristeva der Frage nach einer europäischen Identität nach. Der dort
vollzogene Parforceritt durch die europäische Geistes- und Kulturgeschichte
gab auch die Richtung ihres Vortrags im Renaissance-Theater vor.
Europäischem Identitätskult und übertriebenem Stolz erteilte Kristeva
gleich zu Beginn eine Absage. "Die europäische Kultur ist eine Kultur des
Fragezeichens, die durch ihre Unabschließbarkeit und Offenheit für fremde
Einflüsse gekennzeichnet ist."
Um diese These zu belegen, wurde Kristeva sowohl in der griechischen
Philosophietradition als auch im Christentum fündig. Die dialogische Form
der Erkenntnisgewinnung bei Sokrates deutet sie als offene Konfrontation
mit dem Anderen, der frühchristliche Denker und suchende Pilger Augustinus
dient ihr dabei als europäische Symbolfigur.
In ihrer eigenen Biografie sieht die 1941 in Bulgarien geborene und dank
eines Promotionsstipendiums 1966 nach Paris emigrierte Kristeva diese
Offenheit gespiegelt. Kants Idee des ewigen Friedens in der heutigen
Verfassung der EU bereits verwirklicht zu sehen, klingt aber angesichts
akuter Probleme wie dem Umgang mit Flüchtlingen aus Nordafrika dann doch
überraschend versöhnlich.
Unorthodox gerät Kristevas Analyse des Verhältnisses von Europa zu seinen
einzelnen Nationalstaaten. "Wir brauchen selbstbewusste Nationen in Europa,
die sich ihres kulturellen Erbes bewusst sind." Kritisch schätzte sie dabei
auch die Rolle der Linken ein, die den Nationalstaatsgedanken bereits
aufgegeben und ihn damit der Vereinnahmung von rechts überlassen hätten.
Die Nation verglich sie mit einem depressiven Patienten, dem
pluralistisches europäisches Bewusstsein als Antidepressivum verschrieben
werden solle. Als Basis der kulturellen Vielfalt identifizierte Kristeva
die Mehrsprachigkeit. "Für Europäer ist es nicht ungewöhnlich, drei oder
vier Sprachen zu sprechen. Europa ist ein polyfones Bollwerk gegen den
globalen Trend zur Zweisprachigkeit."
Ausgehend von den Unruhen in den Pariser Vorstädten im Oktober und November
2005 kam Kristeva gegen Ende ihres Vortrags auf Probleme des europäischen
Integrationsdenkens zu sprechen. "Den Jugendlichen, die für die Unruhen
verantwortlich waren, mangelt es an Idealmodellen. Sie sind gefangen
zwischen ihrem muslimisch geprägten Elternhaus und einem Europa, das sie
nicht annimmt." Die Wut, die sich in Brandstiftungen und Gewalt gegen
Polizisten entladen hatte, verstand Kristeva als Zeichen eines
unterdrückten Begehrens. "Die Ausschreitungen waren nicht Ausdruck einer
totalen Ablehnung abendländischer Werte. Sie zeigten im Gegenteil, dass
Europa weiterhin eine große Anziehungskraft ausübt. Wir glauben nur nicht
mehr genug an diese Werte, um sie anderen anbieten zu können."
Die psychoanalytisch gefärbte Interpretation Kristevas ist originell,
beruht aber auf einer Projektion der Philosophin, die in ihrer Konsequenz
problematisch ist. Denn ist es wirklich sicher, dass sich die
aufständischen Jugendlichen nach Anerkennung im Schoße der europäischen
Tradition sehnen? Ein derartiges Erklärungsmodell erinnert zu sehr an
Versuche von Demokratieexport. Ein Europa, dem es mit seiner Liebe zum
Fragezeichen ernst ist, müsste vielmehr endlich ernst nehmen, dass nicht
abendländische Denk- und Lebensweisen längst zu seinem Alltag gehören.
Dass dies durch eine Rückbesinnung auf abendländische Traditionen gelingen
kann, so dekonstruktiv gebrochen diese auch sein mögen, ist fraglich. Julia
Kristeva konnte, vorerst zumindest, keine andere Antwort geben.
8 Mar 2011
## AUTOREN
Julian Jochmaring
## TAGS
Spionage
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